Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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am Abend umher, ohne die geringste Spur von ihm zu entdecken. Sie konnten nicht anders glauben, als daß das alte Boot gesunken sei und das Kind tot auf dem Grunde des Sees liege.

      Am Abend wanderte Per Olas Mutter am Ufer des Sees umher. Alle anderen waren überzeugt, daß der Kleine ertrunken sei, nur sie konnte es nicht glauben und fuhr fort zu suchen. Sie suchte zwischen Röhricht und Binsen, sie ging an dem sumpfigen Ufer hin und her, ohne darauf zu achten, wie tief sie einsank, oder wie naß sie schon war. Sie war unsagbar verzweifelt. Es stach und nagte in ihrem Herzen. Sie weinte nicht, aber sie rang die Hände und rief mit lauter, klagender Stimme nach ihrem Kinde.

      Rings umher hörte sie Schwäne und Enten und Brachvögel schreien. Es war ihr, als folgten sie hinter ihr drein, und als klagten und jammerten auch sie. »Sie haben auch wohl Kummer, da sie so klagen,« dachte sie. Aber dann besann sie sich. Es waren ja nur Vögel, die sie hörte. Die hatten wohl keinen Kummer.

      Es war merkwürdig, daß sie nicht verstummten, jetzt, wo die Sonne untergegangen war. Sie hörte, wie alle diese zahllosen Vogelscharen, die am Tåkernsee lebten, einen Schrei nach dem andern ausstießen. Mehrere von ihnen folgten ihr auf Schritt und Tritt, andere kamen mit hastigem Flügelschlag vorbeigesaust. Die ganze Luft war angefüllt von Klage und Jammer.

      Aber die Angst, die sie selber empfand, öffnete ihr das Herz. Sie fand, daß sie allen den anderen lebenden Wesen gar nicht so fern stand, wie dies sonst bei den Menschen der Fall ist. Sie verstand viel besser als je zuvor, wie den Vögeln zumute war. Sie hatten ihre ständigen Sorgen für Haus und Kinder, ganz so wie sie. Es war wohl kein so großer Unterschied zwischen ihnen und ihr, wie sie bisher geglaubt hatte.

      Da mußte sie daran denken, daß es so gut wie beschlossen war, daß alle die Tausende von Schwänen, Enten und Lummen ihre Heimat hier am Tåkernsee verlieren sollten. »Das wird schwer genug für sie,« dachte sie. »Wo sollen sie dann ihre Jungen aufziehen?«

      Sie blieb stehen und verfiel in Sinnen. Es konnte so aussehen, als sei es ein gutes und wohlgefälliges Werk, einen See in Äcker und Wiesen zu verwandeln, aber das mußte wohl ein anderer See als der Tåkern sein, ein See, der nicht so vielen Tausenden von Tieren zur Heimat diente.

      Sie dachte daran, daß am nächsten Tage die Trockenlegung des Sees endgültig beschlossen werden sollte, und sie fragte sich, ob wohl deswegen ihr kleiner Junge gerade heute verschwunden war. Ob es vielleicht Gottes Absicht sei, gerade heute ihr Herz der Barmherzigkeit zu erschließen, ehe es zu spät war, die grausame Handlung zu verhindern?

      Sie kehrte schnell auf den Hof zurück und sprach mit ihrem Mann über dies alles. Sie sprach von dem See und von den Vögeln und sagte ihm, sie glaube, Per Olas Tod sei eine Strafe, die Gott über sie beide verhängt habe. Und sie merkte bald, daß ihr Mann derselben Ansicht war wie sie.

      Das Gehöft, das sie besaßen, war schon vorher groß, kam aber die Trockenlegung des Sees zustande, so würde ihnen ein so großes Stück von dem Seegrunde zufallen, daß sich ihr Besitz ungefähr verdoppelte. Weshalb waren sie auch eifriger für das Unternehmen gewesen als irgendein anderer der Grundbesitzer. Die andern hatten die Ausgaben gescheut und befürchtet, das Trockenlegen werde nicht besser gelingen als das letztemal. Per Olas Vater wußte sehr wohl, daß er sie schließlich zu dem Unternehmen beredet hatte. Er hatte seine ganze Überredungskunst angewendet, um seinem Sohn ein Gehöft hinterlassen zu können, das doppelt so groß war wie das von seinem Vater ererbte.

      Er stand nun da und dachte darüber nach, ob Gott wohl einen Zweck damit gehabt habe, daß ihm der Tåkernsee seinen Sohn genommen hatte, gerade an dem Tage, bevor er die Urkunde zu der Trockenlegung des Sees unterschreiben wollte. Seine Frau brauchte nicht viele Worte zu ihm zu sagen, als er schon antwortete: »Vielleicht ist es Gottes Wille, daß wir nicht in seine Ordnung eingreifen sollen. Morgen will ich mit den anderen darüber reden, und ich denke, wir beschließen, daß alles so bleibt wie es ist.«

      Während Mann und Frau miteinander sprachen, lag Cäsar vor dem Herd. Er hob den Kopf und hörte genau zu. Als er seiner Sache sicher zu sein glaubte, ging er zu seiner Herrin, packte sie beim Kleid und zog sie nach der Tür. »Aber Cäsar!« sagte sie und wollte sich frei machen. »Weißt du, wo Per Ola ist?« rief sie dann aus. Cäsar bellte lustig und lief nach der Tür. Sie öffnete, und Cäsar stürzte an den Tåkernsee hinab. Seine Herrin war so sicher, daß er wußte, wo Per Ola war, daß sie gleich hinter ihm drein lief. Und kaum waren sie an den Strand gekommen, als sie draußen auf dem See Kinderweinen hörten.

      Per Ola hatte nie im Leben einen so vergnüglichen Tag verbracht wie den heutigen mit Däumling und den Vögeln, aber nun hatte er angefangen zu weinen, weil er hungrig war und sich vor der Dunkelheit fürchtete. Und er war sehr froh, als Vater und Mutter und Cäsar kamen, um ihn zu holen.

      Der Junge lag eines Nachts auf einer der kleinen Inseln im Tåkernsee und schlief, als er durch Ruderschläge geweckt wurde. Kaum hatte er die Augen aufgemacht, als ein starker Lichtschein gerade in sie hineinfiel, so daß er blinzeln mußte.

      Zuerst konnte er nicht begreifen, was hier draußen auf dem See so hell leuchtete, bald aber sah er, daß im Röhricht ein Kahn lag, in dessen Achtersteven eine große brennende Pechfackel an einer eisernen Stange befestigt war. Die rote Flamme der Fackel spiegelte sich deutlich in dem nachtschwarzen See, und der Lichtschein mußte die Fische herbeigelockt haben, denn rings um die Flamme da unten in der Tiefe konnte man eine Menge dunkler Streifen sehen, die sich unaufhörlich bewegten und ihren Platz wechselten.

      In dem Kahn befanden sich zwei alte Männer. Der eine saß an den Rudern, der andere stand auf der hinteren Bank und hielt einen kurzen, mit einem Widerhaken versehenen Spieß in der Hand. Der Mann an den Rudern schien ein armer Fischer zu sein. Er war klein, dürr und wettergebräunt und hatte einen dünnen, abgetragenen Rock an. Man konnte ihm ansehen, daß er gewohnt war, in allem Wetter draußen zu sein, daß er die Kälte nicht scheute. Der andere war wohlgenährt und wohlgekleidet und sah aus wie ein gebieterischer und selbstbewußter Bauer.

      »Halt jetzt still!« sagte der Bauer, als sie dicht vor der kleinen Insel lagen, auf der der Junge lag. Im selben Augenblick stieß er den Spieß in das Wasser. Als er ihn wieder herauszog, kam ein langer, prächtiger Aal mit aus der Tiefe heraus.

      »So ein Kerl!« sagte er, indem er den Aal von dem Haken löste. »Der kann sich sehen lassen! Nun haben wir wohl so viele, daß wir umkehren können!«

      Aber sein Gefährte hob die Ruder nicht in die Höhe; er saß da und sah sich um. »Es ist schön heute abend hier auf dem See,« sagte er. Und das war es auch. Es war ganz windstill, so daß der Wasserspiegel in ungestörter Ruhe da lag, die nur der Kielwasserstreif des Bootes unterbrach. Der lag da in dem Feuerschein und glitzerte wie eine Straße aus Gold. Der Himmel war klar und tiefblau und wie mit Sternen bestickt. Die Ufer waren, ausgenommen nach Westen zu, von den Schilfinseln verdeckt. Dort ragte der Omberg auf, groß und finster, viel gewaltiger als sonst, und schnitt ein großes, dreieckiges Stück aus dem Himmelsgewölbe heraus.

      Der andere wandte den Kopf um, so daß er den Feuerschein nicht in den Augen hatte, und sah sich um.

      »Ja, es ist schön hier in Östergyllan,« sagte er; »aber das Beste an der Landschaft ist doch nicht die Schönheit.« – »Was ist denn deiner Ansicht nach das Beste?« fragte der an den Rudern. – »Das Beste ist, daß es von jeher eine geachtete und angesehene Landschaft gewesen ist.« – »Ja, das kann seine Richtigkeit haben.« – »Und dann, daß man weiß, daß es immer so bleiben wird.« – »Wie in aller Welt kann man denn das wissen?« fragte der an den Rudern.

      Der Bauer richtete sich auf und stützte sich auf die Aalgabel. »Da ist eine alte Geschichte, die sich in meiner Familie von Vater auf Sohn vererbt hat, und in der Geschichte erfährt man, wie es mit Ostgotland gehen wird.« – »Die könntest du mir wohl erzählen,« sagte der Mann, der ruderte. – »Es ist eigentlich nicht Sitte bei uns, sie jedem Beliebigen zu erzählen, aber einem alten Kameraden will ich sie nicht vorenthalten.«

      »Auf Schloß Ulvåsa hier in Ostgotland,« fuhr er fort, und nun konnte man an dem Tonfall hören, daß er etwas erzählte, was er von anderen gehört hatte und auswendig wußte, »wohnte vor