Carina Obster

Die Nacht gehört den Liebenden


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du schlecht geschlafen, meinte Aida und sah mich aufmerksam an.«

      »Ich hab so gut wie gar nicht geschlafen.«

      »Woran liegt’s?«

      Ich war versucht, ihr meine Gefühlen preiszugeben, ihr meine Wunde an der Seite, die nun leicht zu brennen angefangen hatte, zu zeigen. Ihr Blick hielt mich fest, rüttelte und zog an den Türen zu meinem Inneren, doch da traten Mirko und Lukas in die Garage und ihr Blick ließ mich fallen. Die Türen klappten zu.

      »Und, Benji, neue Texte von dir?«, fragte Lukas.

      »Klar, da liegt ein ganzer Stapel in meiner Schublade zuhause.«

      »Fine. Aber lasst uns erst mal ein paar alte Songs spielen, damit wieder Öl ins Getriebe kommt, ja?«

      Wir entschieden uns für ein altes Cover, Leave Before the Lights Come On von den Arctic Monkeys. Das war früher der Song, mit dem wir uns am Ende der Gigs von der Bühne verabschiedeten. Ich hielt ihn für den stärksten Song der Monkeys, schwermütiger als vieles, was man sonst von ihnen hören konnte. Ich mochte auch das Video dazu, in dem eine Frau ihren Selbstmord ankündigt, um Männer auf sich aufmerksam zu machen. Sie wirft im passenden Moment ihren Schuh von einem Gebäude, und der Mann auf der Straße rennt die Stockwerke zu ihr hoch, um sie vor dem Sprung zu bewahren.

      Als wir den Song anspielten, durchfuhr mich plötzlich die Erkenntnis, wie sehr er meiner eigenen Situation glich. „Well, oh, it isn’t what it was/She’s thinking he looks different today”… Bereute sie es, mit mir die Nacht verbracht zu haben? Sie war in der tiefsten Nacht verschwunden – um nicht der Enttäuschung im nüchternen Morgenlicht begegnen zu müssen? In meiner Seite klaffte ein wunder Abgrund, in dem es zu brennen begann. Es heulte und jaulte darin, wie die Gitarre, die ich spielte. Gefräßige Wölfe, die ich ausrotten musste, auch wenn ich mich dabei selbst auslöschte. Mir sausten die Ohren von dem Geräusch, und dann hörte ich plötzlich nichts mehr, alles war in Watte gepackt. Ich streifte mir in Zeitlupentempo den Riemen meiner Gitarre über den Kopf, ließ sie auf den Boden gleiten und rannte zu meinem Fahrrad. Die anderen blieben bewegungslos stehen, wie Pappfiguren.

      Gleichgültig ließ ich mich über Steine und Vertiefungen in der Straße hinweggleiten, wollte nur noch in mein Bett stolpern. Ein Trauerrand aus Wolken war am Horizont. Meine Wunde war taub geworden, vielleicht hatte sich ja eine dieser weichen, kühlenden Wolken darauf gelegt. Es begann zu tröpfeln.

      Ich schleppte mich über die Treppe nach oben und ins Bett.

      Das restliche Wochenende verbrachte ich an eben diesem Ort und drängte meinen ganzen Körper um diese Wunde zusammen. Dabei hörte ich Mixtapes, die mich an alte Lieben erinnerten, alte Wunden. Die aber waren schon verheilt, man kratzte nur die Kruste weg und betrachtete die Struktur darunter, die wie ein altes Relief aussah. Diese Lieben hatten nichts mit der gegenwärtigen zu tun. Ich hatte immer versucht, mich nach dem Ende einer Liebe vor einer neuen zu schützen, aber nach einiger Zeit vergaß ich diese Vorsicht und stolperte und schlug mich blutig vor Leidenschaft.

      Ein paar Mal rief jemand an, aber ich wollte nicht ans Telefon gehen. Die Möglichkeit, dass sie anrufen könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Sie wirkte wie jemand, der nie jemanden anrufen musste, der immer nur angerufen wurde. Doch ihre Nummer hatte sie mir auch nicht gegeben. Am Ende besaß sie gar keinen Wohnsitz mit Telefon wie alle anderen, sondern erschien am Abend, wenn alle Straßen dunkel und sie sichtbar wurde, und zog in Rauchschwaden durch die Stadt.

      Nur, um mir die Zeit zu vertreiben, schaute ich auf mein stummes Handy, das noch auf dem Nachttisch lag. Keine neuen Nachrichten. Ich klickte in meine Notizen, die ich mir immer auf dem Handy machte, wenn ich mein Notizbuch nicht zur Hand hatte.

      Da. Es sah zwar genauso wie die anderen Einträge aus, doch ich merkte sofort, dass eine andere Hand es getippt hatte. Eine fragile Hand, mit fliegenden Fingern:

       Du weißt ja, wo du mich findest.

      Vier

      Ich fühlte mich wieder wie mit Dreizehn. Der Sommer schien, jetzt, da ich mit der Schule fertig war, endlos vor mir zu liegen wie früher. Ja, er schien sogar noch endloser zu sein, denn danach erwartete mich nichts, dem ich verpflichtet war. Ich konnte auf die Universität gehen, oder ein bisschen Geld verdienen, oder einfach nur abwarten, was passierte. Das Leben war ein einziger, friedlicher Sommer, der Himmel nach allen Seiten offen und blau.

      Ich setzte mich nach draußen in den grünen Klappstuhl, der unter dem Pfirsichbaum stand. Um mich herum wuchs üppiges Gras; mein Vater kümmerte sich nie darum, es zu schneiden, genauso, wie er auch seine Frisur wuchern ließ. Die Pfirsiche über mir waren noch nicht ganz reif und hingen in hellem, samtigem Gelb am Baum; an ein paar von ihnen entdeckte ich rosa Stellen, als wären sie schamhaft errötet.

      Ich hatte meinen alten Plattenspieler mit nach draußen genommen, auf ihm spielte ich meine ganze alte Musik. Irgendwann hatte ich beschlossen, mir die Klassiker aus den Sechzigern und Siebzigern originalgetreu nur auf Vinyl zu kaufen. Ich legte eine Platte von Big Star auf, deren Sänger Alex Chilton nach einem Jugendhit mit seiner Vorgängerband nie mehr richtig erfolgreich wurde. Der Name stand also eigentlich im Gegensatz zum Status der Band; doch wenn man es sich genau überlegte, so waren auch die Sterne am Himmel niemals für alle und zu jeder Zeit sichtbar. Am Tag stand eine große, alles einnehmende Sonne am Himmel, die die Menschen ablenkte; in der Nacht sah jeder nur einen Ausschnitt des Sternenhimmels, oder aber es drängten sich sorgenvolle Wolken dazwischen. Man machte also den Stern, der einem zu einer melancholischen Stunde tröstend entgegenblinkte, zu seinem Lieblingsstern, so wie man eine Band, die einem in einer schwierigen Situation aus dem Radio entgegentönte, zu seiner Lieblingsband machte.

      Welcher Stern Mia wohl begegnet war? Ich war entschlossen, sie heute aufzusuchen und danach zu fragen. Ich hatte nicht gleich gestern, als ich die Notiz gefunden hatte, hingehen wollen; sie hätte dann das Ausmaß meiner Sehnsucht bemerkt und diese Schwäche wollte ich nicht zeigen. (Wenn es mir schlecht ging, konnte ich mich den Menschen nicht mitteilen; in Gesellschaft anderer löste sich dieses Leiden, das zuhause in meinem Zimmer noch da war, einfach auf, ich bekam es nicht mehr zu fassen, geschweige denn, dass ich es in Worte fassen konnte. Mein Leiden war ein stilles, exklusives Privatvergnügen.) Außerdem grollte die Wunde in meiner Seite nur noch ein bisschen, Mias Notiz hatte sie ein wenig besänftigt.

      Ich stellte den Plattenspieler lauter und ließ die Musik durch den Garten schallen. Heute wollte ich die wenigen Sonnenstunden, die meinem Gemüt vergönnt waren, auskosten. Glücklicherweise grenzten an unseren Garten auch keine Grundstücke mit Nachbarn, die stören oder sich beschweren konnten.

      Nach ein paar Stunden klappte ich den Stuhl zu und ging mit dem Plattenspieler ins Haus zurück.

      Als ich mit meinem Rad vor der Lagerhalle ankam, stand sie schon da. Ein Gefühl, als hätte ich ein Metallgewicht verschluckt, breitete sich in meinem Magen aus. Das Gewicht kam unten auf, und mir dröhnten die Ohren. Ich klammerte mich an mein Fahrrad und tat so, als müsse ich daran noch etwas einstellen. Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, ging ich auf Mia zu.

      Da es noch nicht dunkel geworden war, konnte ich sie nun deutlicher als bei unserer ersten Begegnung erkennen. Ihre braunen Haare waren mit einem breiten Band zurückgeschoben und gaben den Blick auf ein herzförmiges, blasses Gesicht frei. Die dünnen Träger eines schwarzen Tops schnitten in ihre mageren Schultern ein; knochige Hüften hielten einen schwarzen Rock mit Punkten. Jetzt sah sie fast schüchtern aus; anstatt gelassen an der Wand zu lehnen, konnte ich erkennen, dass sie sich ganz leicht vor und zurück schwankte.

      Ihre Augen waren nun nicht mehr schwarz, sondern von einem dunklen Karamell. Je nach Belieben würde sie das Karamell aufwühlen und umrühren und es wieder in den Sog verwandeln können, in den ich vor zwei Nächten gestolpert war.

      Doch jetzt begrüßte sie mich nur mit einem schwachen „Hey…“. Es lief für mich alles auf die eine Frage hinaus, und ich wollte sie ausspucken, ohne noch länger darauf herum zu kauen. Doch sie würde sie wie ein schleimiges Etwas zu ihren Füßen betrachten und sich davor ekeln.