Bedrohung, die den zivilisierten
Welten drohte. Eine Schreckensherrschaft, die keinerlei
Freiheit mehr zulassen würde. Unterwerfung und Gehorsam von
Geburt an bis zum Tod waren das unerschütterliche Dogma des
Tempelrats. Konnte sie den Aussagen des Kapitäns vertrauen? Die
Geschichten, die über ihn in Umlauf waren, sprachen eigentlich
dagegen. Der Tempel hatte intern ein diabolisches Bild von diesem
Feind gezeichnet. Mit unerbittlicher Grausamkeit sollte er
friedliebende Schiffe, Dörfer und kleine Städte überfallen, die
Bewohner niedermetzeln, um danach nur verbrannte Erde hinter
sich zu lassen. Dieser Mann, ein wahnsinniger Schlächter nach den
Aussagen des Tempels, saß nun vor ihr. Allerdings vermittelte er
ihr überhaupt nicht diesen Eindruck sondern eher das Gegenteil.
Immer mehr spürte sie eine Übereinstimmung mit ihren eigenen
Werten, was sie überraschte.
Gewiss, seine Erscheinung wirkte bedrohlich, denn das verdeckte
Auge machte einen furchterregenden Eindruck. Manchmal
vermeinte sie, ein schwaches rötliches Glimmen hinter der Augenkappe
zu sehen, dass sie erschreckte. Sie fragte sich insgeheim, was
sich hinter dieser Abdeckung wohl verbergen mochte.
»Kapitän Stern, ich will eurer Offenheit mit gleicher Aufrichtigkeit
begegnen. Ja, euer Ghurka hat recht, ich bin auf einer Suche.
Schon seit langen Jahren fahnde ich nach meiner entführten
Tochter und sie zu finden, ist mein einziger Lebenssinn geworden.
Wie ich in die Hände des Tempels gekommen bin, ist eine andere
Geschichte. Doch ich versuche, seine Macht zu nutzen, um meine
Nachforschungen durchführen zu können. Wenn ihr mir versprechen
könnt, diese Suche mit euch und eurem Schiff weiterzuführen,
dann wäre ich bereit, euch in den Besitz des Sehenden Auges
zu bringen.«
Stern war von ihren emotional vorgetragenen Worten tief berührt.
Hier sprach eine verzweifelte Frau, eine Mutter, die ihr
Kind suchte und das schon seit langen Jahren. Wie konnte er sich
als Mann erdreisten, Kritik an der Art ihrer Suche zu äußern! Jedes
Mittel würde ihr recht sein, um dieses Ziel zu erreichen, denn es
wäre einfach die Umsetzung eines Naturgesetzes.
»Im Grunde genommen, Aurelia«, und Hieronymus Stern benutzte
bereits wie selbstverständlich diese Form der vertraulichen
Anrede, »ziehen wir praktisch beide an einem Strang. Wir versuchen Dinge
zu verhindern oder zumindest zu beeinflussen, hinter
denen sich Machenschaften des Ordens offenbaren. Ihr nutzt eure
Position von innen heraus, um auch gegen die Interessen des Tempels
zu handeln, ich von außen. Sollten wir nicht überlegen, ob wir
zusammen eine größere Wirkung erzielen könnten?«
Aurelia war mehr als erstaunt, ja geradezu euphorisch, über die
Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte. Als Gegner hatten
sie sich noch vor einigen Augenblicken gegenübergestanden und
nun waren sie kurz davor, gemeinsam konspirative Pläne gegen den
Tempel zu schmieden.
»Kann ich euch vertrauen, Hieronymus? Es hat mich lange Jahre
in den Diensten des Ordens gekostet, bis ich dieses Kommando
erhalten habe. Ich würde alles aufgeben müssen und alles verlieren,
was ich bis dahin erreicht habe. Habt ihr mir mehr zu bieten? Der
Tempel wird nicht nur euch, sondern auch mich jagen. In Zukunft
noch stärker als bisher. Sie werden ihre Agenten und Meuchelmörder
auf uns beide ansetzen.«
Wieder überlegte Stern einen längeren Moment, ehe er antwortete.
»Nein, Aurelia, eine größere Sicherheit kann ich euch nicht bieten.
Doch eine größere Freiheit kann ich euch versprechen, denn
diese Angst vor einer Aufdeckung eurer heimlichen Pläne würde
von euch abfallen. Und der Sternenteufel ist ein mächtiges Schiff.
Er ist fast jedem anderen gewachsen oder überlegen. Außerdem
habe ich durchaus starke Freunde und Verbündete, nicht nur unter
den Menschen, sondern auch bei den Ghurka und, dies ist ein
Geheimnis, dass ich euch nun anvertraue, auch bei den Hütern
der Weisheit. Mit ihrer Hilfe kann es mir gelingen, dem Sehenden Auge
Informationen zu entlocken, weil sie allein über die notwendige
Zugangsmagie verfügen. Warum, glaubt ihr, bin ich so versessen
darauf, das Auge unversehrt in meinen Besitz zu bekommen?«
Aurelia konnte es nicht glauben, dieser Piratenkapitän ermöglichte
ihr vielleicht, das Schicksal und den Aufenthaltsort ihrer
Tochter ausfindig zu machen. Eine innerliche Eingebung manifestierte
sich und mit einem Mal stand Aurelias Entschluss fest.
Sie würde sich ihm anschließen, koste es was es wolle. Ihr Herz
hatte die Entscheidung getroffen und so seltsam es schien, dieser
Entschluss fühlte sich gut und richtig an.
»Ich bin euer, Hieronymus. Versprecht mir, mich bei der Suche
nach meiner Tochter mit allen Mitteln zu unterstützen. Nehmt
mich in eure Mannschaft auf, dann werden wir gemeinsam den
Kampf gegen den Tempel führen.«
»Dann soll es so sein, Aurelia. Ich bin froh, euch als Verbündete
und neues Mannschaftsmitglied an Bord zu haben. Lasst uns
gemeinsam nach eurer Tochter suchen und den Machenschaften
des Ordens Einhalt gebieten. Doch sagt noch nichts, bis wir einen
Plan haben, wie wir in den Besitz des Auges gelangen. Oder seid
ihr euch eurer Leute hier zu hundert Prozent sicher?«
Aurelia überlegte kurz und blickte zu der kleinen Gruppe ihrer
Mannschaft. »Nein, bei drei oder vier von ihnen bin ich mir
ziemlich sicher, dass sie loyal zu mir stehen. Den anderen traue ich
zu, dass sie unter Druck oder für Silberlinge Verrat begehen. Wie
wollt ihr es anstellen, Hieronymus?«
Der Kapitän des Sternenteufel winkte seinen Leibwächter herbei
und