Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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dass jeder Bekannte sie eindeutig würde identifizieren können.

      Unter dem Bild war ein Button angebracht, der mit „<Weiter>“ beschriftet war. Nina zwang sich zu einem kurzen Mausklick darauf. Es öffnete sich ein neues Fenster, welches sie mit einem weiteren Mausklick auf volle Bildschirmgröße erweiterte. Der Aufbau dieser Seite war identisch mit der Eingangsseite; erneut füllte sich ein in der Mitte angebrachter Rahmen nach und nach mit einem Foto. Auch der „<Weiter>“-Button war wieder darunter zu finden. Auch dieses Bild zeigte erwartungsgemäß wieder sie, wieder unbekleidet, aber aus einer anderen, ihre Nacktheit jedoch erneut brutal herausstellenden Position. Der Fotograf hatte bei dieser Aufnahme allerdings offensichtlich ganz großes Interesse daran gehabt, dass Nina durch die klare Abbildung ihres Gesichts auch von eher flüchtig Bekannten als Person identifiziert werden konnte.

      Wie apathisch klickte sie sich durch die Reihe aller Bilder, die ihr Peiniger ins Netz gestellt hatte. Sie konnte nicht aufhören, sich mit dem Betrachten jedes neuen Fotos ein weiteres Mal zu quälen. Erika Lange stand noch immer hinter ihr, aus hilflosem Entsetzen heraus beide zur Faust geballten Hände fest vor den Mund gepresst. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, sodass sie die Darstellungen auf dem Bildschirm nur noch schemenhaft erkennen konnte.

      Nachdem Nina das letzte Foto erreicht hatte, ließ sie ihre Arme sinken und starrte sekundenlang mit leerem Blick auf den Bildschirm. Auch ihre Augen füllten sich mehr und mehr mit Tränen, bis sie sich schließlich mit einer Vierteldrehung ihres Stuhles abwandte, ihren Oberkörper nach vorn beugte, während dessen zugleich ihre Ellbogen auf die Knie stützte und ihr Gesicht dann in ihren Handflächen verbarg. Ihr anfängliches Schluchzen steigerte sich in einen heftigen Weinkrampf, der ihren Körper erbeben ließ.

      6 –Mut und Entschlossenheit gegen Scham und Angst

      Nina war wieder allein in ihrer Wohnung. Ihre Mutter hatte sich auf den Heimweg machen müssen. Widerwillig war sie gegangen, von Unbehagen und Sorgen begleitet und nur ein wenig davon beruhigt, dass Nina ihre Weinkrämpfe überwunden hatte. Sie hatte ihre Tochter in deren Schockzustand nicht allein zurück lassen wollen, aber es war nicht anders gegangen. Der Fremde hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Er hatte seinen abendlichen Anruf bei ihr zu Hause angekündigt und ihre Anwesenheit gefordert. Dem hatte sie sich beugen müssen.

      „Bitte sorg dafür, dass jemand bei dir ist, bis Benjamin kommt, ruf jemanden an, lad dir Besuch ein!“, hatte sie besorgt gefordert, aber Nina hatte abgelehnt.

      „Ich möchte jetzt lieber allein sein“, hatte sie gesagt und der Mutter ins Gedächtnis zurück gerufen, dass Benjamin noch bis zum übernächsten Wochenende im Ausland sein würde, im australischen Melbourne.

      Sie hatte ausgiebig geduscht, als ihre Mutter gegangen war, und ihre Kleidung vollständig gewechselt. Anschließend hatte sie sich gleich etwas besser gefühlt. Jetzt aber fühlte sie sich einsam und allein, so schrecklich einsam und allein. Zugleich aber war sie froh, allein zu sein, kein Mitleid und keine Fragen ertragen zu müssen, ungestört ihren eigenen Gedanken nachhängen zu können. Es hätte schlimmer kommen können, sie hätte viel größeren Schaden davon tragen können!

      Was hätte schlimmer kommen können? Es war schlimm, was ihr widerfahren war und was sie jetzt fortwährend ertragen musste! Es gab keinen Vergleich, keine Abstufung im schlimmen Leid! Es hätte anders kommen können, ja, anders, aber nicht schlimmer als es jetzt war, nur anders schlimm!

      Ihr Auto stand noch immer in der Tiefgarage unter dem Theaterplatz. Sie hatte es stehen lassen, sie hatte es schlicht vergessen auf der Flucht aus der Halle und von der Halle weg. Sie musste es holen!

      „Jetzt nicht!“, sagte sie sich. „Es läuft mir nicht weg! Jetzt nicht wieder dort hin, nie wieder dort hin! Nie wieder dort auflauern lassen!“

      Unfähig zu ruhen ging Sie fortwährend grübelnd in ihrer Wohnung auf und ab.

      „Eigentlich geht es mir gut“, sagte sie sich. „Ich müsste zufrieden sein. Ich bin gesund!“

      Was sollte sie tun?

      „Ich bin nicht gesund!“, widersprach sie sich. „Ich bin krank, ich bin verletzt, ich bin gedemütigt worden, man hat mich vergewaltigt, auf miese hinterhältige Art vergewaltigt, auch wenn man mich nicht körperlich missbraucht hat!“

      Sollte sie stillhalten und warten, bis der Fremde seine noch unklaren Ziele erreicht haben und die Bilder selbst wieder entfernen würde?

      „Blödsinn, vergewaltigt, ich bin doch nicht vergewaltigt worden!“, hielt sie sich erneut selbst die Gegenrede. „Was erzähle ich? Ich mache es nur schlimmer! Ich bin nicht vergewaltigt worden! Ich muss diese Gedanken lassen, ich quäle mich nur selbst, ich spiele ihm in die Hände! Ich bin nicht vergewaltigt worden!“

      Wenn sie stillhalten und warten würde, dann lief sie Gefahr, dass die Fotos Verbreitung finden würden, und zudem gab es nicht die geringste Gewähr dafür, dass der Fremde die Bilder irgendwann freiwillig vollständig und ohne verbleibende Kopien beseitigen würde.

      „So, ich bin nicht vergewaltigt worden?“, gingen ihre hysterischen Gedanken auf sie selbst los. „Was ist denn jetzt, gerade jetzt? Ich werde jetzt, gerade jetzt, ich werde immerfort vergewaltigt! Das Schwein vergewaltigt mich im Internet, jetzt, eben und auch gleich noch!“

      Es war seltsam! Ihre Gedanken wurden hektischer und hektischer, zerstörerischer und zerstörerischer, aber sie halfen! Nina wurde körperlich ruhiger, sie verarbeitete die Situation, sie erarbeitete sich das Feindbild, auf das sie all ihren Hass, all ihre schlechten Wünsche und all ihre Tatkraft richten konnte. Jawohl, sie hatte kein Recht, sich ergeben der Situation auszuliefern, die der Fremde durch seine Tat verursacht hatte und auch jetzt, gerade jetzt noch aufrecht erhielt. Sie hatte das Recht, nein, sie hatte die Pflicht, sich selbst zu schützen und alles daran zu setzen, dass ihr Peiniger am Ende der Verlierer sein würde!

      „Die Eier schneide ich ihm ab!“

      Sie fühlte eine unbändige, eine gehässige Vorfreude.

      „Ja, du Schwein, die Eier schneide ich dir ab, wenn ich dich zu fassen kriege!“, grinste sie.

      Aber konnte sie bis dahin mit einem überstürzten, planlosen, unkontrollierten Handeln vielleicht sogar ihre Mutter gefährden?

      „Okay, vorerst kannst du sie noch behalten!“, kostete sie das Überwinden ihres Gefühls der eigenen Ohnmacht aus.

      Ihr wiedergewonnener Hauch von Optimismus, ihr Arrangement mit der instabilen Wahrheit und ihre Kampfansage an ein Sich-Fügen erlaubten ihr plötzlich eine nüchterne Betrachtung der Situation.

      Wenn der Fremde Fotos von ihr benutzte, um auf ihre Mutter Einfluss zu nehmen, dann hatte er sicherlich nichts Besseres, auf jeden Fall nichts Zwingenderes als Druckmittel in der Hand. Aber vielleicht war es auch das Schlimmste, was ein Erpresser in der Hand haben konnte, das Wohl, die Integrität des eigenen Kindes.

      Keinesfalls konnte sie die Polizei einschalten. Einerseits würde sie sonst immer Gefahr laufen, dass der Erpresser dies erfahren und unkontrolliert reagieren würde, andererseits würde die Arbeit der Polizei unabänderlich dazu führen, dass ihr das demütigende Fotomaterial in die Hände fallen würde.

      Ebenso ausgeschlossen war es für sie, ihren Freund Benjamin einzuweihen. Er würde ihr technisch kaum helfen können, da seine Fähigkeiten am Computer nicht größer als ihre eigenen waren. Und zudem hätte sie viel zu große Angst vor den Folgen für ihn und für die gemeinsame Beziehung haben müssen, denn die Kenntnis von der Existenz der Fotos und das Wissen darüber, dass sie in fremden Händen lagen, würden Benjamin furchtbar schwer treffen. Nina konnte nicht einschätzen, wie er reagieren würde.

      „Außerdem kommt er erst am übernächsten Wochenende aus Melbourne zurück“, griff sie auf die geborene Rechtfertigung dafür zurück, den Lebensgefährten in dieser intimen Angelegenheit unwissend zu lassen.

      Wenn sie jedoch keine Unterstützung suchte, ganz auf sich allein gestellt blieb, waren ihre Chancen auf eine Änderung der Situation momentan gleich null. Gab es überhaupt einen Ausweg?

      Unvermittelt kam ihr ein Gedanke, der sowohl ein Quäntchen Hoffnung als auch zugleich eine