Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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Er sieht etwas und akzeptiert, dass ich es nicht sehe. Ich akzeptiere, dass er etwas wahrnehmen kann, was ich wiederum nicht sehe.«

       »Was meinst du Roman, kann man ihn irgendwann heilen?«

       »Ich bin mir nicht sicher? Man müsste tiefer in seine Welt vordringen, um das entscheiden zu können. Er ist jedoch noch einer der harmloseren Fälle.« Wie zur Bestätigung seiner Worte klingelte plötzlich eine Alarmglocke und der Flur war unversehens gefüllt mit weißen Kitteln, die etwas ratlos dreinblickend nach der Ursache für den Alarm suchten. Ein Assistent kam auf Dalberg zugelaufen und berichtete noch völlig außer Atem: »Es ist Takeda, Herr Dalberg. Schrecklich. Sie müssen es sich selbst anschauen.« Dalberg rannte den Flur entlang, während Sarah ihm auf dem Fuß folgte. Vor einer der Türen hatte sich schon eine weiße Kittelwolke gebildet, die sich nun langsam teilte, um Roman Dalberg Zugang zu dem dahinter liegenden Zimmer zu verschaffen. Dalberg blieb wie angewurzelt stehen und schaute entgeistert auf die Szene, die sich ihm bot. Auf dem Boden lag ein Mann mit merkwürdig verkrampfter Haltung.

       Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, hatte asiatische Gesichtszüge und trug Jeans, ein einfaches T-Shirt und war barfuß. Seine glasigen Augen starrten zur Tür und in seinem Gesichtsausdruck lag irgendwie noch so etwas wie Erstaunen. Seine linke Hand war leicht geöffnet. Es schien, als sei er aus großer Höhe abgestürzt. Aber das Zimmer hatte eine Deckenhöhe von kaum drei Metern.

      3

      Ich drückte auf die Klingel und wartete auf eine Reaktion. Erst nach einem zweiten Versuch hörte ich, dass ein paar Stockwerke über mir ein Fenster geöffnet wurde. Ich trat zwei Schritte zurück und blickte nach oben. Ein Gaubenfenster war geöffnet und eine junge Frau schaute mir entgegen. »Ja, bitte?« »Ich bin mit Patrick verabredet, bin ich hier richtig?«, schickte ich meine Anfrage nach oben. »Du musst Gerald sein«, rief sie nach unten. »Patrick ist im Pool. Warte, ich werf’ dir den Schlüssel ’runter. Die Haustür ist abgeschlossen. Es ist der mit dem blauen Bändchen.«

       Ehe ich mich versah, raste mir schon wieder etwas aus dem obersten Stockwerk entgegen. Ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um einen weiteren Unfall mit möglicherweise tödlichem Ausgang zu verhindern. Der Schlüssel war jedoch in einem weichen Säckchen verpackt und landete wohlbehalten vor meinen Füßen. Das Fenster wurde geschlossen und ich machte mich auf den Weg nach oben. Das Treppenhaus war typisch für ein Mietshaus aus der Gründerzeit. Eine Holztreppe mit stark ausgetretenen Stufen wand sich unter meinen Schritten ächzend hinauf in die Dunkelheit. Ein breiter Absatz, jeweils auf der Höhe eines halben Stockwerks, gab durch ein großzügiges Fenster mit weiß gestrichenem Fensterkreuz den Blick frei auf einen beängstigend engen Hinterhof. Große Namensschilder und die abgelegten Schuhe zeugten von den Bewohnern hinter den Wohnungstüren. Die Wohnung unter dem Dach hatte jedoch keine Tür und die Treppe mündete geradewegs in einen großen Flur, der mit allerlei Gerümpel und einem großen Sofa ausgestattet war. Aus dem Halbdunkel in der Ecke erhob sich eine Gestalt aus einem wuchtigen Sessel und entpuppte sich als die gleiche junge Frau, die mir den Schlüssel herunter geworfen hatte. »Hallo Gerald. Ich bin Daria. Patrick hat mir erzählt, dass du kommen würdest. Er ist noch im Pool beschäftigt, wird aber sicher gleich fertig sein und dann wird er Zeit für dich haben. Setz dich doch so lange zu mir in die Küche. Ich habe mir gerade einen Tee gekocht. Möchtest du auch eine Tasse?« Ich folgte ihr in die Küche und setzte mich zu ihr an den Tisch. Den Tee lehnte ich jedoch dankend ab, da ich gerade eben den Vanilletee im Buchladen getrunken hatte. »Wie kommt es, dass ihr hier im fünften Stock einen Pool habt? Hält die Decke das Gewicht denn aus?« Daria sah mich einen Moment lang erstaunt an, fing dann aber an zu lachen und sagte: »Ach Mann, du hast geglaubt ich würde von einem Swimmingpool reden. Coole Idee. Nein, er ist in seinem VR-Tank und testet gerade eine neue Simulation. Wir sagen aber einfach Pool dazu. Ich dachte du wüsstest das.«

       »Und was ist jetzt ein VR-Tank?«, fragte ich weiter.

       »VR steht für Virtuelle Realität und in einem VR-Tank lässt sich die Außenwelt mit all ihren Geräuschen besser abschirmen«, kam es nun von der Küchentür her mit einer sonoren Stimme, die ich sofort wieder erkannte. »Patrick!«, rief ich und drehte mich auf dem Stuhl sitzend um.

       »Schön, dass du gekommen bist«, erwiderte er. »Aber was ist denn mit dir passiert? Du bist ja vollkommen zerzaust.« Dann blickte er etwas deutlicher auf meinen Mantel. »Was ist denn das für ein Loch? Warst du in eine Messerstecherei verwickelt?«

       »Nein, ich bin gerade erschossen worden. Aber ich muss das erst mal verarbeiten; wir sollten später darüber reden.«

       »Na, gut«, meinte Patrick. »Dann leg mal deinen Mantel ab und komm mit in mein Labor. Du wolltest ja etwas über meine Arbeit erfahren und ich denke, dass ich dir einige sehr interessante Dinge zeigen kann - ach so, das ist übrigens Daria, meine Mitarbeiterin« fügte er noch beiläufig hinzu.

       »Wir haben uns bereits bekannt gemacht«, sagte ich und schaute zu ihr hinüber. Sie beschenkte mich mit einem breiten Lächeln und sagte: »Wenn Patrick seine neuen Programme austestet, muss immer jemand dabei sein. Falls er mal Hilfe braucht.« Ich gab ihr meinen Mantel und folgte Patrick über den offenen Flur in einen Nebenraum.

      *

      Sein Labor war eine erstaunliche Mischung aus Werkstatt, Büro und Lager für Elektronikschrott aller Art, der sich teilweise bis in die hintersten Winkel der Dachschräge stapelte. In einer Ecke des Raums stand ein alter, massiver Holzschreibtisch, umrahmt von Bücherregalen, die teilweise mit Büchern, aber hauptsächlich mit elektronischen Bauteilen und einigen merkwürdigen Gebilden und Konstruktionen gefüllt waren. Das Gaubenfenster war mit einer undurchsichtigen Folie beklebt, so dass das Labor nur in den Genuss von Tageslicht kommen konnte, wenn man das Fenster öffnete. Ein schmaler Pfad führte durch das Gewirr aus Kabeln und Computern zu der Schreibtischecke, die soweit frei geräumt war, dass man nicht auf irgendwelchen Gegenständen herumtrat. Ein zweiter Pfad führte zu einer verschlossenen Tür, die offenbar in einen weiteren Nebenraum mündete. Patrick setzte sich hinter den Schreibtisch und bot mir einen Besucherstuhl gegenüber an. »Du schreibst an einem Buch?«, fragte er nun. »Um was geht es darin nochmal? Und wie kann ich dir helfen?«

       »Es ist ein Roman. Es ist das erste Mal, dass ich eine längere Geschichte konstruiere. Bisher habe ich nur Kurzgeschichten geschrieben und in Zeitungen veröffentlicht. Ich möchte eine Geschichte über jemanden schreiben, der sich mit der menschlichen Wahrnehmung beschäftigt. Ich dachte, dass gerade deine Arbeit einen interessanten Aspekt liefern kann. Die Computer-Simulation täuscht ja in gewisser Weise die Wahrnehmung und man kann sich mit ein wenig Fantasie vorstellen, dass man sich tatsächlich in der vorgespielten Umgebung befindet.«

       Patrick schmunzelte. »Mit ein wenig Fantasie? Ich glaube, dass du die Möglichkeiten heutiger Simulationen etwas unterschätzt. Versuche einmal zu beschreiben, was nach deiner Meinung real ist. Wie kannst du feststellen, was tatsächlich existiert und was nicht.«

       Ich grübelte eine Weile und antwortete dann etwas unsicher: »Nun, ich denke man kann sich doch recht gut auf den Augenschein verlassen. Es ist der Reichtum an Details, der dir sagt, ob etwas echt ist oder nicht. Nehmen wir zum Beispiel dieses dicke Buch mit den gelben Lettern auf schwarzem Einband hinter dir im Regal. Das Bücherregal ist insgesamt zu detailreich, um eine Simulation zu sein. Schließlich hilft mir die dritte Dimension, um es von einer Fotografie zu unterscheiden. Ich kann die Perspektive wechseln und es wird sich entsprechend im Raum drehen.«

       »O.K!«, meinte Patrick, »Ich werde dir ein anderes Beispiel geben.« Er zeigte mit einer einladenden Geste auf seinen Schreibtisch. Die Schreibfläche war eine Glasplatte, die den Blick auf die darunter befindliche Lade freigab. Sie war gefüllt mit allerlei Kabeln, Werkzeug und Bauteilen. Auf der Platte befanden sich drei Stifte, zwei Taschenbücher, ein zerknülltes Schokoladenpapier, eine goldene Münze, eine Taschenlampe und ein Telefon.

       »Betrachte die Gegenstände auf der Glasplatte. Sind sie echt oder nicht?«

       Ich schaute jetzt genauer hin. Offensichtlich waren alle Gegenstände real, kein Zweifel. Ich erhob mich etwas und bewegte den Kopf von rechts nach links. Alle Utensilien wechselten die Perspektive. Genau so, wie es sich für etwas Echtes auch gehört. »Alles echt«, sagte ich. »Was willst du mir beweisen?« Patrick schaute mich