Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


Скачать книгу

Boden. Jemand musste sie hastig ausgezogen und ihre Kleidungsstücke achtlos zur Seite geworfen haben. Es schien aber nichts zu fehlen. Eilig zog sie sich an, trat notdürftig in ihre Schuhe und lief wieder los, während sie versuchte, ihre Füße ganz hinein schlüpfen zu lassen. Sie fand eine Tür, die nach draußen zu führen schien.

      „Lass sie bitte unverschlossen sein!“, betete sie in Gedanken.

      Sie drückte den Griff nach unten und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, so als ob diese mit Sicherheit klemmen würde, nicht ohne Gewalt zu öffnen sein würde. Sie war unverschlossen und fuhr schwungvoll und von einem schrillen Quietschen begleitet so weit auf, dass sie krachend an einen Stopper schlug. Nina verlor den Halt und fiel erneut zu Boden, rappelte sich aber sogleich wieder auf, sprang nach draußen und lief, lief einfach fort von der Halle.

      „Frei, ganz schnell weg von hier!“, war ihr einziger Gedanke.

      Erst als sie einen vor der Halle liegenden, offensichtlich nicht mehr genutzten und deshalb verwahrlosten Parkplatz hinter sich gelassen und eine weitere Fabrikhalle passiert hatte, erreichte sie eine belebte Straße und hielt inne. Es musste bereits Spätnachmittag oder schon früher Abend sein, denn der Berufsverkehr hatte bereits eingesetzt.

      „Wo bin ich denn überhaupt?“, flüsterte sie, um sich die Frage nach einem schnellen Blick in die Runde sogleich selbst zu beantworten. „Ach ja, Berliner Straße, Ecke Industriestraße. Erst mal nach Hause!“

      2 – Mutter in Angst

      „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie! Ich melde mich!“

      Diese Nachricht hatte Erika Lange vorgefunden, als sie wie üblich, gleich nach ihrer Rückkehr vom Dienst, den Anrufbeantworter abgehört hatte. Die männliche Stimme hatte seltsam gedämpft geklungen, so als ob der Anrufer durch ein vor den Mund gehaltenes Tuch gesprochen hatte.

      „Ihre Tochter braucht Sie!“, hatte der Mann gesagt. Wieso, was war mit Nina? Wollte jemand sie beunruhigen, ein Schockanrufer vielleicht? Dann hatte er sein Ziel erreicht, sie war beunruhigt!

      Sie hatte die Nachricht mehrmals abgespielt, um sicher zu gehen, sich nicht verhört zu haben, um die Gewissheit zu erlangen, dass sie alles richtig verstanden hatte.

      „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann! Ihre Tochter braucht Sie!“

      Kein Zweifel! Sie hatte alles richtig verstanden gehabt und zur Uhr gesehen; es war gegen 16.30 Uhr gewesen.

      Wie lange lagen diese schrecklichen Minuten zurück? Sie sah auf ihre Armbanduhr. Mehr als eine Stunde war seitdem vergangen, deutlich mehr. Die Herfahrt durch den dichten Straßenverkehr hatte einige Zeit in Anspruch genommen.

      Sie ging in Ninas Wohnung auf und ab und wartete, wartete sehnsüchtig auf das Erscheinen ihrer Tochter. Warum hatte der Fremde sie mit seinem zweiten Anruf hierher dirigiert?

      Hektisch hatte sie nach dem Abhören des Anrufbeantworters das Mobilteil ihres Telefons zur Hand genommen und die Rufnummer ihrer Tochter gewählt. Sechs-, sieben oder achtmal musste es bei Nina geläutet haben, dann hatte sie aufgelegt, jedoch sogleich wieder neu gewählt. Sie hatte sich gezwungen, die Zifferntasten sorgfältig und mit Bedacht zu drücken, um ein Verwählen auszuschließen.

      „Geh bitte ran, Nina!“, hatte sie gefleht, vor Angst und Aufregung zitternd. Ihr Hoffen war vergebens gewesen. Nina hatte sich nicht gemeldet. Ihren Anrufbeantworter musste sie ausgeschaltet haben, denn er war nicht angesprungen.

      Sie hatte im Kindergarten angerufen, in dem Nina als Erzieherin arbeitete und dessen Telefonnummer ihr geläufig war. Unter normalen Umständen hätte sie Nina um diese Tageszeit nicht mehr erreichen können. Sie hatte es gewusst, aber auf ihr Glück gehofft, dass es heute anders sein würde. Auch dieses Hoffen aber hatte sich nicht erfüllt. Der dortige Anrufbeantworter hatte sie auf den Folgetag vertröstet.

      Mit dem Mobilteil in der Hand war sie in den Flur geeilt, wo sie ihre Handtasche auf der Garderobe liegen gewusst hatte. Hastig hatte sie diese geöffnet, den Inhalt auf das Garderobenschränkchen geschüttet und ihr Notizbuch aus dem kleinen Häuflein hervor gezogen, in welchem sie auch Ninas Handynummer notiert hatte. An Ort und Stelle hatte sie diese gewählt, jedoch ohne Erfolg.

      „Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Sie haben jedoch die Möglichkeit, nach dem folgenden Signalton eine Nachricht zu hinterlassen“, hatte sich die weibliche Stimme der automatischen Anrufbeantwortung des Mobilnetzbetreibers gemeldet.

      „Verdammt!“, hatte sie geflucht und die Verbindung unterbrochen, um jedoch sogleich erneut zu wählen und diesmal auf das Angebot der Sprecherin einzugehen.

      „Hallo Nina, ich bin´s, Mutter. Ruf mich bitte an! Bitte! Schnell! Ich warte sehr! Bis gleich!“

      „Ich muss hinfahren!“, war es ihr durch den Kopf geschossen. „Hinfahren und nachsehen!“

      Beinahe im selben Atemzug hatte sie sich ihre Jacke von der Garderobe gegriffen. Der Bügel, auf dem diese gehangen hatte, war zu Boden gefallen. Sie hatte ihn liegen gelassen und war, sich im Gehen die Jacke überwerfend, der Wohnungstür entgegen gehastet.

      „Stellen Sie bitte sicher, dass ich Sie um 17 Uhr erreichen kann!“, hatte der Anrufer gemahnt. Wenn sie nun das Haus verlassen hätte, um zur Wohnung der Tochter zu fahren, wäre sie keinesfalls um 17 Uhr zurück gewesen.

      „Aber was wird, wenn ich Nina nicht zu Hause antreffe? Was wird, wenn sich der Anrufer tatsächlich um 17 Uhr wieder meldet, mich aber nicht erreicht?“, hatte sie sich gefragt. Sie hatte nicht gehen dürfen.

      Die Polizei! Hätte sie die Polizei einschalten sollen? Aber was wäre ihr zu melden gewesen, was war vorgefallen? Ein Mann hatte auf ihren Anrufbeantworter gesprochen und sie gebeten, sie um eine bestimmte Uhrzeit telefonisch sprechen zu können, weil ihre Tochter sie brauche. Was hieß das schon! Vielleicht brauchte Nina sie tatsächlich und der Anrufer war ein freundlicher Helfer, der aus irgendeinem Grund seinen Namen nicht genannt hatte. Vielleicht hatte er beste Absichten. Aber warum hatte er seinen Namen nicht gesagt?

      Sie hatte ihre erwachsene Tochter trotz mehrerer Versuche nicht telefonisch erreichen können. Auch dies hätte die Polizei gewiss nicht als ungewöhnlich eingestuft.

      Sie hatte in der Wohnung bleiben müssen, warten müssen, warten bis 17 Uhr. Es war etwas nicht in Ordnung. Sie hatte es gewusst. Aber sie hatte warten müssen, mindestens noch eine quälend lange halbe Stunde.

      „Bei Ben, vielleicht ist sie schon bei Ben“, war ihr eine neue Idee gekommen. Warum hatte sie nicht sofort an diese nahe liegende Alternative gedacht?

      Auch Bens´ Telefonnummer stand in ihrem Notizbuch, da sie Nina schon mehrfach bei ihm angerufen hatte. Zitternd hatte sie die Nummerntasten gedrückt und die letzten Zahlen jeweils leise vor sich hin geflüstert.

      „Sieben, fünf, drei, bitte geh ran!“

      Ben hatte sich nicht gemeldet. Es war gar nichts passiert, Ben hatte keinen Anrufbeantworter. Nach oftmaligem Erklingen des Rufzeichens hatte sie den Verbindungsversuch enttäuscht abgebrochen. Hatte Nina nicht sogar erwähnt, dass Ben für ein paar Tage abwesend sein würde? Sie hatte sich zu erinnern geglaubt.

      Sie hatte ihre Jacke wieder abgestreift, diese achtlos über einen Garderobenhaken geworfen und war zurück ins Wohnzimmer geeilt. Sie hatte erneut die Festnetznummer ihrer Tochter gewählt, das Rufzeichen so oft abgewartet, bis es systembedingt vom Besetzzeichen abgelöst worden war. Dann erst hatte sie die Verbindung unterbrochen, sogleich aber die Wahlwiederholungstaste gedrückt und wieder in den Hörer gehorcht. Diesen Vorgang hatte sie wiederholt, mindestens ein halbes Dutzend Mal wiederholt. Doch sie hatte ihre Tochter nicht erreichen können.

      Irgendwann aber, kurz vor 17 Uhr, hatte sie ihre Versuche eingestellt, um die Leitung für den Unbekannten frei zu machen. Sie hatte auf dem Sofa Platz genommen, sich zur Ruhe gezwungen und das Mobilteil direkt vor sich auf den Tisch gelegt, um beim erwarteten und inzwischen sehnlichst erhofften Läuten schnell zugreifen zu können.

      Es war ihr so vorgekommen, als wäre die Zeit nur zäh und schwerfällig vorangegangen, so wie Honig