Christian Manhart

Die Zeitgene


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musste er sich erst eine passende Theorie zurechtlegen. Diese Theorie galt es alsdann zu beweisen.

      Johanns Überlegungen gingen wie bereits erwähnt, von einer bedeutenden Funktionalität der verborgenen und bisher abgeschalteten und nicht genutzten Gene aus. Diese Gene wurden im Allgemeinen als Pseudogene bezeichnet. Die Wissenschaft ging bisher immer davon aus, dass diese abgeschalteten Gene nicht benutzt wurden, weil sie Beschädigungen aufwiesen oder sich nicht bewährt hatten. Vielleicht dienten sie auch als Reserve. Eine genau bewiesene Bestätigung für ihre wahre Bedeutung gab es nicht. Niemand war bisher auf die Idee gekommen, diese Pseudogene zu aktivieren. Alle gingen davon aus, dass derartige Aktivierungen keinen Sinn machten. Johann war hingegen überzeugt, dass sich die Gene, die sich sehr zahlreich in nahezu jedem Chromosom befinden, zu einem Zukunftsgedächtnis, wie er es nennen wollte, gehörten. Dieser bisher geheime Funktionsumfang würde ausschließlich Zeiträume betreffen, die vor dem jeweiligen Erlebten liegen.

      Er musste nur die dazugehörigen Steuergene finden. Das war das ganze Geheimnis der biologischen Baupläne. Alle Lebewesen und Pflanzen besassen dementsprechende Steuergene.

      Dazu stellte Johann folgende These auf:

      Alle Lebewesen verfolgen ein bestimmtes Verhaltensmuster. Nur Organismen mit einer ausgeprägten Persönlichkeitsentwicklung wie die höheren Säugetierarten, können durch ihren eigenen Willen diese eingeprägten Verhaltensmuster durchbrechen. Aber oft sind die freien Entscheidungen eben nur scheinbar frei. Meistens stecken Hormone dahinter. Und noch etwas: Je älter diese Lebewesen werden, desto berechenbarer und fester werden ihre Bewegungen und ihr Tun, ihre Abläufe. Jeder Mensch weiss, dass ihre Artgenossen im Laufe der Zeit Angewohnheiten entwickeln, an denen sie ihr Leben lang festhalten. Gewollt oder ungewollt ist in diesem Fall zweitrangig. Sie tun es und man kann es somit vorhersehen. Das würde bedeuten, es wäre sehr einfach im Voraus zu wissen, was der Einzelne tun wird. Genauso oder noch viel einfacher verhält es sich mit den Pflanzen und anderen niederen Tieren und Organismen. Alles Tun, jeder Schritt ist vorgegeben.

      Da alle anderen Akteure der Natur sich nach der ähnlichen, wenn nicht nach der selben Methode verhalten, wird die Zukunft eine Gleichung mit sehr vielen, aber relativ leicht berechenbaren Bekannten. Das Potential unseres Gehirnes wäre alleine von seiner theoretischen Rechenleistung her, locker in der Lage derartige komplizierte Zusammenhangsberechnungen anzustellen. Alleine fehlen uns hierzu die Möglichkeiten die Informationen unserer ,Mitspieler‘ aufzufangen und dementsprechend auszuwerten. Der Rest wäre nahezu ein Kinderspiel. Soviel die Theorie.

      Das heisst, die erste Gruppe von Genen, die er entdecken und aktivieren wollte, mussten die Informationssammler sein. Sie mussten dem Lebewesen, bei Bedarf eine Art multivisuelle Möglichkeit einräumen, die Signale zu empfangen. Vermutlich strahlen alle lebenden Organismen eine Art Telegramm aus. In diesem Telegramm dürfte der Plan des Lebewesens hinterlegt sein, was es in den nächsten Minuten oder Stunden, vielleicht auch Wochen oder Monate, zu tun gedenkt. Eine Pflanze verfolgt einen bestimmten Rhythmus der von ihren Genen gesteuert wird. Der Zyklus wird sich nie ändern, sondern nur die Geschwindigkeit und die Zeitpunkte. Man kann durch äußere Einflüsse zwar die Größe der Früchte beeinflussen, niemals aber die Abfolge von Knospenbildung, Blüte, Besamung und Ausbildung einer Frucht und so weiter. Zwar denken Planzen und Tiere nicht so wir Menschen, aber ihre Vorgehensweise ist damit von vornherein weitgehend festgelegt und nicht mehr zu ändern.

      Bei der Vorhersehung von Naturkatastrophen und Kriegen war sich Johann nicht sicher, wie die Informationen zustande kommen, um empfangen zu werden. Und doch dürfte sich aus einer Summe von Veränderungen ein Bild zusammensetzen lassen. Wenn sich etwas zusammenbraut, geschieht dies niemals von einer Minute auf die andere. Es gab immer Vorzeichen, oftmals nur kleine, kaum wahrnehmbare Veränderungen. Ein Mensch mit einem Zukunftsgedächtnis ausgestattet, müsste aus der Summe der Veränderungen, ungewöhnliche Ereignisse in der Natur terminieren können. Das wäre das Ziel solch einer Funktion.

      Aber wir Menschen sind natürlich etwas ganz Besonderes. Wir stehen nach wie vor an der Spitze der Entwicklung. Und doch verstehen wir uns oft selbst nicht ganz. Wie unsichtbar werden wir immer noch geleitet von Hormonen und von unserem Unterbewusstsein. Auch der Mensch handelt nach Plan. Unsere Spontaneität und Kreativität ist nach Johanns Theorie reine Einbildung. Wir wissen genau was wir jeweils vorhaben. Nur wenigen Personen gelingt es von ihrer festen Programmierung abzuweichen. Dazu gehört eine enorme Willenskraft. Bei Extremsportlern werden diese Ausnahmesituation des Öfteren beobachtet. Aber bei allen anderen wird nach Plan gehandelt, der oft bereits auf Jahre hinweg vorgegeben ist. Ohne es wirklich wissen zu wollen, sind sich immer wieder Leute im Klaren darüber, wann sie krank werden oder sterben werden. Doch die Angst davor, lässt solche Gefühle immer wieder in der Tiefe des Unterbewusstseins verschwinden. Die Vorhaben und Vorsätze mit den man morgens aufsteht und dann doch nicht durchsetzt, sind ein weiteres Beispiel. Wir können einfach nicht anders.

      Daher sind die Menschen immer wieder Rat- und fassungslos wenn sie hinterher begreifen müssen, was sie eigentlich getan haben, oder was sie, ‚geritten‘ hatte. Johann ist überzeugt davon, dass solche Ausbrüche, Taten und diverse von Gefühlen geleitete Handlungen durch ein Zukunftsgedächtnis auch von Außenstehenden rechtzeitig erkannt werden können.

      Noch ein Beispiel: Würde ein Mensch mit diesen Fähigkeiten ausgestattet sein, wäre es möglich folgende Situation vorherzusehen:

      Während sich eine Person vornimmt, zu einem Ziel zu gehen und dabei mehrere Strassen überquert, könnte man ein Fahrzeug identifizieren, dass diese Person wenig später überfahren wird. Die Informationen von Fahrzeuglenker und Unfallopfer, sowie die der pflanzlichen Umwelt würden ausreichen, um daraus eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeitsberechnung durchzuführen. Vor dem geistigen Auge könnte der Zukunftsehende, das Geschehnis wie einen Film vor seinen Augen ablaufen lassen. Das Gehirn oder das Nervenzentrum sendet dafür die Signale in Form von winzigsten elektronischen Strahlen aus. Das ist keine reine Theorie oder Wunschdenken. Schon oft wurden unerklärliche elektrische Felder bei Testpersonen und Versuchstieren gemessen. Leider konnte bisher mit diesen eigenartigen Feldern niemand etwas anfangen. Das sollte sich nach Johanns Meinung bald ändern.

      Die der Wahrscheinlichkeit nach wesentlich größere Gruppe von Genen, dürften jedoch diejenigen Gene sein, die die dafür nötige geistige Intelligenz ermöglichen, um mit dieser Informationsflut überhaupt erst fertig zu werden. Um es technisch zu benennen: Welches ungeheure Analyseprogramm wäre nötig, um hier alleine, beispielsweise die Kurzzeit von der Langzeit zu trennen. Wie weit und tief würden die Fähigkeiten des Gehirns reichen, um etwas Sinnvolles mit dem Wissen anfangen zu können? Die Gehirne von hoch entwickelten Säugern waren theoretisch dafür ausgelegt diese Rechenleistung bei Aktivierung der richtigen Gene zu erbringen.

      Es gab und gibt Thesen nach denen das Gehirn des Menschen nur zu etwa 10 Prozent ausgelastet sei. Das ist natürlich nicht richtig. Richtig ist vielmehr, dass es nicht nötig ist, alle Bereiche diese komplexen Organs ständig durch Aufgaben auszulasten. Der Energieverbrauch des Menschen wäre dementsprechend um ein vielfaches höher. Diesen Umstand musste Johann unbedingt bei seinen Überlegungen berücksichtigen. Eventuell müsste man mehr Fleisch und andere proteinreiche Nahrung zu sich nehmen.

      Für die Aufgaben die der Mensch zu bewältigen hat, reichen im Mittel etwa 10 - 30 Prozent der theoretisch möglichen Leistung.

      Würde es Johann gelingen die Zeitgene zu aktivieren, dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit nach, der Sauerstoffverbrauch und der Energiebedarf des Gehirns etwas erhöhen. Möglicherweise hätte die volle Nutzung des Zukunftsgedächtnisses und seiner Rechenleistung, Einfluss auf andere Aufgaben des Gehirns. Vielleicht wären diverse andere motorische Fähigkeiten nicht gleichzeitig möglich. Auch auf anstrengende Bewegungen der Muskeln, zum Beispiel beim Sport, oder Konversationen, künstlerische oder auf handwerkliche Betätigungen, müsste man mit Sicherheit verzichten, während man den Blick in die Zukunft riskiert.

      Genau hier begann aber Johanns Theorie zu wackeln. Wo setzte denn die Natur eigentlich ihre Grenzen? Bei welchem Wert würde die Grenze der Auslastung erreicht werden? Würde das Gehirn eines Säugers dauerhaft in der Lage sein, diese Informationsflut zu verarbeiten? Und die Kernfrage lautete: Wie würde man das Ganze steuern