Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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etwas zu erwidern.

      „Ab sofort nehmen Sie darüber hinaus gefälligst Abstand davon, diese Angelegenheit stückchenweise telefonisch mit mir erörtern zu wollen! Ich habe nicht das geringste Interesse daran, über jeden einzelnen Ihrer Schritte informiert zu werden. Wenn es wirklich etwas zu berichten gibt, dann rufen Sie mich an, und sonst lassen Sie die Finger vom Telefon! Und noch etwas: Wenn es ein nächstes Mal geben sollte, dann erwarte ich Ihren Anruf von einem öffentlichen Fernsprecher aus, nicht aus Ihrem Büro! Andernfalls erwarte ich nur noch Ihre Vollzugsmeldung, von Ihnen persönlich und ebenfalls von einem öffentlichen Fernsprecher aus! Und vergessen Sie nicht: Sie sitzen dick und fett mit im Boot! Sie haben so viel Dreck am Stecken, dass Sie, sofern alles auffliegen sollte, alt und grau sein werden, wenn Sie aus der Haft kommen! Und das wollen wir doch beide nicht, oder? Guten Tag!“

      Mit vor Erregung gerötetem Gesicht trennte er die Verbindung. Er sah in die Ferne, hatte aber jetzt unter dem Eindruck des Telefonats kein Auge für die Schönheit des Ausblicks, der sich von dieser Stelle seines erhöht liegenden Anwesens aus bot.

      In der Abendsonne erschien der Atlantik blau und türkis gefleckt. Mehrere Motorboote, deren Motorengeräusche jedoch wegen der Entfernung nicht bis hierher dringen konnten, durchzogen das Wasser und hinterließen lange Streifen, die beinahe an Kondensstreifen von Flugzeugen erinnerten.

      5 – Im Bann des Augenblicks I

      Mutter und Tochter fuhren zusammen, als endlich nach unerträglichem Warten das Telefon läutete. Nina Lange reagierte blitzschnell und hastete zum Wohnzimmertisch, auf dem sie das Mobilteil abgelegt hatte.

      Ohne zu zögern nahm sie es zur Hand, sammelte ihren Mut und drückte den Empfangsknopf.

      „Lange?“

      Ihre Art, den Namen in das Telefon zu sprechen, erinnerte mehr an eine Frage als an eine Meldung am Telefon.

      „Ja, Nina Lange“, bestätigte sie auf eine Nachfrage des Anrufers. „Wer sind Sie denn bitte?“

      Erika Lange war inzwischen neben ihre Tochter getreten und versuchte, etwas von dem zu erhorchen, was der Anrufer übermittelte. Bruchstückhaft meinte sie zu vernehmen, dass der Anrufer soeben geltend machte, dass seine Identität nichts zur Sache täte und er sie, Erika Lange, sprechen wollte.

      „Ja, meine Mutter ist auch hier, ich gebe Sie Ihnen, zuvor aber verlange ich eine Auskunft! Sie haben etwas damit zu tun, was mir heute widerfahren ist! Sagen Sie mir: Hat sich jemand in irgendeiner Weise an mir vergangen, als ich bewusstlos und nackt war?"

      Sie spürte ihr Herz bis zum Hals hinauf schlagen.

      „Nein!“, antwortete der Unbekannte mit Nachdruck und bestätigte damit zugleich, dass Ninas Annahme seiner Beteiligung zutraf.

      „Ihnen ist körperlich nichts geschehen. Und jetzt geben Sie mir endlich Ihre Mutter!"

      Die Stimme des Anrufers klang verstellt und merkwürdig gedämpft. Es war nur zu deutlich, dass er Vorkehrungen getroffen hatte, um deren wahres Klangbild nicht offenbar werden zu lassen.

      Nina war zu angespannt, als dass sie sich nach der Auskunft des Fremden schon jetzt zumindest etwas erleichtert fühlen konnte. Mit beiden Händen hielt sie ihrer Mutter das Mobilteil hin, und diese nahm es hastig an sich.

      „Erika Lange“, meldete sie sich, und diesmal war ihrer besonnen klingenden Stimme zu entnehmen, dass sie auch schwierige Gespräche in Stresssituationen gekonnt zu führen gewohnt war. Sie erkannte den Anrufer als jenen wieder, der ihr bereits in ihrer eigenen Wohnung Angst und Schrecken eingejagt hatte.

      „Nun sagen Sie doch jetzt schon, was Sie wollen!“, forderte sie. Der Anrufer schien sie erneut auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten zu wollen. Dann aber musste sie wohl doch auf ein Begehren des Anrufers eingehen.

      „Na gut, ich muss mich wohl fügen“, rückte sie kurz darauf von ihrem Verlangen ab, ohne dass dies resignierend klang. Demnach sah sie keine andere Wahl für sich, als einzuwilligen.

      „Augenblick bitte“, bat sie kurz darauf, und wendete sich ihrer Tochter zu.

      „Schnell, einen Zettel und einen Stift bitte!“

      Nina eilte zum Schreibtisch und kehrte sofort mit den geforderten Utensilien zurück.

      „Ich höre.“

      Der Anrufer gab der Mutter eine Internetadresse durch, welche diese Buchstabe für Buchstabe notierte und anschließend sicherheitshalber wiederholte, damit eventuelle Fehler ausgeräumt werden konnten.

      „Sie benötigen noch ein Passwort. Es heißt tabulos, alles klein geschrieben. Haben Sie alles, auch das Passwort?“

      „Ja, ich habe alles“, bestätigte Erika Lange, um aus einem für Nina nicht ersichtlichen Grund noch eine Nachfrage zu halten.

      „Um welche Zeit wird dies etwa sein?“

      Kurz darauf nahm sie das Telefon vom Ohr, ohne dass einer Reaktion von ihr zu entnehmen gewesen wäre, ob der Anrufer ihr eine befriedigende Antwort gegeben hatte. Sie hielt das Mobilteil flach vor sich in der Hand und drückte den Knopf zum Trennen der Verbindung.

      „Er hat aufgelegt“, stellte sie fest.

      „Was hat er von dir gewollt? Warum hat er dir die Internetadresse durchgegeben und was hatte es mit deiner Nachfrage zur Uhrzeit auf sich?“

      „Er wollte mir nicht sagen, was er von mir will. Er hat verlangt, dass ich heute Abend zu Hause bleiben soll, damit er mich dort wieder telefonisch erreichen kann. Er hat verlangt, dass ich allein sein soll.“

      „Was soll das denn? Warum dirigiert er dich erst hierher, wenn er dann doch nicht sagt, was er will? Es kommt doch gar nicht in Frage, dass du allein bist, wenn er anruft oder sogar kommt.“

      „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf seine Forderung einzugehen. Es ist doch klar, dass ich allein sein soll, wenn er mit der Sprache herausrückt, damit niemand sonst erfährt, um was es geht, auch du nicht. Er will wieder anrufen, und in die Wohnung würde ich ohnehin niemanden lassen. Da musst du keine Angst haben, Nina!“

      „Und was hat es mit der Internetadresse auf sich?“

      „Er hat gesagt, dass die Seite, die sich hinter dieser Adresse verbirgt, mich bei der Entscheidung unterstützen wird, auf seine Forderung einzugehen und uns beide veranlassen wird, die Polizei aus dem Spiel zu lassen.“

      Nina nahm den Zettel mit der Internetadresse an sich und ging, von ihrer Mutter gefolgt, nachdenklich zum Computer hinüber und schaltete die Anlage ein. Während das System hochfuhr, zog sie sich den Schreibtischstuhl heran und nahm Platz. Sie startete den Browser und stellte die Netzverbindung her, woraufhin ihre übliche Startseite erschien. Ihre Mutter stand hinter ihr und sah über ihre Schulter hinweg auf den Bildschirm.

      Sorgfältig, um einen Eingabefehler zu vermeiden, tippte sie die auf dem Notizzettel stehende Adresse in das Eingabefenster des Browsers und bestätigte diese dann. Für die Dauer von drei oder vier Sekunden zeigte das Programm nur seine Suche an, und dann, nach deren erfolgreichem Abschluss, den Status des Ladevorgangs. Kurz darauf erschien eine Seite, die lediglich eine Passwortabfrage auf einem weißen Hintergrund zeigte. Nina tippte das auf „tabulos“ lautende Passwort ein und klickte auf eine in die Passwortabfrage eingearbeitete Schaltfläche mit der Bezeichnung „<Bestätigung>“. Wenige Sekunden lang veränderte sich der Bildschirm nicht. Plötzlich aber verschwand die Passwortabfrage und es erschien ein dunkelblauer Hintergrund, in dessen Mitte ein Rahmen erzeugt wurde, der sich nach und nach von oben nach unten mit einem Bild füllte. Nach wenigen Augenblicken war es vollständig, allerdings noch unscharf. Dennoch war bereits jetzt die Brisanz des Fotos zweifelsfrei zu erkennen. Einen Atemzug später erbarmte sich keine Unschärfe mehr, den Augen der Betrachterinnen Eindeutigkeit zu verwehren. Unzweifelhaft zeigte das Bild Nina, gänzlich unbekleidet und mit angewinkelten Knien auf dem Rücken liegend.

      Mutter und Tochter waren geschockt. Nina verlor in diesem größten Entsetzen, das sie jemals verspürt hatte, beinahe das Bewusstsein, einem Entsetzen, das von einer tiefen und demütigenden Scham beherrscht wurde.

      Der Fotograf hatte das Foto offensichtlich zwischen ihren gespreizten