Ulrike Minge

Obscuritas


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ausmachen können.

      Nur eins haben sie in den Monaten, die verstrichen und in denen sich das Problem verschlimmerte, entdecken können:

      Handelt es sich um ein derart episches Ausmaß einer Katastrophe wie jetzt, so bleibt uns nur ein Weg, unsere Suche zu beginnen, am Anfang und Ende aller Dinge: in der Unterwelt oder auch Schattenheim, Hades, Helheim, Tuonela, Xibalbá.

      Es ist letztendlich egal, wie wir diesen Ort auch nennen mögen. Es ist der Ort der Schattentoten. Ein Ort, an den als lebendes Geschöpf zu gelangen ein unmögliches Unterfangen ist, denn nur wer als reine Seele reist, wird mit dem Bootsmann über den Fluss Urnardon zum Eingang von Schattenheim gelangen.

      Nicht das luftige wolkige strahlende Himmelsreich, das uns von so manchen verträumten Poeten erklärt werden soll oder jenen, denen der Mut für Dunkelheit und Einsamkeit fehlt.“

      Margret fühlte sich taub, alles war taub ihre Ohren, ihr Körper, ihr Herz. In ihrem Kopf hallte immer und immer wieder nur ein Wort wider, wie in einem großen leeren Raum: Unterwelt, Unterwelt, Unterwelt.

      „Hubertus, was meinst du mit Unterwelt?“ Ihr wurde die Bedeutung des Wortes nicht bewusst.

      Natürlich glaubte Margret an ein Leben nach dem Tod, doch eher als erleuchtete Gestalt mit Flügeln und nicht gehüllt in eine schwarze Kutte in der ewigen Dunkelheit.

      Sie liebte die antiken Geschichten der griechischen Mythologie, doch nie hatte Margret es sich träumen lassen, dass ein solcher Ort wie die Unterwelt existierte.

      Natürlich gab es, seit Margret sich erinnern konnte, viele außergewöhnliche Dinge in ihrem Leben, doch nun zu akzeptieren, dass die Unterwelt aus so vielen Büchern wirklich existierte, war im Augenblick viel verlangt.

      „Margret“, fuhr Hubertus an sie gewandt fort, „dies ist nur der erste Teil unserer Aufgabe, die zu erfüllen unser aller Überleben bestimmen wird. Es gibt einen bestimmten Grund, weswegen genau du diese Reise mit uns antreten wirst.

      Du bist etwas Besonderes.

      Denn hingegen mancher Gerüchte, bist du die Einzige Eurer Art: Du bist zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Königswesen.

      Dein Mal hinter Eurem rechten Ohr kennzeichnet dich eindeutig als ein Mitglied der ältesten Königswesenfamilie und zeigt, dass du von hohem Geblüt bist.“

      In diesem Moment hob Margret ihre Hand unbewusst zu ihrem Ohr, sodass sie sich kurz erschreckte, als sie über ihre Schulter in einen der Spiegel blickte und das dunkelblaue Mal eindeutig als jenes ihres Vaters wiedererkannte.

      In diesem Moment fiel ihr die Geschichte eines Waisenmädchens aus London ein, das ebenso in ein ungeahntes Abenteuer hineingerutscht war. Margret dachte immer, es sei eine erfundene Geschichte, sie konnte sich immer gut mit ihr identifizieren. Doch nun musste sie erkennen, dass der Teil der Erzählung, der sich um die vielen mysteriösen Orte rankte, zumindest der Wahrheit entsprach. Dass man wirklich an Orte, wie den Hades, reisen konnte, überflutete sie mit ungreifbaren Gefühlen. Zuerst die Offenbarung einer Reise an solch einen Ort, der sich kilometerweit unter der Erde befand, dann diese beiden Käferlinger, die Unterwelt und nun dieses Ornament, das sie sich doch seit langer Zeit herbeigesehnt hatte, das jetzt leuchtend blau hinter ihrem Ohr auf ihrer blassen Haut flammte.

      Kapitel 9

      DIE GROSSE HALLE

      Nachdem Hubertus und Prinz Hartolius ein paar Worte gewechselt hatten, weckten sie Margret aus der Gedankenspirale, in der sie seit Hubertus‘ Erklärung gefangen zu sein schien.

      „Margret, ich bitte dich nun, dich zu erheben und mir ein weiteres Mal zu folgen. Diesmal wird uns der Prinz begleiten. Er wird uns den Einlass zu den Katakomben dieses Schlosses ermöglichen. Wir müssen weit hinabsteigen, Ihr werdet es gleich sehen“, sprach Hubertus, wandte sich Margret zu und bedeutete ihr sich zu erheben.

      Verwirrt erhob sich Margret von ihrem Stuhl, drehte sich in die Richtung, aus der sie ursprünglich diesen Raum betreten hatte, doch Hubertus und der Prinz nahmen einen anderen Weg hinaus.

      Eine alte Eichenvitrine, unscheinbar in der Ecke, schob sich wie von Geisterhand von ihrem Platz zur Seite und offenbarte dahinter in der Wand ein düsteres Loch.

      Hubertus und Prinz Hartolius glitten in die Finsternis und Margret stand für einen kurzen Moment regungslos allein in dem Beratungszimmer und strauchelte dann mit schweren Beinen den Smaragdkäferlingern hinterher in die Dunkelheit.

      Dieser Gang erinnerte sie an den Weg in den Keller.

      Etwas weiter hinten hingen in einfachen Eisenfassungen Holzfackeln mit lodernden Flammen, die in den Gang, bei Öffnung der geheimen Tür, tanzende Schatten zauberten. Nach ein paar Lidschlägen und Augenzwinkern hatten sich Margrets überrumpelte Augen an die Umgebung gewöhnt und sie eilte den Käferlingern hinterher, deren Farben völlig andere Nuancen angenommen hatten. Schräg führte der Gang abwärts, bis Margret schließlich Hubertus und Prinz Hartolius eingeholt hatte und sie vor einer dunklen Treppe standen, die sie hinab in noch schwärzere Dunkelheit führte. Die Geräusche, die in den engen Gängen von den kratzenden Füßen der Käferlinger widerhallten, erzeugten von Zeit zu Zeit eine Gänsehaut auf ihrem Nacken und ihren Unterarmen.

      Lange stiegen sie die schrägen Treppen hinab, die mit den Jahren schon einige Besucher gesehen haben mussten, die diesen geheimen Gang genutzt hatten, um vor Angreifern zu flüchten oder heimlich diesem Schloss zu entfliehen.

      Der Weg, den sie genommen hatten, endete nach dem Abstieg in einem ebenso langen Gang, der sie zur Treppe hingeführt hatte, bis sie auf einen Torbogen zusteuerten, der in dem schummrigen Licht wie ein gleißender Eingang zum Himmel wirkte. Der Raum, den sie betraten, war eine riesige Halle, ein Forschungslabor. Als Margret den Blick schweifen ließ, erblickte sie mehrere Apparaturen, die zur Messung ihr unbekannter Parameter dienten. Das hektische Treiben nahm auch keinen Abbruch als Margret, Hubertus und der Prinz die Halle betraten, nur eine kurz angedeutete Verbeugung in Richtung des Prinzen unterbrach kurzfristig den Weg der Smaragdkäferlinger, die emsig durch die Gegend liefen.

      Hubertus führte sie durch diese Anhäufung von Gerätschaften in einen abgetrennten Raum.

      Abgehangen mit einem stoffähnlichen Material, eröffnete sich vor Margret ein Bereich, der vollgestellt war mit aufgespannten, pergamentartigen Landkarten, deren Farben mit der Zeit schon abzublättern drohten. Auf zahlreichen Tischen stapelten sich große und kleine Pergamentrollen, mit und ohne Siegel, die eindeutig ihre edle Herkunft preisgaben.

      An der hinteren Wand hing eine in die Jahre gekommene grüne Schiefertafel, ähnlich der, die Master Crispin immer so voller Inbrunst mit Geschichtszahlen füllte. Nur das diese, um einiges größer war, als jene, die sie kannte.

      Der Smaragdkäferlinger, der in diesem kleinen Reich herum wuselte, schien ein ebenso in die Jahre gekommener Käferlinger zu sein. Woran sie dies fest machte, wusste sie selbst nicht genau, jedenfalls war dieser, keiner von jenen älteren Geschöpfen, die einen grauen langen Bart trugen und Uhuaugenbrauen hatten. Es war eine Aura von Ehrfurcht und Wissen, die ihn umgab. Nur eine kleine goldene Brille, die er trug, passte in dieses Klischee und machte ihn zu einem derartigen Gelehrten, dem ein Zuhörer wie gefesselt an den Lippen hängt. In dem Moment in dem Margret ihn musterte, drehte er sich zu den Besuchern um, begrüßte sie sogleich mit einem gütigen Lächeln und eilte die wenigen Schritte auf Margret und Hubertus zu.

      „Margret, darf ich vorstellen: dies ist unser geschätzter Archimederius“, setzte Hubertus zu einer Bekanntmachung an. „Er ist unser weisester Gelehrter und wir können uns glücklich schätzen, ihn bei uns zu haben.“

      „Ich fühle mich geehrt, Euch kennen zu lernen, Herr Archimederius“, entgegnete Margret etwas unbeholfen.

      „Hallo Margret, schön dich zu treffen, mein Kind“, entgegnete Archimederius warmherzig der neuen Bekanntschaft.

      „Und es ist auch schön, dich einmal wieder zu sehen, Magnus. Seit du dein Studium vor einigen Jahren beendet hast, sieht man dich hier unten seltener als einen Sonnenstrahl“, setzte Archimederius Magnus in