Sabrina Heilmann

Ein letzter Augenblick


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meinem Bett aus. Es wurde sofort dunkel im Raum und ich blickte aus dem Fenster in den Himmel von Inverness, dieser wunderschönen Stadt in den schottischen Highlands, die ich schon immer einmal besuchen wollte. Nun war ich hier, doch wie ich hierhergekommen war, wusste ich nicht. Hatte ich vielleicht Urlaub hier gemacht und hatte dann einen Unfall? Möglicherweise einen Autounfall, oder ich war in den Bergen unterwegs gewesen und es war etwas schiefgegangen? Der Arzt sagte, ich sei im Januar 2010 eingeliefert worden. Vielleicht war der Winter in diesem Jahr besonders streng und schneereich. Sollte das der Grund für mein Unglück gewesen sein? Allein die Möglichkeiten abzuwägen, bereitete mir Kopfschmerzen, dabei gab es noch tausend weitere, die ich bisher nicht bedacht hatte. War ich allein gewesen, oder war jemand bei mir? Hatte ich in den zwei Jahren vor dem Unfall einen Freund gehabt? Wenn ja, wo war er? Und wie ging es meiner besten Freundin Amber? Das Kaffeetrinken mit ihr war die letzte Erinnerung, die ich hatte. Hatte ich nach der Schule ein Studium oder eine Ausbildung begonnen?

      Zwei Jahre meines Lebens waren gelöscht worden und ich hatte keine Ahnung, ob ich sie wiederbekommen würde. Ganz zu schweigen von der Zeit, die ich im Krankenhaus verbracht hatte. Was war in den fünfeinhalb Jahren in der Welt geschehen? Was hatte ich alles verpasst, seit mein Leben auf Pause gestellt worden war?

      Je länger ich mir diese Fragen stellte, desto mehr erwachte ich aus meiner Schockstarre. Es war, als konnte ich nun erst die Verbindungen zwischen den Worten des Arztes und denen meiner Mutter ziehen.

      Ich atmete schwer und mein Herz setzte im gleichen Augenblick eine Sekunde aus, um anschließend mit der doppelten Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Tränen sammelten sich brennend in meinen Augen. Als ich mir eingestehen musste, dass ich keine Ahnung von der Frau hatte, die aus mir geworden war, und dass mir die Chance genommen wurde, die letzten fünf Jahre zu leben, konnte ich nicht länger gegen sie ankämpfen. Ich krallte mich in meine Bettdecke und versteckte das Gesicht im Kissen, während ich meine verlorene Zeit beweinte und mich, wie so oft, in den letzten Stunden fragte, wer ich war. In Gedanken lebte ich das Leben einer Neunzehnjährigen, die noch gestern zusammen mit ihrer besten Freundin Kaffee getrunken und von einer unerreichbaren Modelkarriere geträumt hatte. Doch dieses naive Mädchen war ich nicht mehr. Ich war eine sechsundzwanzigjährige Frau, die nicht wusste, wer sie war und zu welcher Strafe das Leben sie verurteilt hatte.

       Erinnerung

      Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und genoss die Sonne, die wärmend auf Glasgow schien. Es war ein warmer Frühlingstag Ende April, und obwohl die Luft noch kühl war, fühlte es sich schon fast wie Sommer an. Ich träumte vom Sommerurlaub, von dem ich noch nicht wusste, ob ich ihn dieses Jahr haben würde. In Gedanken hörte ich den Wind, der die Wellen an den Strand trieb, und das sanfte Rauschen, das dadurch entstand. Doch selbst wenn aus dem Urlaub am Strand nichts werden würde, versprach meine liebste Jahreszeit auch in Schottland schön zu werden. Dieser Tag gab mir einen Vorgeschmack darauf.

      »Wartest du schon lange?« Meine beste Freundin Amber riss mich aus meinem Tagtraum. Ich öffnete die Augen und lächelte sie an, bevor ich aufstand, um sie zu umarmen.

      »Nein, aber ich hatte Zeit, uns einen Kaffee zu bestellen«, erwiderte ich, und wir setzten uns. In diesem Moment brachte die Kellnerin die beiden Tassen und ich nickte ihr dankbar zu.

      »Du bist ein Schatz.« Amber löffelte etwas Milchschaum von ihrem Latte macchiato und sah mich anschließend forschend an.

      »Was ist? Warum siehst du mich so an?«, fragte ich, denn ich hatte keinen Schimmer, was ihr durch den Kopf ging.

      »Wir ziehen das noch durch, oder?« Der Ausdruck in ihren Augen ließ keinen Widerspruch zu.

      »Wenn du damit die Bewerbung für die Show meinst? Hmm, nein.«

      Es handelte sich um eine Castingshow, in der ein bekanntes Topmodel nach Modelnachwuchs suchte. Vor einigen Jahren hatte man die Sendung wegen geringer Einschaltquoten aus dem Programm genommen, doch seit sie mit neuer Besetzung und neuem Konzept wieder ausgestrahlt wurde, war der Erfolg enorm. Wie jedes Mädchen hatte auch ich irgendwann den Traum gehabt, Model zu werden. Auf die Idee, mich zu bewerben, kam ich erst durch Amber. In der Werbepause hatte sie die Voraussetzungen gecheckt, die man erfüllen musste, um sich für die neue Staffel anmelden zu können. Ich war größer als vorausgesetzt, erfüllte die Maße, und die Herausforderung reizte mich. Zumindest hatte sie mich an diesem Abend gereizt. Je länger ich darüber nachgedacht hatte, desto mehr verließ mich der Mut.

      »Was hast du zu verlieren?«, fragte Amber, ebenso wie an diesem Abend, und wieder konnte ich als Antwort nur mit den Schultern zucken.

      »Natürlich nichts, aber ich will nicht als dummes Modepüppchen abgestempelt werden.«

      »Du kannst nur als solches abgestempelt werden, wenn du eins bist. Hey, du hast einen super Abschluss gemacht und wolltest ohnehin ein kleines Abenteuer erleben, bevor du dir eine Ausbildung oder einen Studienplatz suchst. Vielleicht ist es genau das, was du jetzt brauchst.«

      Ich seufzte leise und rührte in meinem Vanilla Latte. Im Grunde hatte Amber recht, denn ich suchte eine Auszeit und Herausforderung zugleich. Sicher würde ich genau das in der Show finden können und trotzdem war ich nicht völlig überzeugt.

      »Außerdem ist überhaupt nicht sicher, ob sie dich nehmen. Riskier es!« Amber setzte ihren überzeugendsten Blick auf und ich kam nicht umhin, mit den Augen zu rollen. Meine beste Freundin wusste genau, welche Knöpfe sie bei mir zu drücken hatte, damit ich nachgab.

      »Okay, aber nur unter der Bedingung, dass du dich auch bewirbst!« Nun war ich es, die die herausfordernden Blicke verteilte, während Amber in schallendes Gelächter ausbrach. Sie warf ihr leuchtend rotes Haar zurück, das ihr herzförmiges Gesicht mit den großen grünen Augen, umrahmte. Amber war hübsch und hatte eine unglaubliche Figur. Sie war etwas kleiner als ich, hatte aber mindestens genauso gute Chancen, ebenfalls für die Show ausgewählt zu werden.

      »Sorry, ich bin leider einen Zentimeter zu klein.« Amber zuckte mit den Schultern, vermittelte aber nicht den Eindruck, als wäre es besonders schade, dass ihr diese Chance verwehrt blieb. »Außerdem ist das nicht mein Traum«, fügte sie lachend hinzu.

      Ich atmete lang und theatralisch aus. »Okay, was muss ich alles machen?«

       Kapitel 2

      Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der es mochte, wenn andere ihre Versprechen hielten. Deswegen fand ich den Arzt besonders sympathisch, als er mir nach einigen Wochen Physiotherapie und Rundumbetreuung tatsächlich sagte, dass ich das Krankenhaus verlassen durfte. Die Untersuchungen waren alle gut verlaufen. Auch wenn ich noch ein paar Sitzungen Muskelaufbautraining brauchte, war mein Körper doch so weit wieder hergestellt, dass ich nach Hause konnte.

      Der Arzt selbst verlor kein Wort über meinen Unfall, sicher, weil er annahm, irgendjemand hätte mich in der Zwischenzeit aufgeklärt. Die Wahrheit war, dass ich meine Mutter nicht wieder gefragt hatte. Der Grund dafür war schlicht und ergreifend Angst und auch ein bisschen Stolz.

      Ich war nie ein Mensch gewesen, der sich blind auf andere verlassen hatte. Schon seit ich denken konnte, wollte ich immer alles allein schaffen. Mich zu erinnern gehörte in diesem Moment dazu. Ich wollte mir keine Geschichten anhören, was mir geschehen war, ich wollte jede einzelne meiner Erinnerungen zurückbekommen und mir selbst ein Bild machen. Dazu sagte der Arzt nur, dass ich mir Zeit geben sollte. Die Erinnerungen würden dann kommen, wenn ich sie brauchte und nicht, wenn ich sie erzwang. Diese Antwort musste ich hinnehmen, auch wenn sie mich nicht glücklich machte. Aus dem Mund des Arztes klang das so leicht, doch er selbst hatte vermutlich nie in meiner Situation gesteckt.

      Seit ich aufgewacht war, fühlte ich mich schrecklich unvollständig und ich konnte keine Erklärung dafür finden. Es war, als würde mein Herz wissen, dass mir etwas fehlte, und mich jeden Schmerz dieses Verlustes spüren lassen ... lediglich mein Kopf verweigerte seinen Beitrag dazu.

      »Liebling, hast du alles?«, fragte mich meine Mutter und ich drehte mich zu ihr um.

      »Ja«, antwortete