Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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Aber mein Griff ging ins Leere. Verwundert bewegte ich die flache Hand über die Glasplatte. Die Münze verschwand. Wenn ich die Hand wieder zurückzog, tauchte sie wieder auf. »Ein einfacher Spiegeltrick«, sagte mein Gegenüber. »Unter der Glasplatte befindet sich ein Hohlspiegel, in dem die echte Münze genau an der richtigen Stelle liegt, um als Spiegelbild auf der Glasplatte zu erscheinen.« Ich beugte mich nun über die Platte und konnte tatsächlich den Spiegel erkennen, der auf der Oberseite nur eine kleine Öffnung hatte, über der die Münze zu schweben schien. «Ein Taschenspielertrick«, sagte ich empört. »Ja, aber er zeigt auf einfache Weise, wie leicht man sich täuschen lässt. Und noch ein Wort zu dem Detailreichtum eines echten Gegenstands. Man staunt manchmal, wie wenig Details das Gehirn benötigt, um zu erkennen, um was es sich handelt. Hast du eigentlich gewusst, dass ich einen Hund habe? Schau mal in die Ecke hinter der Tür. Dort liegt er. Eigentlich ist es eine Hündin, sie heißt Cora. Sie ist ganz lieb und benimmt sich meistens sehr unauffällig. Deshalb hast du sie wohl bisher auch nicht bemerkt.«

       Ich schaute verwundert in die Ecke. Natürlich habe ich keinen Hund in diesem Zimmer vermutet, geschweige denn etwas davon bemerkt. Hätte ich das nicht riechen müssen? Aber im Vergleich zu einem Rüden riecht man eine Hündin kaum. Tatsächlich glaubte ich, jetzt doch einen ganz schwachen Hundegeruch wahrzunehmen. In der besagten Ecke war es sehr dunkel, so dass ich kaum mehr als ein paar Umrisse ausmachen konnte. Was ich erkennen konnte, ließ auf ein mittelgroßes Exemplar schließen. Vielleicht ein Collie oder ein Setter. Wahrscheinlich irgendeine Promenadenmischung. Nachdem sich meine Augen etwas besser auf die Dunkelheit eingestellt hatten, konnte ich deutlich den Kopf des Tieres ausmachen, der in meine Richtung schaute. Die Ohren hingen herab. Nun konnte ich auch klar erkennen, wie sich der Brustkorb leicht hob und senkte. Die Schnauze schien kaum merklich zu zittern. »Komm, wir sagen Cora mal hallo. Sie wird sich sicher darüber freuen«, sagte Patrick. Ich erhob mich vom Stuhl und ging auf den Hund zu. Patrick drückte auf einen Schalter und in der Ecke hinter der Tür wurde es schlagartig hell. Ich war geschockt!

       Was ich für einen Hund gehalten hatte, entpuppte sich als ein Computergehäuse, auf dem ein paar abgelegte Klamotten lagen. Mehr nicht. Keine Schnauze, keine Ohren, kein Zittern und kein Hundegeruch.

       Überwältigt sank ich auf den Stuhl zurück und war zunächst sprachlos.

       »Du siehst, wie leicht wir uns täuschen lassen. Unser optisches Wahrnehmungsvermögen schafft es, aus extrem wenigen Informationen einen Gegenstand zusammenzusetzen. Diese Fähigkeit war überlebenswichtig als unsere Vorfahren noch ohne künstliches Licht auskommen mussten und um rasch zu erkennen, ob sich etwa ein gefährliches Tier in der Dunkelheit verbarg. Besser, man sieht einen Wolf, den es nicht gibt als einen realen Wolf zu übersehen. Deshalb fürchten wir uns auch in der Dunkelheit, denn wir erkennen in jedem Gegenstand, der nicht klar zu sehen ist, eine Gefahr.«

       »Ich habe sogar geglaubt den Hund riechen zu können«, platzte es aus mir heraus. »Es ist erstaunlich«, bemerkte Patrick, »wie unser Gehirn die fehlenden Teile, die wir nicht sehen können, zu einem Ganzen zusammensetzt. Deswegen sind wir auch in der Lage, aus wenigen Strichen eine ganze Figur zu erkennen, wie etwa in einer Karikatur. Manchmal ergänzen auch die anderen Sinne noch das Bild, wie in deinem Fall der Hundegeruch. Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis meiner Vorstellung.«

       Ich wurde unvermittelt an eine Episode aus meiner Kindheit erinnert. Wir verbrachten als zehnjährige Jungs die Ferien in einem Zeltlager. Eines Nachts machten wir eine Nachtwanderung durch den Wald. Zunächst war die Veranstaltung noch recht amüsant. Wir erschreckten uns gegenseitig in der Dunkelheit, machten Fratzen, indem wir uns die Taschenlampen in den Mund steckten und erzählten uns gegenseitig Schauergeschichten. Alles war noch harmlos, solange wir die Lampen hatten und als Gruppe zusammenblieben. Als wir jedoch an eine Lichtung kamen, wurde uns eine Aufgabe gestellt. Wir sollten, ohne die Lampe einzuschalten, einzeln einen der Betreuer finden, der sich etwa hundert Meter entfernt im Wald versteckt hatte und sich nur durch gelegentliche, imitierte Eulenrufe bemerkbar machte. Es war grauenhaft. Ich schätze es wäre besser gewesen, sich mit geschlossenen Augen vorsichtig den Weg zu bahnen. Stattdessen versuchte ich krampfhaft, etwas im Halbdunkel des Waldes zu erkennen. Durch die nahe Lichtung schien der Mond zwischen den Bäumen durch und erzeugte lange Schatten. Ich glaube, dass ich auf dem gesamten Weg über jede einzelne Wurzel gestolpert bin. Das Schlimmste jedoch war das unbestimmte Gefühl von lauernden Gefahren im Dickicht des Waldes. Die unvollständige Wahrnehmung spielte einem ständig einen Streich. Aus Steinen und Wurzeln wurden Hasen, Füchse oder Kobolde. Größere, herumliegende Äste verwandelten sich in lauernde Bestien und Monster. Wir waren total verängstigt, auch wenn wir danach damit prahlten, wie cool das alles gewesen wäre. Als wir am nächsten Tag den Weg noch einmal abgingen, konnten wir nichts entdecken, was auch nur halbwegs beängstigend gewesen wäre.

       »Ich glaube, dass ich verstanden habe, was du mir damit beweisen wolltest«, erklärte ich nun. »Unser Abstraktionsvermögen ist dafür verantwortlich, dass wir unsere Sinne so leicht überlisten können.«

       »Ganz recht. Und daher ist es auch möglich die Sinne soweit zu beeinflussen, dass wir einer Simulation vollständig erliegen. Und jetzt denke ich, sollte ich dir mein Spielzeug zeigen, damit du die Möglichkeiten erkennst, die in der Erzeugung virtueller Welten liegen.« Er öffnete die Tür zum Nebenraum und gab mir zu erkennen, dass ich folgen sollte

      *

      Der Raum unterschied sich vollständig von Patricks Labor. Der einzige größere Gegenstand war ein riesiger Kasten, der sich in der Höhe fast bis zur Decke erstreckte und in seiner Breite fast den gesamten Raum ausfüllte. Es führten unzählige Kabel und Schläuche hinein. In der noch freien Ecke befand sich ein Gestell mit jeder Menge Elektronik. Blinkende Lämpchen zeugten von einer hektischen Aktivität. Und auch von hier schwangen sich hunderte von Kabeln lianengleich zu dem Kasten in der Mitte des Raums.

       »Hast du den Film ›Der Rasenmähermann‹ gesehen?«, fragte mich Patrick unvermittelt.

       »Nein, nicht dass ich wüsste. Worum ging es denn in dem Streifen?«

       »Es ging um virtuelle Realität. Genau wie in diesem Raum. Darf ich vorstellen? Der Pool!«

       »Das ist also der geheimnisvolle Pool. Dein Spielzeug, wie ich vermute.« »Genau so ist es. In dem Film konnte man übrigens einen Anzug anlegen, mit dem die eigenen Bewegungen auf einen Rechner übertragen wurden und der erzeugte dann ein virtuelles Bild dessen, was man sehen sollte und übertrug es wiederum auf eine Brille, durch die man die künstliche Realität sehen konnte. Um Bewegungen in allen drei Raumdimensionen auszuführen, wurde man in ein Gestell gespannt, in dem man sich um alle drei Raumachsen drehen konnte.«

       »Lass mich raten«, sagte ich. »Du wirst mich jetzt in so ein Gestell einspannen und durch bunte Strichlandschaften fliegen lassen.«

       »Nein, nein. Das mit dem Gestell sah in dem Film zwar beeindruckend aus, aber eigentlich dient eine solche Apparatur mehr zur Desorientierung des Gleichgewichtssinns und wird in der Raumfahrt für das Astronautentraining verwendet. Ich habe keine Lust, mir von dir die Instrumente voll kotzen zu lassen. Es ist viel eindrucksvoller die Realität nachzubilden, in der es ein oben und unten gibt und in der du dich wie immer bewegen kannst. Der Pool ist eine vereinfachte Nachbildung des großen Simulators, den wir zurzeit für die Ausbildung von Kampfpiloten entwickeln. Bei dem großen Simulator wird die gesamte Kabine von einer Hydraulik auf und ab bewegt und erzeugt echte Kraftwirkungen auf den Körper. Im Pool gibt es nur einige wenige Elemente, die hydraulisch gesteuert werden, um Bewegungen vorzutäuschen.« Während er sprach, holte er eine Art Taucheranzug vom Haken und öffnete einen Reißverschluss. »Zieh dich bitte bis auf die Unterwäsche aus und leg den Cyberanzug an.« Ich gehorchte ohne Gegenfragen, denn neugierig geworden war ich schon. Der Anzug war aus einem schwarzen weichen und extrem flexiblen Stoff und schmiegte sich angenehm an meinen Körper an. Auf seiner Oberfläche befanden sich an unzähligen Stellen kleine Verdickungen, die aber nicht störend wirkten. »Was sind das für Knubbel hier?«, stellte ich meine Frage in den Raum.

       »Das sind Sensoren. Sie zeichnen jede deiner Bewegungen auf und übertragen sie an den Rechner. Der merkt dann, was du gerade machst und kann darauf reagieren. Im großen Simulator arbeiten wir gerade an einem haptischen Anzug, der sogar in der Lage ist Kräfte auf den Träger auszuüben, um das Gefühl zu vermitteln, dass man