Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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irgendwo im Raum war. Aber da war niemand. Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, während sie begann die Nachricht zu lesen.

       »Was bist du? Was macht dich zu dem was du bist? Es ist deine Wahrnehmung und die Erinnerung an Wahrgenommenes. Ständiges Wahrnehmen verändert die Struktur deines Gehirns, bis das Gehirn ein getreues Abbild dieser Wahrnehmung geworden ist. Bewegst du deinen Arm und zeigst mit dem Finger auf deine Brust, dann wird ein Teil deines Gehirns aktiv, der das exakte Abbild dieser Bewegung ist. Schon wenn du nur daran denkst es zu tun, wird dieser Teil des Gehirns aktiv. Wenn du etwas siehst, dann prägen sich die Muster auf der Netzhaut in die Sehrinde ein und du kannst dieses Muster später verwenden um neue und alte Eindrücke miteinander zu vergleichen. Immerfort strömen über all deine Sinne Informationen ein, die dein Gehirn und damit auch dich selbst ständig verändern. Du siehst dich selbst als isoliertes Individuum, das mit Kamera und Mikrofon die Welt erfährt, aber das bist du nicht. Du bist ein Teil dieser Welt und diese Welt ist in dir. Durch deine Handlungen aber veränderst Du die Welt; du prägst sie durch deinen Willen. Ihr seid ein und dasselbe, du und die Welt. So lebt ihr also in harmonischer Symbiose und durchdringt euch gegenseitig wie das Salz und die Suppe. Aber diese Harmonie kann auch gestört werden. Hüte dich vor den wilden Tieren.«

       Sarah konnte es nicht fassen. Irgendjemand versuchte sie zu belehren und ihr seine Theorien über die Wahrnehmung unterzuschieben. Warum hatte er gerade sie ausgesucht und welches Ziel verfolgte er. Er, oder sie! Vielleicht war es ja auch eine Frau; die wunderschöne Handschrift ließ diesen Schluss durchaus zu. Ihr Gefühl sagte ihr aber, dass der Verfasser männlich war, ohne dies im Besonderen begründen zu können. War es jemand der wusste, dass sie sich um die Aufklärung der Todesfälle bemühte und ihr versteckte Hinweise geben wollte? Oder wollte sich jemand nur aufspielen, um sie zu beeindrucken? Tatsache aber war, dass er ein feines Gespür für den geeigneten Augenblick zu haben schien, denn gerade heute hatte sie diese Unstimmigkeit ihrer eigenen Beobachtungen mit der offensichtlichen Tatsache auf dem Foto zur Kenntnis nehmen müssen. Sarah beschloss die Botschaften, zumindest für diesen Moment zu ignorieren, auch wenn sie zugeben musste, dass sie deren Inhalt ebenso interessierte wie die Frage nach dem Verfasser. Aber alles zu seiner Zeit. Sie legte den Zettel zu der ersten Botschaft in ihre Schreitischschublade und schloss sie wie gewohnt ab. »Was meint er wohl mit: ›Hüte dich vor den wilden Tieren‹ «, überlegte sie noch, als sie sich schon auf dem Weg zu der täglichen Arbeitsbesprechung bei Roman Dalberg befand.

      11

      »Ich arbeite für eine Firma namens NOSAGÍ, ein japanischer Pharmakonzern, der sich unter anderem auf die Herstellung winziger Maschinen spezialisiert hat. In den letzten Jahren hat die Entwicklung in diesem Bereich dramatische Ausmaße angenommen. Japan ist das geistige Zentrum der Nanotechnologie und es gibt dort unzählige wissenschaftliche und industrielle Projekte, die sich mit der immer weiter fortschreitenden Verkleinerung selbstständig arbeitender Geräte beschäftigen. Bei NOSAGÍ hat man frühzeitig erkannt, dass die übliche, lithografische Methode zur Herstellung von Nanostrukturen, nämlich durch fotografische Verkleinerung und chemisches Ätzen, zwangsläufig in eine Sackgasse führt. Man hat hier schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts versucht, der Natur auf die Finger zu schauen und sich die biologischen Reproduktionsmethoden zu eigen zu machen. Mit der heutigen Technologie und dem Erfahrungsschatz der vergangenen Jahrzehnte hat es, eigentlich folgerichtig, einen wahren Quantensprung bei der Erzeugung von mikroskopisch kleinen Funktionseinheiten in fast unbegrenzten Mengen gegeben. Die Grundlage für den winzigen Maschinenpark bilden Viren, die man als Transportmittel verwendet. Mit Hilfe biochemischer Prozesse lassen sich diese Kleinstparasiten für jede nur erdenkliche Aufgabe umprogrammieren. NOSAGÍ hat auch Forschungseinrichtungen hier in Europa angesiedelt, einerseits um möglichst viel Know-how außerhalb Japans zu sammeln und andererseits natürlich, um auch hier nationale Forschungsgelder locker zu machen. Die Einrichtung, in der ich arbeite, ist auf neuronale Aktivitäten spezialisiert. Man hat sich dort zum Ziel gesetzt, neuronale Krankheiten, wie z.B. Parkinson oder Alzheimer, auf direktem Wege zu reparieren. Auf dem Weg dahin muss man zunächst einmal verstehen, wie das Gehirn überhaupt arbeitet. Man muss die Funktion der biochemischen Prozesse erlernen, um sie später zu beherrschen. In Tierversuchen hat man die sogenannten Neurotransmitter bereits durch steuerbare Nanotransmitter, sogenannte Sprites1, ersetzt.

      [1 Superior Perception by Remote Induced Thalamus Excitation.

       Abkürzung für: Außergewöhnliche Wahrnehmung durch äußerlich induzierte Anregung des Thalamus. Der Thalamus ist die Schaltzentrale des Gehirns für eingehende Sinneseindrücke.

       Außerdem: engl. Sprite = Geist, Kobold]

      Durch die Ansteuerung bestimmter Bereiche des Gehirns konnte man die unterschiedlichsten Wahrnehmungen bei den Tieren erzeugen. Zum Beispiel konnte durch das Recording der Hirnaktivität, zum Beispiel einer Katze, die eine Maus wahrnahm, bei späterer Aktivierung der gleichen Areale durch die Sprites auch wieder die gleiche Wahrnehmung simuliert werden. Diese Versuche waren, wie schon erwähnt, nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Beherrschung der Gehirnfunktionen. Das eigentliche Ziel, nämlich die Reparatur eines kranken Gehirns lag noch in weiter Ferne. Doch dann geriet das Projekt außer Kontrolle. Einer der Mitarbeiter verabreichte sich aus Versehen eine Dosis Nanotransmitter und entdeckte dabei, dass man seine Sinne mit dieser Methode auf eine erschreckende Weise erweitern konnte. Er konnte plötzlich viel mehr Nuancen in den Farben erkennen als jemals zuvor. Beim Hören eines Musikstückes offenbarte sich ein nie geahnter Facettenreichtum an Harmonien und er konnte mit einem Schlag Gerüche unterscheiden und analysieren, von denen er vorher nie geahnt hatte, dass sie überhaupt existieren. Es war also keine quantitative Verbesserung seiner Sinnesorgane, was auch selbstverständlich nicht zu erwarten war, vielmehr steigerte sich die Qualität seiner Sinneseindrücke ins Unermessliche. Dies ist eine Erfahrung, die dem Genuss von Drogen nicht unähnlich ist und ich muss wohl kaum erwähnen, dass man danach süchtig werden kann.«

       Nuria hielt einen Augenblick inne und sah mich durchdringend an. Doch bevor ich meine Gedanken gesammelt hatte und in der Lage war, das Gehörte zu kommentieren, fuhr sie fort:

       »Diese Steigerung der Sinneswahrnehmung funktioniert jedoch nur, wenn die Sprites einmal von außen koordiniert wurden, um an den richtigen Stellen im Gehirn aktiv zu werden. Ist diese Kontrolle nicht vorhanden, dann sind die Sprites zwar aktiv, aber sie konzentrieren sich nicht auf eine bestimmte Funktion, sondern verteilen sich eher zufällig in der Großhirnrinde und verursachen die unterschiedlichsten Wahrnehmungsstörungen. Dummerweise gab es jemanden, der trotz der hohen Geheimhaltungsstufe geplaudert hatte. Wahrscheinlich hat er seine Informationen teuer verkauft. Es ist zwar zum Glück noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt, aber es gab mindestens einen Interessenten, eventuell von einer Konkurrenzfirma, der versucht hat, an die Unterlagen heran zu kommen. Zum Glück ist das nicht gelungen, da keiner der relevanten Rechner vernetzt ist und sämtliche Daten auf Wechselplatten gespeichert sind, die nachts in einen Safe eingeschlossen werden. Bei einem Einbruchsversuch vor einigen Monaten konnte nichts entwendet werden. Zwei Tage, bevor wir uns zum ersten Mal begegnet sind, wurde jedoch ein zweites Mal in die Laborräume eingebrochen. Auch jetzt konnten keine Daten entwendet werden, aber der Täter hat ein Utsúwa gestohlen, in dem sich aktivierte Sprites befanden. Ob er herausgefunden hat wie man es öffnet, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich habe aber Grund zu der Annahme, dass er es getan hat. Was er aber sicherlich nicht wissen konnte ist, dass wir einen GPS Sender in jedes Utsúwa eingebaut haben. Auf diese Weise ist es mir gelungen, ihn ausfindig zu machen.«

       »Über das GPS hättest du auch mich schneller finden können. Außerdem hättest du wissen müssen, dass dieses Utsúwa noch in meinem Besitz ist. Warum hast du mir die Unwissende vorgespielt?«, sprudelte es jetzt aus mir heraus.

       »Ganz einfach«, erwiderte sie. »Das GPS hat wohl den Sturz nicht überstanden. Ich konnte keine Signale mehr empfangen.« Nachdem sie mich prüfend angesehen hatte, wahrscheinlich um herauszufinden, ob ich mit ihrer Antwort zufrieden war, fuhr sie mit der Erzählung fort.

       »Der Dieb war japanischer Abstammung und studierte an der hiesigen Universität Informatik. Ich hatte ihn beobachtet, als er seine Wohnung verließ, um in dem Supermarkt um die Ecke, etwas einzukaufen. ›Zufällig‹ sind wir dort zusammengestoßen und mir sind ein paar Dinge aus der Hand gefallen, die er wieder aufgehoben hat, während