Ben Brandl

LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS


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fordernd fielen sie übereinander her. Gewalttätig küssten sie sich, bis der Geschmack von Blut auf ihren Lippen spürbar wurde und sie kämpften miteinander, als der Fahrer den Wagen zum Halten brachte.

      Eines der typischen alten Berliner Mietshäuser nahm sie auf. Knarrende Treppen waren rasch überwunden. Die schwere Türe fiel ins Schloss. Düstere bunt-plüschige Räume öffneten sich. Ihr Kampf ging weiter, bis alle Kleider vom Leib gerissen waren und ohne Rücksicht, laut und wild, gaben sie sich gegenseitig alles, was sich bei ihnen aufgestaut hatte.

      Johanna Kain, in ihrer Bar kurz „Jo“ genannt, lebte allein. Freunde halten sich nicht lang, bei dem Job, wenn sie nicht gerade aus dem Milieu kommen.

      Sie blieb hängen in dem Geschäft, weil eine große Liebe von ihr aus dem Milieu kam. Seit einigen Jahren saß er zum zweiten Mal im Knast, und obwohl sie sich schon vorher getrennt hatten, hing sie an dem Kerl.

      Heute wachte Jo früh auf.

      Lange betrachtete sie den Mann an ihrer Seite.

      Sie fühlte sich angenehm relaxt und, zu der für sie ungewöhnlich frühen Stunde, erstaunlich gut ausgeschlafen.

      Sie mochte den Mann, auch jetzt. Sein Geruch war ihr angenehm. Vorsichtig bewegte sich Jo, widerstand ihrem starken Bedürfnis ihn zu streicheln.

      Warum hatte sie wieder das Gefühl, ihn beschützen zu müssen; ausgerechnet sie?

      Sie entschloss sich aufzustehen - räumte, sich nahezu geräuschlos bewegend, die umhergestreuten Klamotten auf - machte sich kurz notdürftig frisch, und verließ die Wohnung.

      Übelkeit riss ihn aus dem Schlaf. Er wollte nicht wach werden, wollte zurück in seine Träume. Obwohl es Alpträume waren wollte er zurück. Seine Übelkeit ließ es nicht zu. Seine Beine schienen ihm unbeweglich schwer, wie in Beton eingegossen.

      War es noch ein Traum?

      Pochender Schmerz im Kopf und der schale Geschmack im Mund zwangen Michael in die Wirklichkeit eines hellen bunten Zimmers. Ein schwarzer Schatten floh vom Bett und seine Beine wurden befreit von der Last eines großen schwarzen Katers, der ihm jetzt gegenübersaß und ihn regungslos, neugierig anstarrte.

      Jo befand sich auf dem Weg zu ihrem Bäcker - ursprünglich um einzukaufen, ein großes Frühstück konnte sie aus ihren vorhandenen Vorräten nicht anbieten - plötzlich wurde ihr klar, dass sie ihm eine Chance lassen wollte. Er könnte so, ohne peinliche Ausreden und Lügen, verschwinden.

      „Wenn’s für ihn eine einmalige Sache war, ist’s für mich besser, wenn ...“

      Es würde ihr wehtun, aber es bliebe wenigstens eine schöne Erinnerung, ohne faden Nachgeschmack.

      Jo wollte nicht weiterdenken, sie hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt.

      Ziellos bummelte sie eine Zeitlang durch die Straßen, bis sie vor einem Blumenladen stand. Nebenan war ein Café.

      Das schwarze heiße Getränk weckte ein schlechtes Gewissen. ‚Vielleicht ist doch alles ganz anders!’ Zu gerne hätte sie es geglaubt. Er war anders, anders als die Männer mit denen sie zusammen gewesen war. Sie hatte Angst. Angst ließ sie weglaufen. Und Angst, ihn wieder zu verlieren, machte ihr das schlechte Gewissen.

      Man gewöhnt sich daran, allein zu sein, und igelt sich ein, schafft sich einen schützenden Mantel. Dabei wäre alles so einfach:

      „Ich liebe ihn, ich glaube ich liebe ihn - und weiß nicht mal, wie er heißt!“

      Jo war drauf und dran zu heulen und wagte sich nicht nach Hause - ihr Zuhause.

      „Scheißkerle, alle! - Alles Scheißkerle!“

      Bei ihrem zweiten Kaffee entschloss sie sich.

      Sie hatte immer noch nichts gegessen, also kaufte sie ein, für zwei, reichlich, einfach für den Fall, den sie sich insgeheim wünschte. Der Weg nach Hause kam ihr endlos vor. Fliegen wollte sie, aber eine Schnecke schien ihr schneller vorwärts zu kommen, selbst ohne denkbares Ziel.

      Was war ihr Ziel? Worauf ließ sie sich ein?

      Was wünschte sie sich wirklich?

      Kreischende Reifen, ein aus dem Fenster schimpfender Mann. Schnell rannte sie vollends über die Straße. Aufgeschreckt ging Jo weiter, hastete um die Ecke und stand einen Moment atemlos, als sie ihr Haus endlich sehen konnte; schäbig war es, seit Jahren nicht mehr renoviert, mit großflächig abbröckelnder Jugendstil-Putzfassade.

      Jo schämte sich ein wenig. Zögernd ging sie darauf zu, auf das schäbig gewordene, alte Mietshaus.

      Michael hatte den Blick des regungslos starrenden schwarzen Katers, in diesem bunten Zimmer, nicht länger ausgehalten und sich mühsam aus dem Bett geschält. Er inspizierte zunächst die Wohnung, um etwas Flüssiges zu finden.

      Durch die Helligkeit des Tages war alles Düstere aus den großen Räumen verschwunden. Lichtdurchflutet bot sich ihm eine kitschige Disney-World ohne gute Fee dar; plüschig, mit Teddybärchen und anderen Tierchen, in allen Größen, auf jedem freien Platz. Für Michaels Zustand zu bunt, zu grell. Und mitten drin der große schwarze Kater, mit dem er sich noch nicht angefreundet hatte.

      Alles war ihm eigenartig vertraut, als wäre er schon mal hier gewesen. Kitschig, plüschig, verstaubt, abgestandene Luft und kalter Rauch, ein schwarzer Kater, - auch eine Bardame, blutjung, knackig, scharf, ebenfalls in Berlin, - er, blutjung, Anfänger, zum ersten Mal an einem Haus, seine ersten großen Chancen, die große Hoffnung des Balletts der Deutschen Oper Berlin; - und er hatte sein kostbares Talent im Bett einer Bardame vergeudet.

      Im überdimensionalen Kühlschrank fand er, was er suchte. Das kalte Bier war seine Rettung.

      Danach legte sich Michael abermals ins Bett, er verfolgte die Wirkung von Restalkohol und Nachgeschüttetem. Sein Zustand verbesserte sich innerhalb etwa einer halben Stunde so, dass er aufstehen konnte. Aus alter Routine begann er mit einem Körpertraining, das er sich als Choreograph angewöhnt hatte, und der dicke schwarze Kater beobachtete seine eigenartigen, schweißtreibenden Verrenkungen.

      Während er noch als Tänzer arbeitete, war es für ihn ein Gesetz gewesen, im Ballettsaal mit den Kollegen zu trainieren. Später hielt er sich in Form, indem er am Morgen nach dem Aufstehen trainierte, nicht regelmäßig, aber immer dann, wenn sich keine Gelegenheit bot, bei einem Tänzertraining mitzuarbeiten.

      Endlos lange Zeit schien ihm seither vergangen.

      War er nicht erst vor einigen Tagen hier an der Oper gewesen, zu einer Besprechung, die eine seiner frühen Choreographien betraf? War er nicht eigentlich nur deshalb hier in Berlin? Oder bildete er sich’s nur ein? Spielte ihm seine überbordende Phantasie einen Streich? Täuschte er sich selbst?

      Ulla hatte er getroffen, da war er sich sicher, seine ehemalige Tänzerin Ulla. Alle seine langsam vernarbten Wunden wurden wieder aufgerissen. Dann war er versackt, restlos versackt, mit viel zu viel Alkohol.

      Und jetzt auch noch das - besoffen - ohne sich zu schützen ...

      Was er sich mehrmals geschworen hatte - an drei frischen Gräbern musste er sich’s schwören, nacheinander; nur wenige Monate, dann nur Wochen lagen dazwischen - heute Nacht hatte er seine Schwüre gebrochen!

      Keuchend arbeitete er weiter. Michael kasteite sich geradezu, wie um sich selbst zu bestrafen.

      „Geschehen ist geschehen! - Zu spät für Reue!“

      Zwei seiner Tänzer waren an AIDS gestorben - junge kräftige Menschen. Und davor Kai, sein Chef. Er war der erste in seiner unmittelbaren Umgebung gewesen, der AIDS bekommen hatte, und Michael musste aus nächster Nähe das tragische Endstadium miterleben.

      Manchmal hatte Michael Sehnsucht nach dem Tod, gerade in letzter Zeit war er zu müde geworden um zu kämpfen, aber auf diese schreckliche Weise wollte er nicht sterben.

      Kaum hatte er sein kurzes Training einigermaßen hinter sich gebracht, wurde Michael von