Ulrike Minge

Obscuritas


Скачать книгу

zu können. „Hubertus“, flüsterte sie in die Stille hinein, „Hubertus von Marbius, sind Sie hier irgendwo?“

      „Herr von Marbius, ich bin es: Margret“, fügte Margret leise hinzu. Da kam ein leises Knistern aus der Ecke, aus der schon vorgestern das Geräusch zu vernehmen gewesen war.

      Hinter den Kartons erspähte Margret ein zartes Leuchten, das hinter den Kartons umherhuschte.

      Es war der maigrüne Smaragdkäferlinger Hubertus, der sich seinen Weg auf den obersten Karton suchte und wenige Augenblicke später auf dem braunen Deckel einer staubigen Pappschachtel saß. „Miss Margret, wo waren Sie? Wir hatten uns doch vorgestern zur gleichen Zeit hier unten verabredet“, setzte Hubertus Margret vorwurfsvoll entgegen.

      „Entschuldigen Sie bitte, Herr von Marbius! Es war nicht meine Absicht unsere Verabredung zu verpassen. Ich sitze an einer Hausarbeit und habe darüber die Zeit völlig vergessen“, antwortete Margret peinlich berührt. „Sie haben wenigstens das Signal gehört, das ich Ihnen zusandte. Und Margret, nennen Sie mich bitte Hubertus.“ „Dann bitte nur Margret“, unterbrach sie den Smaragdkäferlinger.

      „Es gibt vieles, das ich dir erklären muss. Die Reichweite der geschehenen und kommenden Dinge ist kaum zu erfassen.“, führte Hubertus seinen Gedanken fort.

      Ohne eine weitere Andeutung oder Erklärung krabbelte er auf Margret zu und hinterließ deutliche Spuren im alten Staub.

      Am Rand des Deckels angekommen, schaute er zu Margret auf, wobei seine Leuchtkugeln an den Antennen wippten und von einem Grün in ein Petrol wechselten. „Du musst mich auf deine Schulter nehmen. Es ist wichtig, dass ich möglichst nah an deinem Ohr sitze. Du musst meinen Anweisungen unbedingt Folge leisten. Wir haben es mit Mächten zu tun, bei denen wir es uns nicht leisten können, sie auf uns aufmerksam zu machen oder ihnen gar zu begegnen“, sagte Hubertus, der nicht unverhoffter in Margrets Leben hätte treten können und sich mit drei kräftigen Flügelschlägen auf Margrets Schulter niederließ. Kleine weiße Adern zogen sich über die Schwingen. Seine pergamentenen Flügel falteten sich ebenso geräuschlos und schnell wieder zusammen, wie sich entfaltet hatten, um den kleinen Körper in die Lüfte zu heben.

      Hubertus sprach in Rätseln, seine Andeutungen brachten Margret jedoch dazu keine Fragen zu stellen. „Hör mir gut zu. Schiebe die Kartons zur Seite, jene die dort an der hinteren Wand gegenüber des Ausganges stehen.“

      Margret war verwirrt, doch sie tat wie Hubertus ihr gesagt hatte und räumte die vielen vollen Kartons von dort zur anderen Seite, sodass nach einiger Zeit die pechschwarze Wand zum Vorschein kam. Margret stellte sich davor und strich gedankenverloren über das Gestein. Es fühlte sich glatt und kalt an, kalt wie schwarzes Eis.

      „Das war es, was du mir zeigen wolltest, eine nackte kalte Wand?“, fragte Margret etwas spöttisch. Doch irgendetwas hielt ihren Blick an der Wand gefangen.

      „So, jetzt ist es an Dir den Zauber zu brechen und zu beweisen, dass du der Choclair-Blutlinie entstammt.“

      „Ich versteh‘ nicht recht“, antwortete Margret.

      „Stell dich direkt vor die Wand, auf den Stein mit dem Zeichen der Choclair-Familie, heb die rechte Hand und berühr den großen Stein.“

      Erst jetzt schaute Margret auf den Boden und sah dort in Stein gebannt jenes Zeichen, dass ihr Vater hinter seinem Ohr trug.

      Margret stellte sich auf den Steinquader im Fußboden und hob ihre rechte Hand, sodass sie die Wand mit ihrer Handfläche berührte. In diesem Moment zuckte ein Strom durch sie hindurch, er durchzog sie wie ein Blitzschlag.

      Ein beängstigendes, aber elektrisierendes Gefühl ging durch ihren Leib und ein starkes Brennen hinter ihrem rechten Ohr ließ sie für einen Wimpernschlag Dunkelheit vor ihren Augen aufziehen und sie zusammenzucken. Von weit her hörte sie die Stimme von Hubertus und so viele andere unbekannte Stimmen, die sie alle nicht kannte und die ihr etwas ins Ohr flüsterten. Es fiel ihr schwer Hubertus darunter auszumachen.

      „Margret, sei tapfer! Du bist eine Erbin der Choclair-Familie. Nehm die Hand nicht von der Wand, nur mit all deiner Kraft, wird sie sich öffnen.“

      Unter ihrer Hand verlor die Wand an Farbe. Bis ein heller wallender Vorhang vor ihr hing, den sie ohne Probleme durchschreiten konnte.

      „Geh hindurch, dir wird dahinter nichts geschehen.“

      An der Stelle, an der sie den Stoff berührte, begann ein Leuchten ihre Hand zu umfließen. Sie steckte ihre Hand in das Licht, jeder Zentimeter ihrer Haut erfror für den Bruchteil einer Sekunde, bis ihre Hand auf der anderen Seite herausreichte. Danach schob sie ihren elektrisierten Körper samt Käfer auf der Schulter hinterher. Durch die Kälte fühlte sich plötzlich wie betäubt, ihr Atem stockte und der Boden wurde unter ihren Füßen weggezogen. Kurze Zeit später trat sie auf der anderen Seite in einen Raum, wiederum nur erleuchtet von der Kerze, die Margret in ihrer linken Hand umklammerte. Sie ließ den Blick schweifen, nachdem sich ihre Augen geklärt hatten.

      Dieser Raum glich einer Höhle. Die Wände waren gleichermaßen aus schwarzem Gestein, jedoch nur grob beschlagen.

      An den glatten Stellen wurde das Licht reflektiert, wie in einem Spiegel und zauberte bizarre Formen auf die Wände. Alles glich einem kubischen Gemälde.

      „Wohin hast du mich geführt, Hubertus?“

      „Dorthin, wo unsere Reise ihren Anfang nehmen wird“, antwortete der grüne Käferlinger.

      Kapitel 6

      DAS TOR

      Wenn Margret es nicht besser gewusst hätte, es nicht am eigenen Leib gespürt hätte, durch eine steinerne leuchtende Wand geflossen zu sein, hätte sie geglaubt, in einem der realsten Träume ihres Lebens zu sein.

      Doch sie stand, in der linken Hand die flackernde Kerze, den Käfer Hubertus auf ihrer Schulter sitzend und festen Boden unter den Füßen spürend, in der riesigen Höhle.

      „Es wird nicht leicht.“

      „Was meinst du?“, wandte sich Margret an Hubertus und drehte ihren Kopf leicht in seine Richtung, um ihn aus dem Augenwinkel zu erspähen.

      „Wir sind noch nicht am Ziel unserer heutigen Reise.“

      Margret wusste nur mit einem Kopfnicken zu antworten.

      „Du musst ein Tor am anderen Ende eines Sees erreichen, der sich vor Jahrhunderten gebildet hat. Ein Weg aus eingesunkenen Steinen wird dir den Weg an das sichere Ufer weisen“, sprach Hubertus und erhob sich in die Luft. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. „Margret, du musst diesen Teil der Strecke alleine zurücklegen. Ich erwarte dich am Tor.“

      Er flog nahezu lautlos davon, bis Margret seine Leuchtkugeln nicht mehr sehen konnte.

      Margret stand betäubt und verlassen mit der Kerze in der Hand, die zuckende Schatten auf den Boden warf. In ihrem Kopf gab es nur noch einen einzigen Gedanken.

      Zurück!

      Es gab nur noch einen Weg, den sie gehen wollte.

      Tausende Stimmen schrien wieder in ihrem Kopf.

      Am lautesten die Angst.

      Sie drehte sich auf ihren Füßen schwungvoll um, wollte durch die leuchtende Wand zurück, prallte aber hart mit ihrem Körper gegen kalten Stein.

      Es war kein Schmerz, der in ihrem Körper explodierte, sondern der Bruchteil einer Sekunde, die ihr klar machte, dass es keinen Rückweg für sie gab. Der Durchgang war verschlossen, Rabenschwärze gähnte sie mit ihrem aufgerissenen Maul an, als sie sich wieder umdrehte.

      Kein Durchkommen!

      So schnell veränderten sich ihre Optionen und kehrten sich in das Gegenteil um.

      Margret versuchte sich krampfhaft an die Worte des Smaragdkäferlingers zu erinnern, doch nur Wortfetzen ließen sich in ihrer Erinnerung finden.

      „Hubertus!“, schrie sie voller Panik in die Dunkelheit hinein. Verstummte