Ben Brandl

LANGSAM VEREBBT DER APPLAUS


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gekonnt bis Michaels Schädel endgültig zu zerspringen drohte; bis zur Explosion der Sinne und Schmerz an der Grenze des Erträglichen, als Laura sich vorsichtig wieder löste, ihn sehr sinnlich, mit weichen vollen Lippen zärtlich küsste und zur Seite rollte, um weiterzuschlafen.

      Rauschen, Pochen, schmerzende Übelkeit nahm nach einiger Zeit überhand, zwang Michael nochmals aus dem Bett und in kleinen Schlückchen trank er, am großen Kühlschrank in der Küche Halt suchend, das kalte Bier, von dem er Linderung erhoffte.

      Wie der unbestechliche Zeiger einer Uhr waren im abgedunkelten Zimmer die durch Vorhänge dringenden Sonnenstrahlen, über Farben bunter Plüschtiere streifend, langsam weitergewandert und hatte Jo erreicht. Maximilian lag eingerollt an ihren angewinkelten Beinen. Laura schlief friedlich. Jo erwachte und war verwundert, eine Frau neben sich zu finden.

      Allmählich kam ihre Erinnerung zurück. Sie kannte doch sonst ihre Grenzen genau und wusste immer, wann sie, um diesen Zustand zu vermeiden, aufhören musste. Heute hatte sie einen schmerzenden Kopf, einen ausgewachsenen Kater.

      Aus dummen Katzenaugen sah Maximilian die verkaterte Jo fragend an.

      Michael war nicht da. Jo erhob sich und suchte, vollkommen verschlafen durch die Wohnung tapsend, nach ihm.

      In der Küche fand sie ihn endlich - leidend, mit einer Flasche in der Hand - am Kühlschrank. Michael erschrak, als sie plötzlich vor ihm stand.

      Seinen üblen Zustand überspielend, bot er Jo einen Schluck Bier an.

      „Trink einen Schluck, das einzige was hilft.“

      „Oh je, oh je, geht es dir genauso beschissen?“, Jo hielt sich den Kopf und nahm dankbar die Flasche entgegen.

      Zunächst etwas erleichtert, angelte Michael eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank, und beide setzten sich, wie sie waren, an den Küchentisch. Geschmeidig und träge gesellte sich der Kater zu den Verkaterten.

      Beide tranken.

      Jos braune Augen waren noch schwarz umrandet von verschmiertem Make-up; Lippenstiftreste und zu viel Braun am Haaransatz verunstalteten ihr hübsches Gesicht. Schlafverknitterte, bettwarme Haut, nur wenig bedeckt von den schwarzen Spitzen seidener Unterwäsche verlangte nach intimer Berührung, und wirre blonde Haare zeigten am Ansatz ihre wahre Farbe. Gepflegte Hände mit blutrot gelackten Fingernägeln hielten zitternd die Flasche, aus der sie in kleinen Schlückchen trank.

      „Es tut mir leid wegen heute Nacht, ich konnte die Kerle nicht abwimmeln. Pit und Ronny waren, oder besser gesagt sie sind, Freunde meines ehemaligen Mannes. - Mann ist auch nicht ganz richtig, wir lebten einige Jahre zusammen, von den zehn Jahren unserer Verbindung saß er über die Hälfte im Knast. Sie nennen ihn Will, aber er heißt Wilhelm. Seit fast zwei Jahren ist er wieder drin. Wir hatten uns schon vorher getrennt, es ging einfach nichts mehr zwischen uns. Das Dumme ist nur, er betrachtet mich immer noch als sein persönliches Eigentum!“

      Mit den letzten Worten war Jo lauter geworden und wütend aufgestanden.

      „Scheiße! - Bekackte Scheiße, warum kann mich der Kerl nicht in Ruhe lassen!“

      „Ah“, griff sie sich an den Kopf, „mir ist so schlecht!“

      Ein flüchtiger schwarzer Schatten floh aus der Küche.

      Michael zögerte, wusste nichts zu antworten, versuchte dann die Wütende beruhigend zu umarmen, doch sie löste sich abrupt. „Diese arroganten, blöden Affen konnte ich eigentlich nie leiden. Ronny ist blöd und gerade deshalb gefährlich. Pit ist gerissen, schlau, skrupellos, alles was du haben willst; eiskalt und unberechenbar gefährlich dazu. Pit könnte sich totlachen, wenn er von uns erfährt, aber genauso gut könnte er dich fertig machen wollen - oder beides, man weiß nie, wie er reagiert.“

      „So einfach dürfte das mit dem Fertigmachen nicht werden!“, Michael versuchte zu verbergen, wie ihm in Wirklichkeit zumute war.

      „Und wenn Wilhelm im Knast was mitkriegt, ist so oder so was los!“, resigniert setzte sich Jo an den Tisch, griff zu ihrer Bierflasche und fing an zu schluchzen.

      „Scheißkerle! Ich gerat’ immer an solche Scheißkerle! - Und was machst du? Was für Geschäfte hast du laufen?“ Fast hasserfüllt funkelten ihre Augen ein paar Augenblicke, um dann wieder warm und weich, von neuem mit Tränen verschleiert, Michael anzublicken.

      „Ach, ich will gar nichts wissen, sag nichts, sag nichts!“

      Sie war über dem Tisch zusammengesunken und ließ jetzt ihren Tränen freien Lauf, der Kopf lag auf dem Arm und ihr ganzer Körper zuckte unter krampfartigem Schluchzen.

      Michael strich beruhigend über ihren mädchenhaften Nacken und schwieg.

      Seine Gedanken schweiften unweigerlich zurück in eine Zeit, die er doch unbedingt vergessen wollte, eine Zeit die er dauerhaft zu verdrängen suchte, Augenblicke mit seinen Frauen, mit Petra, mit Reni, Szenen am Theater, im Ballettsaal, auf der Bühne, der kranke Kai, sein Sterben, - all das schien wie ein wirrer, alptraumartiger Film im Inneren seines Schädels und unbeeinflussbar. Es half nicht die Augen zu verschließen, die Bilder wurden nur stärker, und Michaels Gedanken entglitten vollständig seiner Kontrolle.

      Er war alt geworden, ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er nicht genügend Härte aufgebracht hatte, um den Intrigen und Kritiken standzuhalten, als er Choreograph und Ballettdirektor wurde. Die Schwerkraft hatte ihn zurückgeholt aus seinen Höhenflügen, zu schnell, zu früh, zu radikal. Andere hatten seine Schwächen erkannt.

      Er konnte sich seine Fehler mit Frauen nicht verzeihen. Er konnte sich nicht verzeihen, dass er an Alkohol geraten war.

      Fast mechanisch strich Michael über den Nacken der schluchzenden Jo.

      Und jetzt war er im Berliner Nachtleben versackt, eine Stufe weiter gefallen; und das nannte er ‚aussteigen‘, ‚in ein anderes Leben schlüpfen!‘ Und schon wieder brachte er auch anderen Menschen Unglück: - Jo, mit der er schlief, die er aber nicht liebte. Sie zog ihn sexuell an, dieses Verhältnis war erotisch, triebhaft, etwas in ihm wollte es so!

      Er blickte Sie an: Irgendwie zerbrechlich dieser zarte Nacken, der dunkle Haaransatz, die blondierten Haare bedeckten einen schönen Kopf. Zärtlich, beruhigend strich er über den feinen dunklen Flaum ihres Nackens. Michael spürte bleierne Müdigkeit, drohend, lähmend. - Ja, er war alt geworden - ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. War es Petras Nacken, über den er strich, dieser zarte Nacken, der ihm zugekehrt war? Petra, die schluchzende Petra, lag vor ihm auf dem Küchentisch und es zerriss ihm sein Herz. Sie war es, sie war da, seit Jahren hatte er sie nicht so nah gespürt.

      Zwei Welten vermischten sich. Was war wirklich?

      Eine Welle von Alkohol verschlimmerte seinen Zustand, die Wirkung des zu schnell nachgetrunkenen Biers kam zu heftig. Er musste sich bewegen, er musste tanzen, und er tanzte, allein, vor der schluchzenden Jo, tanzte auf kleinstem Raum in einer großen Altbauküche, und die Sonne warf durchs Fenster gebündeltes Licht auf ihn, wie die Scheinwerfer auf einer Bühne.

      Doch die einzige Zuschauerin schaute nicht, sie weinte, während ein alter besoffener Tänzer seine Pirouetten drehte und tanzte, bis er auf die Nase fiel und laut krachend einen Stuhl zerbrach.

      Jo schreckte auf, aus tränenverschmierten, verquollenen Augen sah sie Michael am Boden. Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus einer Platzwunde am Kopf, er schien bewusstlos.

      Laura stand unversehens in der Türe, mit fragendem Gesicht, ihr zugewandt.

      „Er ist einfach gestürzt, wie von ‘ner Axt ...“

      Jo empfand sich wie festgemauert, sie war gelähmt, ratlos. Das Mädchen fasste sich zuerst, und beide versuchten, Michael aufzurichten, bis Jo nach langen, endlosen Minuten einfiel, dass man das Blut stillen sollte. Sie suchte Verbandszeug, tränkte umständlich ein Tuch mit kaltem Wasser.

      Unterdessen ruhte Michaels Kopf am bloßen, von