Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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anzustellen. Von Shira konnte sie hier allerdings keine große Hilfe erwarten, denn er konnte den Fall ja nicht zu den Akten legen und gleichzeitig daran weiterarbeiten. Ob er Sarahs Vermutungen teilte wusste sie nicht, aber immerhin bot er ihr seine Unterstützung an, soweit er es verantworten konnte.

       Hilfe kam jedoch aus einer gänzlich unerwarteten Richtung. Sarah hatte sich mit einem Patienten der Klinik in besonderer Weise angefreundet. Es war der vierundzwanzigjährige Autist Marc, der schon seit seinem achtzehnten Lebensjahr, mit einigen Unterbrechungen allerdings, Gast bei Roman Dalberg war. Marcs Eltern hatten in den vergangenen Jahren mehrfach den Versuch unternommen ihm ein Zuhause zu geben. Der Versuch scheiterte jedoch jedes Mal nach einigen Wochen, einmal waren es drei Monate, ein anderes Mal nur zwei Tage. Seine Mutter konnte sich einfach nicht auf die Eigenarten und Bedürfnisse ihres Sohnes einstellen, was regelmäßig dazu führte, dass er sich im Kleiderschrank verkroch und erst wieder ansprechbar war, wenn ein Betreuer kam, um ihn in die Klinik zurückzubringen. Zu Sarah hatte er jedoch sehr schnell Vertrauen gefasst, was für Marc schon ungewöhnlich war. Personen, die er nicht kannte, ignorierte er völlig. Er antwortete nicht auf Fragen und benahm sich so, als ob die Person überhaupt nicht anwesend wäre. Wenn ihm jemand zu nahe kam, versuchte er zunächst auszuweichen. Bot sich keine Möglichkeit zur Flucht mehr, dann ließ er sich auf der Stelle fallen und nahm eine fötale Stellung ein. Dabei verfiel er in ein lautstarkes Jammern, bis sich die Situation bereinigt hatte und manchmal auch Minuten darüber hinaus. Sarah hatte sich sehr intensiv mit Marcs Psyche befasst, bevor sie ihm das erste Mal begegnete. So wusste sie zum Beispiel, dass er die Farbe Grün nicht ausstehen konnte und vermied es, grüne Kleidung zu tragen. Weiterhin kannte sie seine Leidenschaft für interessante Muster und entschied sich daher, eine Bluse mit einem sehr auffälligen Muster anzuziehen, die sie schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Ihre erste Begegnung hatte sie sehr sorgfältig geplant. Marc saß alleine auf einer Bank im Park der Klinik und war darauf konzentriert ein Buch zu lesen. Der Park war sehr weiträumig und bot den Patienten ausreichend Platz für ungestörte Rückzugsmöglichkeiten. Sarah setzte sich auf eine benachbarte Bank schräg gegenüber und war darauf bedacht, nicht zu nahe an ihn heranzutreten. Sie nahm sich ebenfalls ein Buch zur Hand und übte sich in Geduld. Es kam ihr gerade so vor, als ob sie sich daran gemacht hätte scheue Vögel zu beobachten, die bei jeder unbedachten Bewegung davonfliegen würden. Zunächst war sie noch wachsam und versuchte ihr Gegenüber unauffällig im Blick zu behalten. Nach einigen Minuten war sie jedoch so sehr in ihre Lektüre vertieft, dass sie regelrecht erschrak als eine Stimme direkt neben ihr sagte: »Fraktale sind selbstähnliche Strukturen, wie sie häufig in der Natur vorkommen. Sie lassen sich durch einfache Gleichungen erzeugen.« Sarah schaute auf und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte mit der Wahl ihrer Bluse offensichtlich genau ins Schwarze getroffen. Die Muster, so hatte sie später erfahren, stellten so genannte Mandelbrotmengen dar, benannt nach dem Mathematiker Mandelbrot, der sie entdeckt hatte. Sie hatte damit nicht nur die Aufmerksamkeit von Marc auf sich gezogen, sondern auch die ersten Sympathiepunkte gewonnen. Nachdem sie sich von ihm hatte erklären lassen, was Fraktale sind und wie man sie im Park und anderswo in der Natur erkennen könnte, hatte sie schon so viel erreicht, dass er sich zu ihr auf die Bank setzte, wenn auch mit maximalem Abstand. Marc sah sie jedoch während der Unterhaltung nicht einen Moment lang an. Da er nicht in der Lage war die Mimik im Gesicht seines Gegenübers zu deuten, war es für ihn auch nicht notwendig jemanden anzuschauen. Sie verabschiedete sich von ihm, nicht ohne ihn um eine weitere Unterhaltung am nächsten Tag zu bitten. Marc willigte ein, und so trafen sie sich von nun an jeden Tag um die gleiche Uhrzeit, entsprechend seines Bedürfnisses nach verlässlichen Zeitplänen. Nach einigen Tagen kamen sie auf die seltsamen Todesfälle zu sprechen und Marc schien von der Unerklärlichkeit dieser Ereignisse geradezu fasziniert zu sein, denn er liebte es komplexe Aufgaben zu lösen und offenbar betrachtete er auch die Vorfälle als ein Rätsel, das es zu lösen galt. »Was denkst du Marc? Sind die beiden ermordet worden oder sind sie das Opfer von merkwürdigen Unfällen geworden?«, fragte Sarah bei ihrem ersten Gespräch über dieses Thema.

       «Ich kann das jetzt noch nicht sehen, Sarah. Wir müssen erst noch ein paar Sachen herausfinden, damit ich ein Muster bilden kann. Dann kann ich die Antwort auf deine Frage vielleicht darin erkennen.«

       Also schrieb er ihr eine lange Liste von Fragen auf, deren Antworten sie zu den beiden Fällen zusammentragen sollte. Sarah zog los und versuchte ihre Antworten-Liste zu vervollständigen. Einiges wusste sie selbst, die meisten Fakten konnten von Dalberg beigetragen werden, der zunächst skeptisch und ablehnend reagierte, später aber seine Meinung änderte und nun ebenfalls daran interessiert schien, Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit zu bringen. Was dann noch unklar blieb, konnte sie vom Rest des Klinikpersonals und natürlich von Shira erfragen. Nach drei Tagen war die Liste komplett und Marc nahm sie bei ihrem nächsten Treffen mit sichtlicher Freude in Empfang. »Danke Sarah. Ich werde gleich ein Muster daraus machen, damit wir wissen ob es ein einzelner Mörder war oder nicht.« Entsprechend kurz fiel an diesem Tag ihr Treffen aus.

       Sie gingen noch kurz die Liste durch, zu der auch einige Fotos aus dem Polizeibericht gehörten. Marc notierte was er auf den Fotos gesehen hatte und gab sie anschließend wieder zurück, da er ein fast fotografisches Gedächtnis besaß und Sarah die Bilder nicht so gerne aus der Hand geben wollte. Nachdem sie noch eine Kopie der Liste gemacht hatte, um bei Gelegenheit darauf zurückgreifen zu können, gab sie Marc das Original wieder zurück und dieser verschwand rasch auf seinem Zimmer und widmete sich seiner Lieblingsbeschäftigung, der Erstellung von Mustern.

       Auch Sarah ging anschließend in ihr Büro, um an einem Bericht weiterzuschreiben. Wie immer stellte sie sich zunächst einmal ans Fenster, um die grandiose Aussicht zu genießen, die sie immer noch faszinierte. Für kurze Augenblicke verlor sich ihr Blick als auch ihre Gedanken in der Ferne, bis sich etwas Störendes unscharf in ihr Blickfeld schob. Sie drehte sich zur Seite und erblickte einen gelben Klebezettel mitten auf ihrem Computermonitor. In einer ausgesprochen formschönen Schrift, die ihr sofort ins Auge gefallen war, las sie die folgenden Worte:

       »Es gibt nur eine Wahrheit, aber es gibt unendlich viele Blickwinkel, um sie zu betrachten. Wer die Wahrheit sucht sollte zunächst die Augen schließen und nach innen blicken. Hüte dich vor den wilden Tieren.«

      7

      Es war stockfinster und ich konnte auch keinen Laut mehr hören. Es war nicht einfach zur Realität zurückzukehren, denn mein Gefühl sagte mir eindringlich, dass ich kilometerhoch über dem Erdboden schwebte. Mehrmals schrie ich: »Patrick! Daria!« Keine Reaktion. Zunächst nahm ich an, dass es sich um einen weiteren Scherz von Patrick handelte, denn mittlerweile traute ich ihm jeden groben Unfug zu, mit dem er mich schocken könnte. Nachdem ich jedoch mindestens fünf Minuten nichts gehört hatte, machte ich mir doch langsam Sorgen. Ich zog zunächst einmal die Brille ab, was mir jedoch nicht im Geringsten weiter half, denn in der Kammer gab es einfach kein Licht. Nun kam der schwierigste Teil, denn ich hing ja immer noch in dem Tragegestell fest und konnte nicht sehen, wie man es wieder lösen muss. Nach etlichen Tastversuchen gelang es mir mit der rechten Hand einen Verschluss am linken Handgelenk zu erkennen und nach ein paar Minuten hatte ich ihn endlich geöffnet. Nachdem ich das Prinzip der Verschlüsse begriffen hatte, war das Lösen des restlichen Tragegestells ein Kinderspiel. Es kostete allerdings einiges an Überwindung, mich endgültig daraus zu befreien, denn mein Gefühl sagte mir immer noch, dass ich in luftiger Höhe über den Wolken hing. Die erste Berührung mit dem festen Boden wirkte daher unglaublich beruhigend. Ich ging zur vorderen Luke und hieb mehrfach mit der Faust dagegen. »Macht endlich auf! Oder wollt ihr mich hier drin etwa verhungern lassen?« Immer noch keine Reaktion. »Teufel nochmal«, dachte ich. »Es gab doch gar keine Möglichkeit die Tür von innen zu öffnen.«

       Als ich vorsichtig über die Wände tastete, konnte ich in der vorderen rechten Ecke eine Art Riegel ertasten. Verwundert hielt ich inne. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Mein letzter Versuch die Tür zu öffnen war ja in der virtuellen Umgebung. Offensichtlich hatte mir Patrick dort jede Fluchtmöglichkeit genommen. Hier jedoch hatte ich die Chance zu entkommen und zog vorsichtig am Riegel. In der Erwartung eines weiteren Fehlschlages war ich nun fast überrascht, dass die Tür sich sofort und ohne Widerstand öffnete. Das half mir zunächst nur geringfügig weiter, denn in dem äußeren Raum war es ebenso finster. Offensichtlich war der Strom ausgefallen und auch die zahllosen Leuchtdioden