Ulrike Minge

Obscuritas


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wir uns hier noch einmal wiedersehen, sodass ich Sie dann in unseren Plan einweisen kann. Kommen Sie in drei Tagen zur frühen Nachmittagsstunde wieder hier hinunter in die Katakomben! Ich bitte Sie im Namen aller, deren Schicksal auf dem Spiel steht“, sprach er und drehte sich hektisch zur Steinwand um, durch die er im Bruchteil einer Sekunde entschwand.

      Margret stand verwirrt in dem kalten Raum und achtete auf das kleinste Geräusch. Doch es herrschte Totenstille.

      Über dieses ungewöhnliche Gespräch hatte sie die Zeit vollkommen vergessen. Sie rannte mit der Kerze in der Hand, deren Flamme zu erlöschen drohte, die Treppe hinauf, sich einredend einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.

      Oben angekommen zeugte jedoch nichts von ihrer unerlaubten Abwesenheit. Sie zog sich unbemerkt in ihr wohlig warmes Dachzimmer zurück, das ihr wie eine paradiesische Insel vorkam, nachdem sie das feuchte Gewölbe verlassen hatte. Sie setzte sich auf das Bett, das ein leises Knarren von sich gab und zwang sich tief durchzuatmen.

      Dies war eines ihrer Rituale, was sie immer dann anwandte, wenn eine Geschichte in ihren Büchern zu nervenaufreibend war. Danach schien ihr alles leichter zu fallen.

      Als Margret jedoch den letzten Atemzug getan hatte, löste sich ihre Anspannung nicht. Ihre Muskeln zitterten vom Rennen und in ihrem Kopf war immer noch die Erinnerung an den grünen Käfer, der sich ihr in dem Gewölbe im Kerzenlicht vorgestellt hatte und sie bat, in drei Tagen ein weiteres Mal hinabzusteigen. „Das kann doch nicht sein, ich muss geträumt haben“, murmelte Margret vor sich hin und strich mit den Fingern über die Stirn. „Du wirst verrückt, liest zu viele Bücher und kannst die Realität nicht mehr von der Phantasie unterscheiden!“

      Mit diesen Worten schüttelte Margret heftig ihren Kopf, sodass ihre Haare herumflogen, als versuchte sie die Erinnerung so aus ihrem Gedanken zu vertreiben.

      Kapitel 4

      FREDRIK

      Am darauffolgenden Tag hatte Margret kein Glück, dem Unterricht mit Master Crispin zu entkommen.

      Es war furchtbar langweilig während der Stunden. Auf dem Plan stand Geschichte und Margret wusste von vornherein, dass die Zeit heute zäh vorbeifließen würde.

      Sie fühlte sich, seit sie Platz genommen hatte, in dem Raum gefangen, in dem die Luft vor Hitze stand.

      Die Langeweile, die Margret beschlich, lähmte förmlich ihre Gedanken. Sie hörte nur Bruchteile dessen, worüber Master Crispin philosophierte. Es waren die Königskriege, so viel wusste sie. Doch um welche Schlacht es sich diesmal handelte, war an ihr vorbeigezogen. Master Crispin entstammte einer ehrwürdigen Familie. Kampfesmut war nie in seinen Adern geflossen, um in die Fußstapfen seines Vaters Louis Crispin treten können, doch seine Passion fand er im Studium der Geschichte und Sprachen.

      Einige Wortfetzen drangen Margret ans Ohr und drängten sich in ihre Gedanken: „Ich kann somit direkt von den Vorkommnissen am grauen Berg und den Kranichanhöhen berichten. Über Anfang, Verlauf und Ausgang, jeweils aus den Blickwinkeln der beteiligten Mächte. Dieses Tagebuch“, dabei hielt Master Crispin ein zerschlissenes in braunes Leder gebundenes Buch in der linken Hand nach oben, was seine These untermauern sollte, „ist das achte Buch aus den Memoiren meines Vaters über das Herrschertum des erbarmungslosen Grafen. Eine Zeit“, er holte tief Luft, „in der die Grundsteine für die Kriege gelegt wurden. Und auch sie Fräulein Choclair werden die Königskriege und die damit verbundenen Finten und Intrigen kennen lernen. Ein spannenderes Thema kann ich mir nicht vorstellen.“ Damit schloss er seinen Vortrag fürs Erste ab, drehte sich zu der zerkratzten Schiefertafel um und begann Unmengen von Jahreszahlen niederzuschreiben.

      Doch Margret, obwohl sie auch einer caesarischen Familie entstammte, konnte sich nicht dafür begeistern. Sie wusste, dass die Königskriege ausgebrochen waren, weil die Menschen sich von den Caesariern unterdrückt fühlten. Sie glaubten, Müßigkeit war in die Herzen der Caesariern eingekehrt und lähmte deren Gedanken, sodass sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllten. Sie wollten aufbegehren, selbst den Schutz des Universums übernehmen, doch sie vergaßen dabei, dass ihnen die Kraft fehlte, die den Caesariern mit ihrer Geburt verliehen wurde. Margret wusste um die Blutbäder, die veranstaltet wurden, in denen Willensstärke gegen verliehene Kraft kämpfte. Während Master Crispin weiterhin die Tafel füllte, konnte sie wieder ihren eigenen Gedanken folgen.

      Sie erdachte lieber ihre eigenen Geschichten, wollte nichts von Crispins Umschreibungen der Schlachtszenen wissen und ließ ihre Gedanken davonfliegen, auf der Suche nach Abenteuern. Sie landete bei Harriet im Botanikum. Harriet war eine Pflanzenkundige, eine Frau deren Wissen auf Heilkräften der Natur beruhte. Oft schon hatte Margret versucht, sie nach ihren Fähigkeiten auszufragen, woraufhin sie ihr nur mit einem Lächeln geantwortet hatte, dass ihr um den Mund spielte.

      Sie hatte sich in ihrem Haus, das schräg gegenüber des Hauptgebäudes lag, ein beschauliches Gewächshaus angelegt, in dem alle nur erdenklichen Kräuter in den Beeten wuchsen und ihren betörenden Duft verbreiteten. In den Gängen und Räumen des Anwesens standen auch Pflanzen und sie sah Albert oft dabei zu, wie er sich liebevoll um sie kümmerte, die grünen stummen Lebewesen hegte und pflegte, sodass sie wundervolle Blüten hervorbrachten. Aber so herrlich wie in Harriets Botanik, war es nirgends.

      Margret besuchte Harriet oft in dem Paradies. Auf den Blüten und zwischen den Blättern lebten Insekten und prächtige Schmettlerlinge, Könige der Lüfte, mit breiten Schwingen, viel größer als die Nachtfalter, die draußen gegen die Laternen flogen. Die Schmetterlinge mit den weiten Schwingen lebten schon mehr als zwanzig Jahre. In dieser Zeit entwickelt sich die anfangs blasse Farbzeichnung zu immer farbenprächtigeren Mustern.

      Nur dort drinnen konnte Margret sehen, welch eine Farbenpracht vor ihrer Geburt draußen herrschte. Gegenwärtig waren alle Töne der Pflanzen draußen matt. Gewächse, die jetzt noch im Freien überlebten, waren teils imposant, teils unscheinbare Nachtschatten, die nicht auf Sonnenlicht angewiesen waren. Jene Pflanzen, die seit der Dunkelheit überlebt hatten, hatten eine schnelle Metamorphose durchlebt und sich an die lebensbedrohlichen Umstände angepasst.

      Besonders faszinierten Margret aber die caesarischen Gewächse, die den einzelnen Dynastien der Königwesen zugedacht waren.

      Sie waren atemberaubend schön und gefährlich zugleich.

      Margret beneidete Harriet, an diesem wundervollen Ort leben zu können, und zog ihre Gedankenfühler wieder zurück durch die Dunkelheit in das helle, warme Studienzimmer im Ostflügel.

      Sie beschloss Harriet nach dem Unterricht zu besuchen und zu schauen, ob eine neue Pflanzenart zu bestaunen war.

      Die letzten beiden Stunden vergingen noch zäher und Margret stürmte aus dem Zimmer, ohne auf die rufende Stimme des Masters zu achten, der entweder zur Vorsicht ermahnte oder ihr eine Studienaufgabe hätte erteilen wollen. Sie wusste, dass sie nie um diese Aufgabe herumkommen würde, doch für heute war es überstanden.

      Harriet begrüßte Margret schon, als sie über den Rasen eilte und lud sie zu Tee und Kuchen ein. Sie setzten sich in das Botanikum, das mit Kerzen beleuchtet war. Die Blüten verströmten einen betörenden Duft. Margret liebte es, wenn Harriet, wie ihre Mutter, Geschichten von früher erzählte.

      Manchmal sah sich Margret in einem der schönsten Kleider und einem mit Blumen besetzten Hut auf einer Wiese sitzend, saftig grünes Gras bedeckte einen Hügel und fühlte sich wie ein weiches Polster an. Kleine bunte Tupfen waren zwischen den zarten Grashalmen zu erkennen und gaben sich beim näheren Hinsehen als verzückende Blümchen zu erkennen. Ihre Farben waren so vielfältig, wie die Form ihrer Blütenblätter. Harriet erzählte, dass manche von ihnen auf unterschiedliche Pfeiftöne reagierten, sodass sie ihre Köpfe zu den Lauten reckten.

      Doch am meisten liebte Margret die Flora Florinnae. Ihre Lieblingsblume, eine elegante Blüte aus dem Geschlechte der Bella Florinnae, die schon damals von Caesariern wegen ihrer Schönheit verehrt wurde und einst die Blüte der Choclairs war. „Grazil und anmutig regte sie, wenn die Sonne schien, ihr Haupt zum blauen Himmel. Ihr entschwebte ein Duft, dem keine Biene widerstehen konnte“, erzählte Harriet.

      „Jedoch das geheimnisvollste, was sie umgab, war