Caroline Régnard-Mayer

Ein Jahr ohne dich


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sehr, und ein Sandwich servieren wir auch gleich.«

      Ich fühlte mich sehr wohl mit meinem Sitzplatz direkt am Fenster, somit konnte ich die bizarren Wolkenformationen oder den späteren Landeanflug beobachten. Neben mir befand sich ein freier Platz, daneben saß eine ältere Dame. Sie las schon die ganze Zeit und außer einer Begrüßung kamen wir nicht ins Gespräch. Ich freute mich auf mein Studium in Boston. New York war nur ein kleiner Urlaubsabstecher, den ich mir von meinem Erbe gönnte. In Manhattan hatte ich mir ein Hotel gebucht und wollte auf eigene Faust fünf Tage lang diese riesige Stadt der USA kennenlernen. Viele Sehenswürdigkeiten hatte ich eingeplant.

      Ich schaute hinaus über die Tragefläche und die letzten Wolken zogen vorbei. Das Sonnenlicht blendete mich kurz. Dann erblickte ich Englands Hauptstadt. Der Flugkapitän sprach durch die Sprechanlage: »Meine Damen und Herren, wir haben gerade unsere Reiseflughöhe verlassen und befinden uns im Landeanflug auf London. Wenn sie aus dem Fenster blicken, sehen sie auf der rechten Seite den Buckingham Palast. Es scheint die Sonne, bei einer Außentemperatur von 21°C. In circa fünfzehn Minuten landen wir auf dem Heathrow Airport. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Vielen Dank und auf Wiedersehen.«

      Da ich in einer Linienmaschine saß, klatschte keiner Applaus für den Flugkapitän, wie bei diesen Pauschalreisefliegern. Mein Herz pochte ganz schnell, als ich die Themse unter uns erblickte. Sie glitzerte im Morgenlicht und die Häuser und Autos konnte man immer deutlicher erkennen. Neues Leben, ich komme!

      °Christin°

      Die Narren zogen durch die Stadt und frönten dem Faschingsfest. Die Natur zeigte sich in verschiedenen Farben. Es war ein kalter, regnerischer Aschermittwoch, als sich mein Leben schlagartig und unwiderruflich veränderte. Auch für meine Kinder änderte sich alles. Ich hatte die Diagnose Multiple Sklerose erhalten. Damals hatte ich nicht gewusst, dass es eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems ist. Doch schnell habe ich mich mit Fachliteratur eingedeckt und besuchte bereits nach wenigen Wochen eine Selbsthilfegruppe. Meine Tochter war damals neun Jahre alt und hatte eine veränderte, verstörte Mutter zurück bekommen. Peter, im Alter von fünf Jahren, erfasste die Tragweiter meiner Diagnose noch nicht. Oft weinte ich ohne erkennbaren Grund nach außen, denn in mir sah es düster aus. Conny spürte deutlich meine Veränderung.

      »Es wird alles gut werden Constanze, mein Mäuschen!«, sagte ich zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie kuschelte sich an meine Schulter.

      Conny erzählte mir sehr viele Jahre später: Sicher, verunsichert war ich allemal und Peter war erst 5 Jahre alt. Mit ihm konnte ich nicht darüber reden. Du hast versucht mir deine Krankheit schonend beizubringen; dass du sehr krank bist und von nun an etwas ruhiger leben müsstest …

      Zur Diagnose hatte ich nun auch noch die Kündigung während meiner Probezeit in einer Klinik bekommen; künftig war ich arbeitslos. Mein geschiedener Mann, Richard, schaffte keine gute finanzielle Basis für uns, somit gingen die Laufereien zu diversen Ämtern los. Ich konnte kaum gehen, leider nicht gerade der Idealfall, wenn man im Dachgeschoss wohnte.

      »Mama, soll ich dir etwas helfen?« Oft stand meine kleine Tochter vor mir und hat mich danach gefragt.

      »Nein, mein Schatz. Geh ruhig spielen. Ich schaffe das.« Traurig schaute ich Conny hinterher, die ein sensibles Kind war und genau spürte, wann ich keine Kraft mehr für den Haushalt hatte.

      »Mama, kann Papa mir etwas einkaufen?« Ich hatte die Nummer meiner Eltern gewählt und sie um Hilfe gebeten. Auch etwas, das ich erst lernen musste.

      »Klar Christin, ich schreibe es mir auf und dann kann dein Vater die Sachen gleich besorgen. Ich war zwar heute Morgen im Supermarkt, doch habe ich die Tomaten und die Butter vergessen.«

      Nachdem ich telefoniert hatte, legte ich mich auf die Couch.

      Mit den Jahren haben sich meine Kinder notgedrungen in die Situation eingefunden, dass manches in unserer kleinen Familie anders war, als bei ihren Freunden. Oft bekam ich Infusionen, die ich anfangs der Erkrankung meist stationär in der Klinik erhalten habe.

      In den ersten zwei Jahren nach meiner Diagnose blickte ich öfters zurück. Kein leichtes Leben hatte ich seit der Heirat. Bei meiner kleinen Conny haben die Ärzte bei der Geburt ein schweres Hüftleiden diagnostiziert. Später waren Asthmaanfälle dazu gekommen; viele Klinikaufenthalte folgten. Dann hatten wir den Hausbau in unserer alten Heimat in Angriff genommen und zogen von Bayern wieder zurück nach Lahnfeld. Bei Peter wurde mit neun Monaten ebenfalls eine Hüftdysplasie festgestellt und somit kämpfte ich an zwei Fronten. Richard hielt sich aus allem heraus und forcierte nur seine Karriere. Wir hatten ein schönes Haus mit Garten in einem Vorort. Ein Holzgartenzaun begrenzte unser Grundstück, und liebevoll hatte ich einen Bauerngarten angelegt. Es duftete, je nach Jahreszeit, nach Rosen, Lavendel, Thymian und Jasmin. Er war mein ganzer Stolz und ein Ausgleich zu den anstrengenden Nächte und der Pflege der Kinder. Mittendrin auf dem Rasen haben eine Holzschaukel und ein Sandkasten gestanden, was für meine zwei Kleinen ein Paradies darstellte. Eine wundervolle Idylle, die plötzlich durch die Erkrankung meines damaligen Mannes zerrissen wurde.

      Richard erkrankte sehr schwer. Eine Welt stürzte für mich ein.

      »Ich muss Ihren Mann sofort auf die Intensivstation verlegen. Auf dem MRT-Bild erkennt man deutlich einen Gehirntumor.« Der junge Assistenzarzt hatte mir die niederschmetternde Diagnose auf dem Krankenhausflur der Notaufnahme übermittelt. Er starrte an mir vorbei.

      »Hätte ich Sie nicht zum MRT aufgefordert, nachdem Sie mir die Blutwerte zeigten und der LDL-Wert massiv erhöht ist, wären Sie nie auf die Idee einer MRT-Aufnahme gekommen. Bitte veranlassen Sie den sofortigen Transport nach Karlsruhe oder Mannheim. Hier bleibt mein Mann nicht.« Aufgebracht fuchtelte ich mit den Händen vor seinem Gesicht herum.

      »Wie Sie möchten. Es tut mir leid. Ich werde sofort telefonieren, wohin wir Ihren Mann verlegen können.« Mit eingezogenen Schultern wendete sich der junge Arzt ab und ließ die Tür während seines Telefonats offen.

      In Windeseile rief ich meine Eltern an, die bei uns zuhause auf die Kinder aufpassten. Mit meinem eigenen Auto und meinem Vater fuhr ich dem Krankenwagen hinterher, der auf dem Weg mit Richard in die Kopfklinik nach Mannheim war.

      Am nächsten Tag operierten die Ärzte sofort den Gehirntumor meines Mannes. Anschließend musste er für Wochen in eine Rehabilitationsklinik, aus der er frühzeitig entlassen wurde, um erneut operiert zu werden. Ich besuchte ihn regelmäßig, sprach mit Ärzten und hielt Kontakt mit unseren Freunden, die ebenso in die Reha-Klinik fuhren, um ihn zu besuchen. In dieser Zeit bin ich eindeutig über meine Grenzen gegangen, überlegte ich in diesem Moment meines Rückblicks. Durch enormen Stress und seelische Belastungen kann eine Krankheit, wie die Multiple Sklerose, ausbrechen. Diese Erkenntnis half mir jetzt aber nicht weiter. Denn es kam vor vier Jahren zum Supergau.

      Ohne Ankündigung zog Richard aus unserem Haus zu seinen Eltern und verschwand aus unserem Leben.

      Ein Familienkrieg zwischen uns und den Eltern meines Vaters entfachte, Richard krank und vom Charakter devot, fügte sich ihren Wünschen. Conny erzählte mir kurz vor ihrer Abreise: Es war kaum auszuhalten und ich flüchtete in meine eigene Welt. Meine ach so netten Großeltern, die ich gerne nur mit Vornamen anspreche, machten dir, Mama und somit auch uns, das Leben zur Hölle. Unser schönes Haus wurde verkauft und wir zogen in diese verhasste Dachwohnung, beengt und ohne Garten. Zum Glück hast du nicht mehr im Hallenbad als Putzhilfe gearbeitet, sondern bekamst zeitgleich eine Halbtagsstelle in deinem Beruf als MTA. Blöd waren nur die Nacht- und Wochenenddienste. Oma und Opa versorgten uns ja, wenn du arbeiten musstest, und wir übernachteten viele Abende bei ihnen. Das fand ich echt toll. Sie verwöhnten uns und waren echt ein Halt in dieser schweren Zeit …

      Das Familienleben mit Richard war zerbrochen und nichts war mehr wie vorher.

       °Conny°

      Der Anflug auf die Ostküste der USA und New York war unbeschreiblich. Auf dieser Seite der Erde war es erst 12:38 Uhr, aber ich gähnte mit den restlichen Passagieren um die Wette. In Frankfurt um 7:35 Uhr