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»Eigentlich kommt es mir vor als sei es erst gestern gewesen, aber es müssen wohl ein paar Monate vergangen sein. Vielleicht mehr als ein Jahr.«

       Ich schaute Kramer verschmitzt an und sagte: »Vielleicht kommt mir ja der Zufall zu Hilfe, um ihn zu finden.«

       Kramer erwiderte jedoch, ohne auf meine Anspielung einzugehen: »Ich bin sicher, dass Sie ihn finden werden. Ebenso zielsicher, wie Sie eben das Buch gegriffen haben. Aber lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn er nicht schon an der nächsten Straßenecke steht. Übrigens vergessen Sie nicht, das Buch mitzunehmen.«

       Wir plauderten noch eine Weile über Psychologie, über Zufälle und deren Gesetzmäßigkeiten bis meine Sachen trocken genug waren, dass ich sie wieder anziehen konnte. Dann verabschiedeten wir uns und ich versprach bald wieder zu kommen, um zu berichten, ob ich meinen Freund gefunden hätte. Ich stieg die Stufen wieder hinauf und wurde nun von den zweimal vier Glockentönen der Tür ins Freie begleitet.

      *

      In der Zwischenzeit hatte der Regen aufgehört und die Sonne lugte zaghaft durch eine kleine Wolkenlücke. Ich setzte meinen Weg fort. Ich hatte jedoch Kramer nicht die ganze Wahrheit erzählt. Allerdings kann ich beim besten Willen nicht sagen, was mich dazu bewogen hat. Vielleicht erschien er mir nur etwas zu kauzig mit seinen Marotten und abstrusen Theorien. Ich bediene tatsächlich im Déjà-vu, aber nur an zwei Tagen in der Woche. Ich bin eigentlich Psychologiestudent und ganz nebenbei auch noch Schriftsteller. Ich schreibe Novellen und Kurzgeschichten für Zeitschriften. Zurzeit arbeite ich an meinem ersten richtigen Roman, der die Störungen menschlicher Wahrnehmungen zum Inhalt hat, also ein Thema, das sehr eng mit meinem Studium verknüpft ist. Irgendwie habe ich dann die Realität mit meiner Fantasie durchmischt, denn ich wollte heute tatsächlich einen Freund aufsuchen, der jedoch mindestens ebenso kauzig und verschroben ist wie Kramer. Er ist ein begnadeter Programmierer und Computerspezialist und arbeitet für eine Firma, die Simulatoren für Verkehrsmittel aller Art und für die Luftfahrt im Besonderen vertreibt. Ich hatte ihn neulich angerufen, nachdem es mir gelungen war seine Telefonnummer, die natürlich nicht im Telefonbuch verzeichnet war, über verschlungene Wege ausfindig zu machen. Ich bat ihn um ein paar Erläuterungen zu seiner Arbeit, da ich plante, diese Technologie in die Geschichte mit der Wahrnehmung einzubauen. Er willigte sofort ein und lud mich in seine Wohnung ein, wo er mir sein Lieblingsspielzeug, wie er es nannte, einmal vorführen wollte. Wir hatten den heutigen Nachmittag vereinbart und nun war ich nach einem Abstecher in Kramers Reich der Zufälle und unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten wieder auf dem Weg zu meiner Verabredung.

       Ich kannte mich in dieser Gegend nur ungenügend aus und in den unübersichtlichen Straßenschluchten mehrstöckiger Wohngebäude konnte man leicht die Orientierung verlieren. Daher beschloss ich, meinen Standort noch einmal im Stadtplan zu ermitteln und blieb abrupt auf dem breiten Gehweg vor der Häuserzeile einer unbelebten Seitenstraße stehen. Gerade wollte ich in die Innentasche meines Mantels greifen, als das Unerwartete, das Entsetzliche geschah. Mit einem dumpfen Laut schlug direkt vor mir ein Mann auf das harte Pflaster. Das grauenhafte Geräusch werde ich wohl immer in meiner Erinnerung tragen müssen. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, hatte asiatische Gesichtszüge und trug Jeans, ein einfaches T-Shirt und war barfuß. Seine glasigen Augen starrten mich an und in seinem Gesichtsausdruck lag irgendwie noch so etwas wie Erstaunen.

       Der Tod musste schlagartig eingetreten sein und seine Muskeln entspannten sich rasch. Seine linke Hand war zur Faust geballt und öffnete sich nun zaghaft. Heraus kam ein silberner Zylinder, der sich langsam rollend, eine kleine Staubwolke aufwirbelnd, in Bewegung setzte und genau auf mich zusteuerte. Aus einem unbegreiflichen Reflex heraus griff ich zu und ließ den Zylinder blitzschnell in meinem Mantel verschwinden, als von oben ein Geräusch zu vernehmen war. Ich schaute hinauf und konnte gerade noch eine schemenhafte Figur im geöffneten Fenster des fünften und letzten Stockwerks vor dem Dachgeschoss verschwinden sehen. Ohne zu zögern, und vor allem ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken, öffnete ich die Haustüre und hechtete die Treppe nach oben.

       Nach zwei Stockwerken wurde mein Spurt jedoch jäh unterbrochen. Eine Frau kam mir von oben mit gezückter Waffe und kompromisslosem Blick entgegen. Ich hielt an und begann vorsichtig mit dem Rückzug nach unten. Sie folgte mir jedoch langsam aber unerbittlich. »Geben Sie mir das Utsúwa. Es gehört Ihnen nicht.«

       Ich erwiderte verständnislos: »Das Utsu-was? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Sie wurde sichtlich ungehalten. Mittlerweile hatten wir das Erdgeschoss wieder erreicht. Linkerhand ging es zum Hinterausgang, nach rechts zur Haustüre, die mittlerweile wieder ins Schloss gefallen war. Von oben kamen die hastigen Schritte von mehreren Personen. Sie hob die Waffe an und musste offensichtlich den Abzug durchgezogen haben, denn ich spürte einen fürchterlichen Stoß auf der Brust, vernahm einen lauten Knall und wurde ruckartig nach hinten gerissen. Das Letzte was ich im Fallen noch sehen konnte war, dass meine Mörderin in Richtung Hintertür verschwand und von zwei Gestalten in schwarzen Mänteln und Hüten verfolgt wurde, die mittlerweile den Fuß der Treppe erreicht hatten. Dann hüllte mich Dunkelheit ein.

      *

      Mit starken Schmerzen in der Brust rappelte ich mich wieder auf und richtete meine Kleidung. Bei meinem Sturz hatte ich einen Wäschestapel mitgerissen, der wohl auf seine Abholung wartete und mir vollständig die Sicht nahm, nachdem er auf mir gelandet war. Ich tastete unter dem Mantel nach meiner Verletzung und erwartete zumindest einen warmen Strom von Blut, der sich über meine Hand ergießt, konnte aber nichts fühlen. Stattdessen schien mein Mantel ungewöhnlich hart und schwer auf meiner Hand zu lasten.

       Ein Griff in die weite Innentasche des Kleidungsstücks beförderte das Mathematik-Schulbuch mit dem roten Leineneinband zu Tage, das mir Kramer gerade eben noch geschenkt hatte. Das Projektil, das mich sicher ins Jenseits befördern sollte, hatte ein Loch hineingebohrt und steckte tief in den Seiten. Ich schlug den Einband auf und ließ mich mit einem Aufschrei und weichen Knien auf dem nun ungeordneten Haufen von Wäschestücken nieder. Auf der ersten Seite standen mit blauer Tinte die Worte: ›Gerald Borman, 10c‹ und einen knappen Zentimeter darunter schaute die Spitze des Projektils heraus. Das war mir etwas zu viel an merkwürdigen Zufällen für nur einen einzigen Tag. Ich hatte mein eigenes altes Mathematik-Schulbuch wiedergefunden, das mir nur wenige Momente später das Leben gerettet hat.

       In diesem Augenblick fiel mir wieder der merkwürdige Zylinder ein und ich griff in die andere Innentasche meines Mantels. Er war noch da. Was immer auch ein Utsúwa sein sollte, ich würde die Lösung des Rätsels auf später verschieben. Offensichtlich haben mich alle Verfolger nach dem sauberen Schuss für tot erklärt und es war weit und breit nichts mehr von ihnen zu sehen. Ich öffnete die Haustür und trat ins Freie in der Erwartung eines Menschenauflaufs wegen des Mannes, der vor wenigen Minuten aufs Pflaster gestürzt war Aber zu meiner Verblüffung war der Gehsteig leer. Extrem leer sogar, denn auch der Tote war spurlos verschwunden. Es war keine Spur des Fenstersturzes mehr zu erkennen. Keine Leiche, kein Blut, rein gar nichts. Nachdem ich meine Kinnlade wieder geschlossen hatte, öffnete ich mit zittrigen Händen den Stadtplan und stellte fest, dass es zur Wohnung meines Freundes nur noch zwei Häuserblocks waren. Ich beschloss, die jüngsten Erlebnisse später zu verarbeiten und setzte meinen Weg fort. Ich erreichte mein Ziel ohne weitere, nennenswerte Erlebnisse.

      2

      Sarah Winter legte die letzte Akte auf ihrem Schreibtisch ab und drehte sich zum Fenster. Sie saß in ihrem neuen Büro und genoss die herrliche Aussicht auf die Berge, die sie an diesem klaren Tag in der Ferne ausmachen konnte. Das Gebäude befand sich, eingerahmt von einem kleinen Park, inmitten der herrlichsten Natur, inmitten von Wäldern und Wiesen. Gestern konnte sie von ihrem Bürofenster aus sogar weidende Hirsche in der Nähe beobachten. Sie genoss diesen angenehmen Arbeitsplatz, so fern der hektischen Betriebsamkeit in der Stadt, wo sie ihre Eheberatungs-Praxis aufgegeben hat. Der Ort war eine Idylle mit dem malerischen Namen Belvedere. Zumindest täuschte er eine Idylle vor, denn zwischen der Parkanlage und der Freiheit der Wiesen und Wälder befand sich ein hoher Zaun, der das unbefugte Verlassen des Anwesens verhinderte. Sarah hatte die Stelle auf das Drängen ihrer Kinder angenommen, die erkannten, dass ihr nach der Scheidung von ihrem Mann ein neues Ziel wieder Kraft geben würde. Nachdem die Kinder nun recht selbstständig waren, ist die Ehe zur Routine geworden, wie in so vielen Fällen – ironischerweise auch