Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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Platz zwischen Boden und Decke war mittlerweile nur noch knapp drei Fuß hoch, so dass er nur noch auf allen Vieren kriechen konnte. »Ihr habt ihn also umgebracht!«, schrie Sarah nun laut und löste sich von dem Mikroskop. »Ja Signora, das ist bedauerlich«, sagte Shira nun, »aber es war unvermeidlich, um hinter sein Geheimnis zu kommen.«

       »Das ist Mord!«, schrie Sarah und schlug mit der Faust auf den Tisch mit dem Glaszylinder, worauf sich der Kopf nach oben drehte und die Augen öffnete. Sie blickte in ihr eigenes vom Entsetzen gezeichnetes Gesicht und - wachte schweißgebadet auf.

       Sie saß noch eine Weile zitternd in ihrem Bett und versuchte den Traum zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Die Bilder waren zu intensiv, um sie schnell zu vergessen. Schließlich drehte sich der Traum um die Geschehnisse der vergangenen Tage und um das Rätsel, das sie zu lösen versuchte und so kreisten ihre Gedanken immer wieder um das gleiche Thema. Sie nahm ein ausgedehntes Bad während die Musik in ihrem Wohnzimmer laut gestellt war, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Wenn sie traurig oder seelisch aufgewühlt war wie jetzt, hörte sie am liebsten kubanische Salsa-Musik, die sie mit ihren unbeschwerten Rhythmen wieder fröhlich stimmte. Auch nach dem Bad ließ sie die Musik weiterlaufen, und setzte sich an ihren Schreibtisch um ihre Gedanken zu sortieren und um den Traum aus einer nüchternen Perspektive zu betrachten. Draußen hatte es zu regnen begonnen, und die nassen Fensterscheiben zeigten ein verschwommenes Bild der im Dunkeln liegenden Landschaft. Das laute Trommeln der Regentropfen auf dem Vordach war jedoch nur zu hören, wenn eine Pause zwischen den Liedern es zuließ. Sarah blickte auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch. Sie war ein Geschenk von Erik zu Ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag gewesen und in ihrem Inneren befand sich ein Radfahrer aus Draht, der sich unermüdlich gegen den Lauf der Zeit abstrampelte, ohne jemals anzukommen, denn er fuhr immer im Kreis herum. Auf der Straße standen die Worte: »Der Weg ist das Ziel.« Er hatte es ihr damals geschenkt, weil sie wie eine Besessene mit dem Fahrrad durch die Gegend fuhr und es abgelehnt hatte, wie er es üblicherweise tat, bei jeder Gelegenheit den Wagen zu nehmen. Im Moment jedoch schien der Radfahrer ihre Gedanken zu symbolisieren, die sich immer wieder im Kreis drehten, ohne jemals weiter zu kommen. Es war inzwischen drei Uhr zweiunddreißig in der Nacht und Sarah glaubte nicht, dass sie noch einmal an Schlaf denken konnte. Sie nahm noch einmal die Kopie der Liste zur Hand, die sie für Marc zusammengestellt hatte, und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, was ihr jedoch nicht gelang. Doch plötzlich hielt sie inne, denn ihr war etwas sehr Merkwürdiges aufgefallen.

      9

      Im Vergleich zu dem Tag, an dem ich bei Carl Kramer in letzter Minute Zuflucht vor dem Unwetter fand, was nur der Auftakt zu einer beängstigenden Abfolge von Ereignissen war, erschien die darauf folgende Zeit geradezu langweilig. Keine merkwürdigen Zufälle, die mich verblüfften, niemand schoss auf mich und keine simulierten Welten, die am Ende in sich zusammenbrachen.

       Es war mir übrigens immer noch nicht gelungen zu Patrick Kontakt aufzunehmen. Die Telefonnummer existierte zwar, aber es hob niemand ab und in seiner Firma wollte man ihn nicht kennen. In seine Wohnung habe ich mich nicht mehr getraut, schließlich bin ich nicht sonderlich scharf darauf mit einer Beule am Kopf aufzuwachen oder vielleicht gar nicht mehr. Als Erinnerung an diesen Tag ist mir lediglich der Metallzylinder geblieben, den ich trotz vieler Versuche nicht öffnen konnte, um ihm sein verborgenes Geheimnis zu entlocken. In der Mitte zeigt sich ganz schwach, aber eindeutig eine Naht, die darauf schließen lässt, dass er sich in zwei Hälften zerlegen lässt. Grobe Gewalt schien nicht die Lösung zu sein, denn ich habe versucht ihn mit einem Flaschenzug auseinander zu ziehen. Auch Aufschrauben war völlig unmöglich, weder im Uhrzeigersinn noch in Gegenrichtung. An der Nahtstelle war eine kleine Delle, die wohl beim Sturz aus dem Fenster entstanden sein muss. Vielleicht sorgte diese Verformung dafür, dass sich der Zylinder nicht mehr öffnen ließ. Es schien auch kein verborgener Mechanismus zu existieren, den man betätigen muss damit er sich öffnet. Ich habe jemanden am Flughafen dazu überreden können, dass ich mir den Zylinder mal unter dem Scanner der Gepäckkontrolle ansehen konnte, aber das hat mir auch nicht richtig weitergeholfen. Es waren zwar ein paar Details an einem Ende des Gehäuses zu erkennen, die auf etwas Elektronisches hinzudeuten schienen, aber ohne Fachkenntnis kam ich hier nicht weiter. Und Patrick, der mir möglicherweise als Einziger weiterhelfen konnte, war nicht erreichbar. So verstaute ich also den rätselhaften Zylinder in meinem Kleiderschrank und vergaß langsam, dass ich ihn besaß, nicht aber den regnerischen Tag, an dem er mir in die Hände fiel. Ich beschäftigte mich wieder mit dem Verfassen von Artikeln für die regionale Zeitung und natürlich mit dem Buch über Wahrnehmungsstörungen, das ich zu schreiben begonnen hatte. Meine Erlebnisse gaben mir reichlich Futter und beflügelten meine Fantasie. Nach einiger Zeit jedoch fing dieser Tag an seine akute Präsenz zu verlieren und schickte sich an in meinen Erinnerungen abzutauchen, als ich jäh aus meinem Schlaf des Vergessens gerissen wurde und sich die Ereignisse wieder förmlich überschlugen. Es war an einem Dienstagabend, ein Tag, der für gewöhnlich kaum Publikum ins Déjà-vu lockte und so war es auch an diesem Abend recht übersichtlich und die Gäste verursachten wenig Stress. Solche Tage sind immer willkommen, denn sie versprechen einen frühen Feierabend, da die meisten Menschen kein Beharrungsvermögen zeigen, wenn die Menge eine kritische Masse nicht überschritten hat. Ich nutzte die Gunst der ruhigen Stunde, um dem Arsenal an Gläsern eine Generalreinigung angedeihen zu lassen und polierte gerade mit pedantischer Hingabe die Bierkelche, als ich sie sah. Es war die Frau, die auf mich geschossen hatte und jetzt in schockierender Realität durch die Tür kam und sich nach einem Platz umschaute. Es hatte keinen Zweck sich noch schnell zu verstecken, denn wer das Déjà-vu kennt, der weiß dass es sehr übersichtlich gestaltet ist und eine hastige Flucht wäre sofort offenbar geworden. So verhielt ich mich ruhig, immer noch darum bangend, dass sie mich nicht erkennen würde, aber diese vage Hoffnung wurde in der Sekunde zerschlagen, in der sich unsere Blicke trafen. Sie hatte mich sofort wiedererkannt, änderte ihr Verhalten und kam geradewegs auf mich zu. Zu Eis erstarrt verharrte ich auf der Stelle, war aber bereit, beim leisesten Verdacht auf eine hervorgezogene Waffe in Deckung zu springen. Aber wie schon auf der Straße schien sie eher erfreut darüber zu sein, mich zu sehen, als dass sie mir an den Kragen wollte. »Können wir reden?«, fragte sie und ich erinnerte mich sofort wieder an ihre dunkle, rauchige Stimme. »O.K.«, brachte ich gerade noch hervor und deutete auf einen der Tische, die ein wenig abseits lagen, obwohl höchstens noch fünf oder sechs weitere Gäste anwesend und momentan mit sich selbst beschäftigt waren. »Haben Sie es noch?«, fragte sie, als wir uns gesetzt hatten. Ich hatte immer noch das Geschirrhandtuch in der Hand und faltete es nun unbewusst zusammen, um über den Tisch zu wischen. »Was meinen Sie?«, erwiderte ich, da ich zunächst ein wenig auf dem Schlauch stand. Aus irgendeinem Grund brachte ich auch jetzt den Metallzylinder nicht mit der Frau in Zusammenhang.

       »Das Utsúwa natürlich.«

       »Ach Sie meinen diesen merkwürdigen Metallzylinder«, sagte ich nun etwas scheinheilig. »Warum wollen Sie das wissen?« Sie zögerte nur eine Sekunde und erwiderte dann: »Weil es mir gehört. So einfach ist das. Ich hätte es gerne wieder, wenn Sie so freundlich wären?«

       »Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?«, wollte ich nun wissen.

       »Ich bin nur rein zufällig hier vorbeigekommen. Dass ich Sie hier antreffen würde, hätte ich nicht im Geringsten erwartet. Aber nun zurück zu meiner Frage. Haben Sie das Utsúwa noch oder nicht? Denn wenn nicht, dann kann ich ja gleich wieder gehen.«

       Sie hatte mich also doch gesucht, denn wenn sie aus einem anderen Grund ins Déjà-vu gekommen wäre, dann würde sie nicht zwangsläufig wieder verschwinden, falls ich das Ding nicht mehr hätte und das bedeutete, dass es sich hier wohl um einen sehr wertvollen, in jedem Fall aber wichtigen Gegenstand zu handeln schien. Ich konnte sie schlecht einschätzen, vielleicht würde sie versuchen mich aus dem Weg zu räumen, wie bei unserer ersten Begegnung. Es schien mir das Beste zu sein, mangelndes Interesse zu heucheln und wischte daher noch mal sorgfältig über Bank und Stühle, bis ich recht beiläufig meinte, dass ich das Utsu-Dingsda nicht mehr hätte: »Ich habe versucht es zu öffnen, aber leider ohne Erfolg. Da hab’ ich es einfach weggeworfen.«

       Ihre Reaktion darauf war jedoch gänzlich unerwartet und schien meine Einschätzung der Situation Lügen zu strafen. Sie wurde sichtlich blass, während ihr das Kinn herabsank und meinte nur verzagt: »Verdammt! Das habe ich befürchtet. Das war’s dann wohl. Danke