Ursula Tintelnot

Floria Tochter der Diva


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      »Das empfiehlt sich aber beim Autofahren.«

      »Ich finde den Schalter für die Wischer nicht.«

      »Du meine Güte! Sie fahren blind mit einem Auto, das Sie nicht einmal kennen?« Er stand plötzlich auf der Fahrerseite neben ihr.

      »Wo müssen Sie hin?«

      »Zur Deichstraße, hier ganz in der Nähe.«

      »Kenne ich, rücken Sie mal.«

      Als er ihr Zögern wahrnahm, sagte er: »Ein Auto besitze ich selbst und an Frauen bin ich nicht interessiert.«

      Floria hievte sich auf den Beifahrersitz.

      Die Kapuze noch immer tief ins Gesicht gezogen, stieg er ein. Er startete und fand auf Anhieb den Hebel für den Scheibenwischer.

      Wenn dieser Mann ein Straßenräuber wäre, dann wenigsten einer mit einer angenehmen Stimme.

      Floria lehnte sich nach vorne. Aber außer einem Kinn mit Dreitagebart konnte sie von ihrem Chauffeur nichts erkennen.

      »Wo genau?«

      Sehr gesprächig war er nicht.

      »Deichstraße 17.« Sie passte sich seiner kargen Sprache an.

      »Zu Emma?«

      »Kennen Sie Emma?«

      »Ja.«

      Konnte er nicht einmal mit einem ganzen Satz antworten?

      »Wir sind Nachbarn.«

      Floria gab auf.

      Er fuhr den Jeep in einer eleganten Kurve in den Hof ihrer Großmutter hinein, sprang aus dem Auto und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich zu verabschieden. Floria hörte noch ein »Gruß an Emma«.

      Was für ein Rüpel, aber dieser Rüpel hatte ihr geholfen. »Danke«, rief sie hinter ihm her und kam sich ziemlich lächerlich vor, als er nichts erwiderte.

      Emma

      Emmas Haus, ein zweistöckiges Gebäude, lag direkt am Kanal. Nur die weißgestrichenen Balken der Front schimmerten, die dunkelroten Ziegelsteine versanken in der Nacht. Charmant und ein bisschen heruntergekommen lag das Haus, in dem sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte, vor ihr. Die Tür öffnete sich. Im Schein der Außenbeleuchtung stand ihre Großmutter.

      Sie war kleiner, als sie die alte Dame in Erinnerung hatte.

      »Emma!« Floria stürzte auf sie zu.

      »Vorsicht, Kind, du wirfst mich ja um.«

      Sie hielt ihre Großmutter im Arm. Wie alt sie geworden ist, dachte sie mit Schrecken.

      Im Haus roch es nach Lavendel. Sein Duft hatte ihre Kindheit begleitet. Die Schränke, Schubladen, das ganze Haus war erfüllt von

      seinem überwältigenden Wohlgeruch. Getrocknet hing er an den Deckenbalken der Zimmer, lag, eingenäht in kleine Säckchen, zwischen Stapeln von Tisch und Bettwäsche.

      Gegen Ungeziefer, hatte Emma ihr erklärt. Aber Emma hatte ihres Wissens noch nie etwas gegen Ungeziefer unternommen. Sorgsam pflückte sie Spinnen aus den Ecken, wenn sie überhand nahmen. Meist allerdings ließ sie Netze und Spinnen hängen, gegen Mücken, wie sie sagte. Kakerlaken im Keller überließ sie den Mäusen. Nur mit den Nacktschnecken kannte sie kein Erbarmen. Sie ertränkte sie in Dosen voller Bier oder zerschnitt sie schonungslos, wenn sie eine Gartenschere zur Hand hatte. Und ohne Gartenschere war Emma eigentlich nur im Bett anzutreffen.

      »Ach, Emma …« Jetzt begann Floria doch zu weinen.

      Sie hatte nicht geweint in Rom, wohin sie sich nach der niederschmetternden Diagnose geflüchtet hatte. Von ihrer Mutter, Diane, bekam sie keinen Trost.

      »Damit muss man rechnen, wenn man sich übernimmt. Ich sage meinen Schülern immer …« Diane war eine berühmte Sängerin gewesen. Eine Diva. Schon bevor sie für die Sopranrollen der Oper zu alt geworden war, hatte sie begonnen junge Sängerinnen und Sänger auszubilden.

      Floria kannte auswendig, was ihre Mutter predigte: »Achte auf deine Stimme, übernimm nicht zu früh Rollen, die dich überfordern.«

      Ja, sie hatte recht, aber trösten konnte Diane sie nicht. Das hatte sie nie gekonnt. Ihre Mutter hatte sie in die Welt gesetzt und nichts mit einer Tochter anfangen können, die ihr zu ähnlich war.

      Liebevoll nahm Emma ihre Enkeltochter am Arm. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihr den Schal abzunehmen. Floria zog ihre Jacke aus und betrat die Küche. Erleichtert ließ sie sich auf das Sofa fallen. Es war Floria nie merkwürdig vorgekommen, dass in Emmas Küche ein Sofa stand. Hier hatte sie ihrer Großmutter von ihren Kümmernissen erzählt, sich verarzten lassen, wenn sie sich verletzt hatte. Hier hatte sie mit Emma gespielt und gemalt. Und gesungen! Sie musste lachen, als sie an Emmas Bemühungen dachte, ihr Kinderlieder beizubringen.

      Emma konnte keinen Ton halten, nicht einmal Hänschen klein konnte sie singen.

      »Was ist?« Emma brachte eine Kanne an den Tisch und goss Floria eine Tasse Tee ein.

      Sie dachte ‚Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt’. Dieser Vers aus Goethes ‚Egmont’, passte auch auf ihre Enkeltochter. So war Flo immer gewesen.

      »Ich musste daran denken, wie du mir Kinderlieder vorgesungen hast, Emma. Erinnerst du dich?«

      »Natürlich. Ich erinnere mich aber vor allem daran, dass meine despektierliche Enkelin sich vor Lachen gekugelt hat, weil ich keinen Ton halten konnte.«

      Sie stellte eine Schale mit Keksen neben Florias Tasse und ließ sich neben ihr nieder.

      »Du hast gebacken.«

      Emma backte immer um diese Zeit schon die ersten Weihnachtskekse. Es überfiel sie wie ein Rausch. Es juckte sie in den Fingern endlich wieder Tannenbäume, Monde und Sterne auszustechen. Floria hatte ihr dabei geholfen, allerdings mehr von dem köstlichen Teig genascht als verarbeitet. Zum ersten Mal seit Jahren aß sie die Kekse wieder zu Hause. Emma hatte ihr das Gebäck dorthin geschickt, wo sie an den Festtagen auftrat. Egal, wo sie sich aufhielt, Mailand, New York oder Dresden.

      »Magst du reden, Flo?«

      »Nein, Emma, ich habe genug mit meiner Mutter geredet. Lass mich erst mal bei dir ankommen.«

      »Wie du willst, meine Kleine. Aber vielleicht erzählst du mir, wer bei dir im Auto saß?«

      »Woher weißt du?«

      »Mein Gehör ist noch ganz gut, ich habe zwei Türen gehört.«

      »Ich hatte eine merkwürdige Begegnung.«

      Floria erzählte ihrer Großmutter von dem unrasierten Unbekannten mit der schönen Stimme.

      »Er kannte dich, ich soll dich grüßen. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?«

      »Hier kennt jeder jeden Flo, das weißt du doch.« Sie schenkte noch einmal Tee nach.

      »Wie du ihn geschildert hast, könnte es Julian gewesen sein, wortkarg ist er manchmal. Aber hier im Norden redet niemand mehr, als er muss. Wenn einer zweimal ‘Moin’ sagt, gilt er als geschwätzig.«

      Sie nahm Florias Hand. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich bin glücklich, wenn du hier bist.«

      »Ich hab dich lieb, Emma.«

      »Ich weiß.«

      Als Floria in ihrem Bett lag, wie früher unter rotweiß karierten Bezügen, dachte sie an die elegante Kühle, mit der sich ihre Mutter umgab.

      Oft hatte sie sich gefragt, wie ihre Mutter es schaffte, die Menschen zu berühren. Auf der Bühne wurde sie eine Andere. Eine Sängerin, die mit ihrer silbernen Stimme Gefühle auszudrücken und auszulösen vermochte