Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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mir Romano, ich bin zwar kein Arzt, aber ich kenne mich mit solchen Dingen aus.« Sarah machte eine aufmunternde Geste in Richtung Dalberg, der in der Zwischenzeit wieder in seinem Schreibtischsessel zusammengesunken war. Dieser nickte dankbar, aber sichtlich resigniert zurück. Es folgte eine Zeit der nachdenklichen Stille, die nur durch das gelegentliche »Mmmh.« oder »Strano, wie seltsam«, unterbrochen wurde, während Shira weiterhin wie ein Raubvogel seine Kreise zog. Plötzlich blieb er unvermittelt stehen und drehte sich zu Roman Dalberg um. »Welche Krankheit hatte er eigentlich? Dieser Takeda.«

      »Das ist ja gerade das Unangenehme an der ganzen Geschichte«, erwiderte dieser und streckte sich wieder zu einer halbwegs aufrechten Haltung. »Takeda gehörte eigentlich zum Personal.«

       Shira legte die Stirn in lange, fleischige Falten, verkniff sich aber eine entsprechende Bemerkung.

       »Er war Neurobiologe«, fuhr Dalberg, unbeirrt Shiras Mimik, fort. »Ein verdammt guter sogar. Aber seine Begabungen lagen wohl mehr im theoretischen Bereich. Er fühlte sich nur wohl, wenn er ungestört seinen Forschungen nachgehen konnte. Der Kontakt mit den Patienten irritierte ihn eher. Dieser Widerspruch machte seine Arbeit nicht gerade leicht. Meist vergrub er sich in seinem Büro und arbeitete am Computer. Für die Arbeit mit den Patienten ließ er sich gerne von seinen Assistenten unterstützen, manchmal sogar vertreten. Trotz dieser Marotte hatten sie großen Respekt vor ihm. Man konnte ihn durch aus als Koryphäe auf seinem Gebiet bezeichnen.«

       An dieser Stelle wurde er von dem Kommissar unterbrochen, der stehengeblieben war und sich genüsslich und deutlich hörbar über den Stoppelacker seines Dreitagebartes strich.

       »Was heißt denn nun, dass er eigentlich zum Personal gehörte? Gehörte er dazu oder gehörte er nicht dazu?«

       »Na, ja«, wand sich Dalberg, dem die Situation sichtlich unangenehm war. »Ich weiß nicht so recht, wie ich es formulieren soll. Scheinbar konnte Takeda nicht den rechten Abstand zu den Patienten aufbauen, wie es für einen Mediziner oder Psychologen unerlässlich ist. Irgendwann begann er sich auf eine merkwürdige Art zu verändern. Es schien, als ob er sich zunehmend mit den psychischen Störungen, mit denen er täglich konfrontiert wurde, identifizierte. Zunächst dachten alle, er hätte sich noch ein paar Marotten mehr zugelegt und kam noch eine Zeitlang mit dem Klischee des verwirrten Professors durch. Aber er wurde zunehmend seltsamer. Ich habe so etwas in meiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt. Er zeigte die Symptome unterschiedlichster psychischer Störungen.

       Das eine Mal hatte er Wahnvorstellungen, das andere Mal war er depressiv, dann unterhielt er sich mit Stimmen in seinem Kopf. Einmal war er autistisch, verkroch sich in eine heile Welt und rastete förmlich aus, wenn auch nur ein Gegenstand in seinem Zimmer im falschen Winkel lag. Später wurde er aggressiv und obszön und zertrümmerte das Mobiliar. Manchmal setzte sein Erinnerungsvermögen vollständig aus und er erfand abstruse Geschichten. Er konnte sich dann teilweise nicht mehr an Dinge erinnern, die nur zwei Minuten her waren. Später fiel ihm wieder alles ein. Einmal saß er in der Kantine vor seinem Essen und begriff nicht mehr, was er vor sich auf dem Tisch stehen hatte und wozu es gut sein sollte. Er zeigte Symptome von Parkinson, Alzheimer, Demenz, Schizophrenie, Autismus. All seine Sinneswahrnehmungen waren gestört.

       Zwischendurch aber war er wieder vollständig normal. Ein gesunder Mensch, mit dem man ein aufgeschlossenes Gespräch führen konnte. Das Merkwürdigste war jedoch, dass wir nichts feststellen konnten. All diese Krankheiten sind auf Fehlfunktionen des Gehirns zurückzuführen. Jeder Teil dieses Organs übernimmt bestimmte Funktionen für die Wahrnehmung oder Steuerung unseres Körpers. Zusätzlich gibt es verschiedene Botenstoffe, die ganz bestimmte Aufgaben übernehmen. Bei einem gesunden Menschen sind sie im Gleichgewicht. Bei psychisch gestörten Personen sind entweder Teile des Gehirns geschädigt, beziehungsweise verändert oder aber das Gleichgewicht der Botenstoffe mit den entsprechenden Rezeptoren ist gestört. Bei Takeda traten zwar alle Symptome auf, aber die unterschiedlichen Krankheitsbilder hätten sich als Fehlfunktionen gegenseitig widersprochen. So bewirkt zum Beispiel ein Mangel des Neurotransmitters Dopamin eine Bewegungsarmut, wie sie für Parkinson typisch ist. Dies widerspricht aber eklatant seinen aggressiven Schüben.«

       »Ich würde erwarten, dass sich das Gleichgewicht der Neurotransmitter ständig von einem Extrem ins andere verschoben hat. Konnte man solche Schwankungen bei ihm nachweisen?«, fragte Sarah.

       »Tatsächlich war eine Fehlfunktion überhaupt nicht nachweisbar. Sein Gehirn war sowohl biochemisch als auch physisch vollständig intakt.«

       »Vielleicht hat er euch das nur vorgespielt. Aus welchem Grund auch immer«, meinte Shira schließlich.

       »Nein das ist unmöglich. Ein guter Schauspieler kann vielleicht eines dieser Krankheitsbilder imitieren und einem ungeschulten Publikum plausibel darstellen. Aber nicht alles zusammen. Außerdem kenne ich zahlreiche Tests, mit deren Hilfe ich einen Betrug sofort entlarven würde.«

       Wieder versanken alle in nachdenkliches Schweigen. Dalberg verschwand wieder in den Tiefen seines Sessels und Shira kreiste unbeirrt durchs Zimmer. Dieses Mal war es Sarah, die den Bann der Stille durchbrach: »Vielleicht liegt der ganze Fall ja ganz anders, als wir es bisher betrachtet haben. Hat jemand von euch damals den Film ›Der Exorzist‹ gesehen?«

       Shira schien gegen eine Wand gelaufen zu sein, während Dalberg wie eine Sprungfeder aus seinem Sitz schnellte.

      5

      Die Dunkelheit wich langsam einer schummrigen, grünlichen Beleuchtung. Vielleicht gewöhnten sich aber meine Augen erst langsam an das Dämmerlicht. Ich befand mich offensichtlich noch immer in der Kabine und von virtueller Realität war nichts zu bemerken. Es fröstelte mich ein wenig. Plötzlich vernahm ich ein leises Rauschen, als ob jemand im Raum nebenan den Wasserhahn aufgedreht hätte. An den Wänden der Kabine, jede Wand war etwa eine Körperlänge von mir entfernt, vernahm ich nun ein sanftes Flackern der Beleuchtung. Es sah aus, als ob eine schwache Wellenbewegung über die Wand lief und es erinnerte mich an etwas. Es erinnerte mich an die Reflexion der Wasseroberfläche an der Hallendecke eines Schwimmbads. Das Rauschen wurde lauter und plötzlich wurde mir klar, was das zu bedeuten hatte. Ich schaute nach unten. Der Boden der Kabine war bereits eine Handbreit mit Wasser gefüllt und das Wasser stieg unaufhaltsam weiter. »Patrick, was soll der Quatsch!«, rief ich. »Das ist nicht witzig.« Keine Reaktion. »Hast du ein Problem da draußen?« Immer noch nichts. Mittlerweile stand mir das Wasser bis zur Hüfte. Ich überlegte, ob ich mich von den Gurten befreien sollte und schaute nach oben. Aber es waren keine Gurte mehr zu sehen. Möglicherweise hatten sie sich gelöst und waren ins Wasser gefallen. Ich watete zur Tür. Aber es gab keinen Riegel, um sie zu öffnen. Nicht eine Unterbrechung in der glatten Wand. Das Wasser war inzwischen bis zu meiner Schulter angestiegen. Ich begann zu schwimmen. An der Decke war ebenfalls kein Öffnungsmechanismus zu erkennen. Die einzige Abwechslung war die Lampe, die sich in einer der hinteren Ecken der Decke befand. Es war alles wahnsinnig schnell gegangen. Ich drückte den Kopf in den Nacken und nahm gierig meinen letzten tiefen Atemzug und tauchte nach unten. Jetzt konnte ich die Klappen an den Wänden und am Boden wieder erkennen, die ich gesehen hatte, als ich in die Kabine eingetreten bin. Ich versuchte jeden einzelnen dieser vermeintlichen Rettungswege zu öffnen. Ich krallte die Finger in die Ritzen, aber sie waren zu schmal, um einen Halt zu bieten. Mit einer letzten verzweifelten Geste schwamm ich noch einmal nach oben, in der Hoffnung, dass eine Luftblase an der Decke geblieben war, aber es war vergebens. Seit das Licht wieder eingeschaltet wurde, waren höchstens fünf Minuten vergangen. Meine Lunge drohte zu zerbersten und ich konnte es nicht mehr länger ertragen und tat einen tiefen Atemzug.

      *

      Ich atmete Luft. Es war so überraschend, dass ich mich regelrecht verschluckte und husten musste. Kaum zu glauben, aber offensichtlich bin ich auf eine Simulation hereingefallen. Es war so echt, so wirklich, dass ich keinen Augenblick zweifelte. Und noch immer funktionierte die Illusion perfekt. Ich schwamm nun auf halber Höhe in der Kammer und hatte tatsächlich das Gefühl unter Wasser zu sein. Nur das Atmen passte irgendwie nicht in dieses Bild.

       »Willkommen im Pool, Gerald!«, vernahm ich plötzlich Patricks Stimme. »Ich muss mich bei dir entschuldigen, aber ich konnte mir diesen kleinen Scherz nicht verkneifen.«

       »Vielen Dank. Aber das ging eindeutig zu weit. Ich würde