Ben Brandl

LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS


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gesteckt.

      ‚Sie dürfte nicht sehr alt sein, achtzehn, neunzehn, eher jünger.’ Michael suchte nach verdächtigen Stellen, die eventuell Bekanntschaft mit der Nadel verraten hätten.

      Was könnte sonst eine junge Frau oder ein Mädchen in diese Situation bringen, in dieses Lokal treiben, sie diesen oder ähnlichen Geschäften nachgehen lassen?

      Er versuchte sich zu distanzieren und doch saß er ebenfalls hier in dieser Bar, diesem heruntergekommenen Schuppen, sinnlos vor sich hin trinkend, auf dem besten Weg sich selbst zu zumachen.

      Jo und Michael saßen sich wieder gegenüber, zwischen ihnen die Theke. Die Bar hatte sich langsam geleert, und eines der Mädchen hatte sich schließlich um die Betrunkene gekümmert. Außer dem letzten Gast waren sie allein und warteten, bis er am Ende auch gehen würde.

      Jo zeigte jetzt ihre Gefühle. Fast schwarz glänzten ihre dunklen braunen Augen, in seltsamem Kontrast zu ihrem blonden Haar. Ungeniert küssten sich beide lange Zeit zärtlich, dann sehr sinnlich. Beider Arme lagen auf der spiegelblanken Fläche. Die Hände trafen sich, fanden sich ineinander, sprachen zueinander, Intimes, ohne Worte. Getrennt durch die Bar schienen ihre Körper Magnetfelder aufzubauen, die sich gegenseitig anzogen, die knisterte Spannung, durch die Begegnung ihrer Hände, ihrer Lippen gesteigert.

      Aus für beide nicht begreiflichen Gründen hatte ihr Verhältnis etwas vom Charakter des Verbotenen. Und beide genossen dieses Etwas. Und beide tranken. Jo hatte die Flasche gleich da gelassen. Fast hätten sie den Gast vergessen, der jetzt endlich, betrunken brummend, Anstalten machte zu gehen. Jo half schnell geschickt nach, verabschiedete den Angetrunkenen freundlich, schloss die Türe hinter ihm und löschte einen Teil des Lichts. Dann konnte beide nichts mehr halten. Der Dunst der Kneipe, abgestandener Rauch, vom Geruch zweier Körper angereichert, alkoholgeschwängerte, keuchende, körperliche Liebe, bizarre Schatten werfend, tanzende Gestalten, schweißbedeckte Haut, schummriges Licht, für Bruchteile von Sekunden reflektierend, Schreie und Stöhnen - gewalttätig - ein Kampf zweier Körper.

      An der frischen Luft, kurz vor der ersten Dämmerung, ernüchterte sie ein nieselnder Regen wieder etwas. Sie fuhren zu Jos Wohnung, überwanden, sich gegenseitig stützend, die ihnen bedrohlich entgegenschwankenden, knarrenden Treppen und fielen todmüde, kneipenmiefgeschwängert und angezogen wie sie waren, in die Betten.

      Maximilian, der große schwarze Kater, verzog sich unwirsch niesend aus dem Zimmer und suchte sich einen wohlriechenden, sauberen Platz.

      Tage und Wochen verliefen fast automatisch in ähnlichen Varianten. Michael hatte noch am selben Tag seine Sachen aus dem Schließfach geholt und war, ohne sich irgendwo zu melden oder abzumelden, bei Jo geblieben.

      Er wohnte jetzt bei ihr und Jo war glücklich. Das einzige, was ihr manchmal Angst machte, war sein ungeheurer Alkoholkonsum. Sie wusste sehr wenig von ihm und wollte auch nicht nachfragen. In nüchternen Momenten spürte sie, wie er sie mit sich zog. Sie trank wesentlich größere Mengen als vorher. Aber was hieß schon ‚vorher‘. Ihr war, als hätte es nie ein Vorher gegeben. Beide lebten im Jetzt und Jo fieberte, wenn er nicht in ihrer Nähe war, längst dem nächsten Moment ihres Zusammenseins entgegen.

      Keine seiner vielen Verbindungen hatte Michael wieder aufgenommen. Er war einfach in ein anderes Leben geschlüpft, er war tatsächlich abgetaucht - es war ihm geglückt. So, wie er es sich manchmal vorgestellt hatte, war er aus seinem alten Leben verschwunden.

      Es gab Menschen, die einfach verschwanden, - nun war wohl er auch einer dieser Verschollenen. Ungewöhnlich für ihn, hatte er sogar an seine Finanzen gedacht, und sie so geregelt, dass er nur mit großen Schwierigkeiten aufzufinden wäre, wenn sich jemand wirklich interessieren würde, was er aber eigentlich ausschloss. Was ihm jedoch nicht glückte, war das Schreiben. Er fand einfach keinen Anfang. Wo sollte er beginnen? Wie sollte er beginnen? Welche Form sollte er wählen? - Bis jetzt hatte er keine einzige Zeile niedergeschrieben.

      Seltsamerweise erzählte Michael Jo nicht ein Wort von seinen Plänen, und wenn das Gespräch etwas streifte, was vielleicht auf sein Vorleben hingewiesen hätte, verstummte er einfach. Er bemerkte nicht, wie ihm die Kontrolle mehr und mehr entglitt. Der Alkoholkonsum wurde größer und sein gelegentliches Training vernachlässigte er wie nie zuvor. Doch so sehr er auch versuchte sich von seiner Vergangenheit zu distanzieren, so sehr er sich zuschüttete mit Alkohol, - abgesehen von den Momenten seiner exzessiv ausgelebten Sexualität mit Jo, - so sehr wuchsen die Schatten jener Depressionen, welche ihn immer stärker bedrohten.

      Die glattrasierte Maus aus Jos Laden hatte in der letzten Zeit an Michael einen Narren gefressen und sich schon manchmal Jo und Michael angehängt, wenn sie später noch durch andere Lokale zogen, ohne dass sich Jo deshalb etwa ablehnend oder eifersüchtig gezeigt hätte. Sie hieß Laura und war ein ausgebuffter Racker, der immer ohne Höschen rumlief und mit animieren die meisten Scheinchen machte, wenn sie nicht gerade durchdrehte und die Kundschaft zu früh verprellte. Michael beobachtete oft, wie sie arbeitete und in angetrunkenem Zustand arbeitete seine Phantasie manchmal weiter. Was ihn sonst abstieß, zog ihn dann magisch an.

      Laura bemerkte seine Blicke und mochte es, wie er sie beobachtete. Sie war raffiniert genug, ihm ab und zu eine extra Vorstellung zu bieten, die nur er bemerken konnte. Und wenn sie die angeheizten Typen endlich abgeschüttelt hatte, ohne irgend etwas, das sie versprochen zu haben schien, einzulösen, kam sie, ein schmiegsames Kätzchen, an die Bar zu dem Wartenden und setzte sich zu ihm. Nachdem sich Michael nie mit anderen Gästen unterhielt, war Jo in solchen Momenten einfach froh, dass er nicht allein herum saß, wenn sie sich um andere Gäste kümmerte. Hauptsache Michael war in ihrer Nähe.

      In seinen kritischen Phasen kam Michael jede Ablenkung gerade recht - und diese Art der Ablenkung funktionierte, schmutzig kribbelnd, irgendwie passend zu seinem Zustand, in dieselbe Richtung weisend. Unweigerlich schien er in einen Sog zu geraten, dem er nicht entrinnen konnte.

      Laura rauchte viel und mit Michael an der Bar kiffte sie manchmal, was sie bei ihren spendablen Gästen nicht tat. Gelegentlich bekam sie zu viel Alkohol ab und rastete aus. Danach kam meist das große Heulen. Sein Stammplatz hinten auf der Eckbank war etwas blickgeschützt und - nach solchen Szenen - ein geeigneter Fluchtpunkt für Laura. Es war dann sehr schwer, ihr zu helfen, meistens ließ Michael sie sich einfach ausheulen.

      Aber die Ecke eignete sich auch für anderes.

      Schamlos wie sie war, entwickelte Laura viel Phantasie, um Michael zu beschäftigen. Seine Blicke, seine Aufmerksamkeit schmeichelten ihr, er wurde zum Zuschauer, zu ihrem Publikum und in der Ecke wurde ihr Spiel intimer, und Michael spielte mit. Jo, die sehr beschäftigt war, kümmerte sich nicht darum, scheinbar drückte sie beide Augen zu; als mögliche Nutznießerin wollte sie vielleicht nichts davon bemerken. Im Schatten der Theke wurden indes Berührungen eindeutiger und das Bewusstsein, andere Menschen um sich zu haben, steigerte den Reiz dieses Tuns.

      Eines schönen Morgens landeten sie schließlich zu dritt und betrunken in Jos Wohnung.

      Sie waren vorher durch Frühlokale gezogen, in denen sich, außer den Übriggebliebenen, die Arbeitenden des Nachtlebens den Rest der Nacht vollends um die Ohren schlagen.

      Zwei Bekannte von Jo hatten in der Bar ziemlich auf den Putz gehauen und für einige Gäste großspurig Runden ausgegeben, zu denen sie auch Laura und Michael einluden.

      Es waren undurchsichtige Typen, mit der Eleganz von Edel-Zuhältern.

      Michael schätzte sie jedenfalls als Kriminelle ein.

      „Scheiß trocken hier! Jo, bring noch eine Lage!“

      „Du trinkst doch mit?“ hatte sich der Größere an Laura gewandt. Unterschwellig spürte Michael in diesem Moment die Wachsamkeit dieser Männer, ihre lauernde, latent vorhandene Aggressivität. Machogehabe und Arroganz paarten sich auf abstoßend beeindruckende Weise, die Michael vorsichtig werden ließ.

      „Nein danke! Mir reicht’s schon.“ versuchte Laura abzulehnen. „He, hab dich nicht so, Mäuschen. Bist doch sonst nicht so ablehnend.“ Der Kleinere mischte sich ein und schob ihr auffordernd sein Glas hin.

      Laura