Carina Obster

Die Nacht gehört den Liebenden


Скачать книгу

Stadt befinden, sie waren dort zu überlaufen und nicht verlassen genug; es gab immer ein Gebäude, das zu nah daran gebaut war oder Leute, die dort vorübergingen. Außerhalb der Stadt war das anders. Da war das Waldstück, in dem ich mich früher immer mit meinem Vater herumgetrieben hatte, der Hügel, von dem aus ich gerne die Gegend betrachtet hatte, die alten Bahngleise, bei denen ich mit Mia gewesen war.

      Sie führten ins Nichts, diese Bahngleise; sie begannen beim Ostbahnhof der Stadt, in der Nähe meines Zuhauses, und verliefen sich dann in die Natur, bis sie von Heidekraut umschlungen wurden und in den grünen Boden hineinstachen. Es sah aus, als würden sie dort unterirdisch weiterlaufen, wo kein Mensch ihnen folgen konnte.

      Mia und ich folgten diesen Gleisen eines Abends, als sie sagte, sie hätte keine Lust auf die Stadt. Wir erzählten uns von den Romanzen, die wir gehabt hatten, bevor wir einander kennenlernten.

      Mia hatte sich vor einem halben Jahr von ihren langjährigen Freund getrennt, der Drummer in einer Band war; sie nannte ihn einen „Geistesgestörten“, der sie einfach habe fallen lassen.

      »Davor war nicht viel los«, meinte sie, »die Schule war in der Unter- und Mittelstufe nur von Idioten bevölkert.«

      »Ging mir genauso.«

      Trotzdem konnte ich mir schwer vorstellen, dass niemand für dieses fragile Wesen wenigstens die Beschützerrolle hatte übernehmen wollen. Ich erzählte ihr von meiner Exfreundin, die etwas älter als ich gewesen war.

      »Ungewöhnlich für eine Achtzehnjährige, sich in einen Jüngeren zu verlieben. Sie hat mich auf einige neue Dinge gebracht, vor allem musikalisch.«

      Mia sagte nichts und stocherte mit ihren Blicken im Gras neben den Schienen herum.

      »Sie war so der Belle and Sebastian-Typ, wahrscheinlich kannst du dir denken, was das heißt−«

      Ihr Gesichtsausdruck schnitt mir den Satz in der Mitte ab.

      »Ja, das heißt, dass du sie wohl gar nicht vergessen kannst!«

      Mia lachte freudlos auf.

      Mein betretenes Schweigen ließ einen zähen Klumpen aus Angst und Wut zwischen uns entstehen, der unsere ganze Kommunikation noch verlangsamte. Das „Nein“ aus meinem Mund klang wie aus einem kaputten Radio.

      Mias Augen waren kalte, regenverhangene Täler. Sie drehte sich auf dem Absatz um und lief die Bahngleise in entgegengesetzter Richtung zurück.

      Ich stürzte ihr nach, rief zaghaft ihren Namen. Nach wenigen Metern gab ich es auf. Es hatte keinen Sinn, ihr nachzulaufen; die Bäume neben den Gleisen standen schon schwarz vor dem nachtblauen Himmel. Sie würde sich nicht aufhalten lassen, so wenig wie in unserer ersten Nacht. Sobald der Tag wich, sog die Dunkelheit sie auf. Ich aber wollte nicht wieder alleine meinen Kopf auf mein Kissen legen und ging weiter in die andere Richtung, in die Dunkelheit hinein.

      Ich war seltsam ruhig. Ich wagte es mir zwar kaum einzugestehen, aber die Tatsache, dass ich diesmal wusste, dass sie nicht wegen einer meiner eigenen Unzulänglichkeiten abgehauen war, machte mich so ruhig. (Das meinte man wohl damit, dass Liebe egoistisch war: Es hing so viel Eigenliebe daran, die der andere erst einmal zufriedenstellen musste.) Es gab mir die Chance, sie zum ersten Mal wie ein Insekt unter der Lupe zu betrachten, einige Beobachtungen zusammenzuführen, ganz abgelöst von meinen eigenen Gefühlen. Sie war nach außen hin nicht unbedingt verschlossen, aber bestimmte Situationen bewirkten, dass sie sich in sich zurückzog, als hätte man einen empfindlichen Fühler berührt. Man musste also herausfinden, wo diese Berührungspunkte lagen oder sie würde ein mystisches Wesen bleiben. Oder ein unkartiertes Gebiet, wie es in einem Song von The Divine Comedy hieß.

      Und doch bewegte ich mich gerne durch unkartiertes Gebiet. Mein eigener Schatten war, genauso wie die der umstehenden Bäume, gespenstisch lang. Ich merkte unter meinen Füßen, wie die harten Schienen im weichen Waldboden verschwanden; ich hatte das Ende der Strecke erreicht. Eine Wand aus Bäumen stand vor mir. Für heute war es Zeit, zurückzugehen.

      Als Mia sich auch die nächsten Tage nicht meldete, wurde ich unruhig. Ich verstand auf einmal, warum Liebe unmittelbar mit Einsamkeit zusammenhing; wenn man jemanden liebte, spürte man das Fehlen dieses Menschen umso mehr. Und alle Dinge und Situationen, sogar das Telefonieren mit dem geliebten Wesen, würden nur Zeichen seiner Abwesenheit sein.

      Ich versuchte, meine Gefühle, da sie noch frisch waren und noch nicht verrotteten und mich vergifteten, für meine Songtexte fruchtbar zu machen. Dabei schaute ich ab und zu aus dem Fenster und zu den hohen Bäumen in der Ferne, die den Waldrand säumten. Zwischendurch hörte ich meinen Lieblings-Piratenradiosender „Shrunken Planet“, der viel Folk spielte. Wenn die Saiten in meinem Raum erklangen, hörte es sich wirklich an, als wäre der Planet auf meine vier Wände, und die Wiese bis zu dem Waldstück hin geschrumpft, die ich von meinem Dachfenster aus sehen konnte.

      Irgendwann aber begannen die Gitarren gleichförmig auf mich einzudringen, die Wände schienen näher zu rücken. Meine vor einigen Stunden noch frischen Gefühle geronnen zu einem Sediment, das sich auf meinem Grund absetzte und mich träge machte. Ich griff nach dem Hörer neben meinem Bett; ich musste mit jemandem sprechen. Schon nach dem zweiten Klingeln hob jemand ab.

      »Hallo Aida, hier ist Benji…«

      »Hey! Du, wir haben aber heute keine Bandprobe, oder? Oder hab ich da was verpasst?«

      Ich konnte förmlich hören, wie sie sich am anderen Ende der Leitung auf die Lippen biss.

      »Nein, heute nicht.«, beruhigte ich sie. »Aber ich wollte fragen, ob ich trotzdem vorbeikommen könnte?«

      Eine halbe Stunde später saß ich in einem Korbsessel neben Aida im farbenfrohen Hippie-Wohnzimmer ihrer Eltern. Aida war das weibliche Wesen, das bisher am längsten mit mir befreundet war; sie wusste Dinge über mich, die ich nie jemand anderem erzählt hatte. Wenn man sie so sah, mit ihren kurzen Haaren und ihren schwarzen Klamotten, konnte man sie für kühl und verschlossen halten; doch tatsächlich war sie ein einfühlsamer Mensch.

      Ich erzählte ihr von Mia und was sich bisher in unserer Beziehung ereignet hatte. Aida starrte nachdenklich in eine Ecke des Zimmers.

      »Deswegen bist du also bei der letzten Probe abgehauen? Benji, Benji, deine Frauengeschichten sind nicht gut für unsere Band.«, scherzte sie. »Aber mal im Ernst: Ich glaube, deine Mia hat irgendein Problem mit sich selbst. Hat sie dir viel von sich erzählt?«

      »Nein, nicht wirklich. Darüber reden wir nicht so oft. Wir reden überhaupt gar nicht so viel.«

      »Kann ich mir denken, wenn sie so 'ne Träumerin ist wie du. Aber du solltest sie mal direkt darauf ansprechen, was mit ihr los ist. Sonst steckst du ewig in dieser emotionalen Achterbahn fest. Was willst du jetzt eigentlich machen, wieder zu diesem Treffpunkt da gehen?«

      Ja, was sollte ich tun? Ihr hinterher laufen oder warten, bis der kleine Falter von allein zu mir zurückgetaumelt kam, mit seinen leicht lädierten Flügeln, die nervös hin- und herflatterten?

      Einen Tag später jedoch erübrigte sich die Frage. Ich lag dahindämmernd auf dem Bett hinter verschlossenen Jalousien, da vibrierte plötzlich das Handy auf meinem Nachttisch. Ich war sofort hellwach und griff auf die Tischfläche. Meine Fingerspitzen stießen gegen das Handy, ohne dass ich es zu fassen bekam, es rutschte über den Tisch und flog auf den Boden. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es nur sie sein konnte. Und sie drohte mir wieder zu entgleiten, wieder fern zu werden, wenn ich nicht schnell genug war. Ich ließ mich über meine Bettkante nach unten auf den Boden fallen und griff stöhnend hinter meinen Kopf nach meinem Handy.

      »Ja?«

      »Hey…hier ist Mia.«

      Jetzt, da ich tatsächlich ihre Stimme hörte, erschrak ich doch ein wenig, dass sie nun so nah war. Zugleich wurde ich mir meiner eigenen schwachen Lage bewusst, wie ich da telefonierend auf dem Boden lag und an die Decke starrte.

      »Hey…« Meine Stimme klang anders auf dem Fußboden, sie vibrierte dumpf in meinem Brustkorb.

      »Du, magst du vielleicht bei