Uwe Bekemann

Im Bann des Augenblicks


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ihre Arbeit nun und sah kurz auf.

      „Wofür bitte eine Erklärung, Herr Dr. von Braunefeld?“, fragte sie ihren Chef. Inzwischen hatte sie sich vollständig von ihrer Weinattacke noch Minuten zuvor erholt und wirkte sicher und gefasst.

      „Also, für den Umschlag mit Submissionsunterlagen der Firma Dobau im Schreibtisch der Frau Lange natürlich!“ Dr. von Braunefeld streckte ihr demonstrativ mit beiden Händen den Umschlag entgegen. Er konnte seine Ungeduld kaum verbergen.

      „Ach, den Umschlag meinen Sie! Gut, dass Sie ihn gefunden haben. Ich hätte ihn wahrscheinlich vergessen. Ein Vertreter der Firma Dobau hat ihn, warten sie gerade bitte!“

      Sie unterbrach sich und sah mit leicht gekräuselter Stirn auf den Kalender, der zu ihrer Linken an einer Schnur an der Wand hing, um dann ihren abgebrochenen Satz fortzusetzen.

      „Am Dienstag, nachmittags, vorgestern also, hier bei Frau Lange abgegeben. Sie wollte ihn sogleich persönlich zur Submissionsstelle bringen, hat dort vorher aber anrufen wollen und niemand mehr erreicht. Sie hat den Umschlag deshalb in ihrem Schreibtisch eingeschlossen, um ihn gleich am Mittwoch, gestern also, zur Submissionsstelle zu bringen.“

      Dr. von Braunefeld hatte merklich große Mühe, seine Fassung zu bewahren. Wortlos schaute er seiner Mitarbeiterin sekundenlang ins Gesicht. Frau Hemmersbach hielt seinem Blick nur kurz stand, sah dann auf den Boden und errötete. Die augenblickliche Stille wurde von Herrn Brauer unterbrochen, der Frau Hemmersbach dadurch erlöste.

      „Ist es vorstellbar, dass der Firma Dobau durch die Unterdrückung ihres Angebotes vorsätzlich ein Nachteil zugefügt werden sollte?“, richtete er seine Frage an Dr. von Braunefeld.

      „Wenn es denn ein Nachteil ist, meine Herren“, gab der vorsichtig und doch zugleich auch vielsagend zurück. „Kommen Sie doch bitte noch einmal mit mir in mein Büro!“

      Den Umschlag weiter in der linken Hand haltend geleitete er seine Gäste mit einer einladenden Geste seines rechten Arms in sein Arbeitszimmer. Nachdem zuletzt auch er eingetreten war, drückte er die Tür zum Vorzimmer ins Schloss und bat die Polizisten, noch einmal Platz zu nehmen.

      „Einen Augenblick bitte!“, meinte er dann. „Ich führe ein kurzes Telefonat, dann sehen wir weiter.“

      Während die Polizisten der Einladung folgten und ihre Plätze von vorhin einnahmen, setzte sich Dr. von Braunefeld auf den Drehsessel hinter seinem Schreibtisch, wählte eine offensichtlich auf eine Kurzwahltaste gespeicherte Telefonnummer, führte dann den Hörer zum Ohr und lehnte sich im Sessel zurück.

      „Ja, Dr. von Braunefeld,“ meldete er sich kurz darauf, als sein Gesprächspartner abgehoben hatte.

      „Herr Sendscheidt, gestern war doch die Eröffnungsverhandlung für unser Stadthallenprojekt. Sie müssen bitte gerade schnell für mich nachsehen, wer alles der Verhandlung beigewohnt hat.“

      Offenbar konnte der angesprochene Herr Sendscheidt die erbetene Auskunft ohne Nachlesen geben, denn Dr. von Braunefeld fuhr unvermittelt fort: „Das ist ja ganz hervorragend! Dann mal los!“

      Mehrfach quittierte er die Auskünfte des Gegenüber mit einem langgezogenen Ja, wobei er die Stimme jeweils zum Wortende hin hob.

      „Wer war der Vertreter der Dobau?“, fragte er dann.

      Den ihm übermittelten Namen notierte er auf einem hastig gegriffenen Zettel, wobei er den Hörer zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt hielt. Sodann nahm er ihn wieder zur Hand, bedankte sich und wollte sich verabschieden, als sein Gesprächspartner offensichtlich eine weitere Information übermittelte.

      „Das ist ja hochinteressant!“, hörten die beiden Polizisten Dr. von Braunefeld ausrufen, und warteten in der Folge noch gespannter auf die Auflösung, die Dr. von Braunefeld ihnen in Kürze geben würde.

      „Besten Dank, und behandeln Sie unser Gespräch uneingeschränkt vertraulich!“

      Dr. von Braunefeld legte den Hörer auf die Gabel zurück, erhob sich aus seinem Drehsessel und ging auffällig gemächlich zum Besprechungstisch hinüber, an welchem die Polizisten auf ihn warteten, und setzte sich zu ihnen.

      „Hier stinkt etwas zum Himmel!“, steigerte er die Erwartung seiner Gäste noch weiter, um dann fortzusetzen: „Der Geschäftsführer der Dobau, Zimmermann heißt er, war bei der Eröffnungsverhandlung anwesend. Anders als bei Vergaben allgemeiner Lieferungen und Leistungen ist die Anwesenheit der Bieter bei der Eröffnung der Angebote zugelassen, wenn Bauleistungen nach einer Ausschreibung vergeben werden sollen.“

      „Und dies bedeutet?“, fragte Brauer nach.

      „Dies bedeutet, dass die Bieter im Zuge der Eröffnung der Angebote bestimmte Informationen auch über die Inhalte der Konkurrenzangebote erhalten, und zwar zumindest die Höhe der ungeprüften Angebotssummen.“

      „Ich verstehe“, warf Brauer ein, „dann hätte dem Geschäftsführer der Dobau auffallen müssen, dass das Angebot seiner Firma fehlte.“

      „Ist es auch,“ entgegnete Dr. von Braunefeld. „Er hat auf das Fehlen aufmerksam gemacht und einen entsprechenden Eintrag in der Niederschrift erwirkt.“

      „Er konnte also darauf vertrauen, dass alle Anstrengungen unternommen werden, um das fehlende Angebot ausfindig zu machen“, schloss Brauer, um dann fortzufahren: „Aber mir ist nicht klar, wo ich nun einen Ansatzpunkt für verwerfliches Handeln entdecken soll. Sie scheinen einen bestimmten schlimmen Verdacht zu hegen, Dr. von Braunefeld. Worauf wollen Sie hinaus?“

      Der Angesprochene presste für einen Moment die Lippen aufeinander, um sie dann, ebenfalls nur für einen Augenblick, an einen Kussmund erinnernd zu formen. Es war offensichtlich, dass er innerlich mit sich rang.

      „Gut“, meinte er dann, „oder nicht gut! Manchmal muss man aber auch betont bösgläubig sein, wenn man alle denkbaren Erklärungsalternativen erkennen möchte. Ebenso möglich ist es, dass es zum Zeitpunkt der Eröffnungsverhandlung noch gar kein Angebot der Firma Dobau gab. Da der Geschäftsführer von den ungeprüften Endsummen der Konkurrenten im Rahmen der Eröffnungsverhandlung Kenntnis erhielt, konnte er seelenruhig im Anschluss daran sein auf die Konkurrenzangebote abgestimmtes eigenes Angebot schreiben und so bester Hoffnung sein, als günstigster Bieter den Zuschlag zu erhalten.“

      Brauer, der den Erklärungsversuch Dr. von Braunefelds nun erst tatsächlich verstanden hatte, nutzte eine Atempause des städtischen Beigeordneten, um dessen Ausführungen fortzusetzen.

      „Voraussetzung war, dass er einen Komplizen oder eine Komplizin in der Verwaltung hatte, der oder die dafür sorgte, dass ein entsprechender Eingangsstempel den rechtzeitigen Eingang des Angebotes bestätigte und ein Vertreter der Firma zur Wahrung des Scheins bei der Eröffnungsverhandlung auf das Fehlen seines Angebotes aufmerksam machte.“

      „Exakt!“, bestätigte Dr. von Braunefeld anerkennend. „Und dann wäre, ich mag es kaum glauben, unsere Frau Lange eventuell eine direkte Beteiligte am bösen Tun gewesen.“

       „Ja, vielleicht“, bestätigte Brauer. „Es stellt sich dann die Frage, wie sich aus einer solchen Konstellation ein Mordmotiv ergeben kann, das uns dann vielleicht zum Mörder führt.“

      „Zunächst aber muss ein wichtiges Indiz für das Zutreffen unseres Erklärungsversuches festgestellt werden. Wenn nämlich das Angebot der Dobau nicht das Günstigste ist, greift der Erklärungsansatz nicht mehr, es sei denn, dass die Prüfung und Wertung der anderen Angebote zu einer Korrektur in Form einer deutlichen Reduzierung der ursprünglich in der Eröffnungsverhandlung bekannt gegebenen Gesamtsummen führt.“

      „Wir müssen die Inhalte des Angebotes erfahren“, stellte Brauer fest.

      „Meine Herren,“ sprach Dr. von Braunefeld seine Gäste förmlich an, „ich werde persönlich dafür sorgen, dass dieses Angebot schnellstmöglich im vorgesehenen Verfahren eröffnet wird. Ich werde es wie meinen Augapfel hüten, damit es Ihnen als Beweismittel zur Verfügung steht, wenn es denn als solches von Ihnen benötigt werden sollte. Auf jeden Fall werde ich Sie schnellstmöglich über die Angebotsinhalte in Kenntnis setzen."

      „Eine Sache noch!“, warf Thiel ein. „Entweder ist unser erster Verdacht schon von vornherein völlig