Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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den wir aber völlig automatisiert und eher unbewusst betreiben. Es sind kleinste Nuancen in der Körperhaltung oder minimale Gesten, wie ein leichtes Stirnrunzeln oder Schulterzucken, ganz zu schweigen von den vielfältigen Bewegungen der Hände, die das Gesagte entweder unterstreichen, eindeutig machen, oder gar ins Gegenteil verkehren. So kann ein angedeutetes Augenzwinkern bedeuten: »Achtung ich lüge gerade!«, was zum Beispiel in Gesellschaft einer dritten Person nützlich sein kann, die diese Geste nicht sieht.

       Auch die kleinen Unterschiede in der Betonung von Worten kann die Bedeutung der Aussage drastisch verändern, was wir dann im Zusammenhang als ironisch oder sarkastisch begreifen. Das kleine Wörtchen ›Danke‹ ist ein gutes Beispiel dafür. Wir sprechen es kurz, wenn wir uns beiläufig für etwas bedanken wollen, etwa für das Anreichen der Butter am Frühstückstisch. Sprechen wir es übertrieben lang aus, dann bedeutet das schon, dass wir es gar nicht so meinen, etwa wenn wir einen überflüssigen Ratschlag bekommen. Dann heißt es so viel wie: »Danke du Idiot, darauf wäre ich auch selbst gekommen!« Sprechen wir das Wort in zwei getrennten Silben ganz hart aus: »Dan-ke!« und betonen vielleicht noch die zweite Silbe, dann kann es heißen: »Warum erst jetzt? Wo warst du, als ich dich dringend gebraucht habe?« Sprechen wir es aber ganz weich aus, legen etwas mehr Gewicht in die erste Silbe und erzeugen damit die Betonung einer Frage, dann drücken wir Dank für eine unerwartete Hilfe aus und lassen gleichzeitig Sympathie für den Helfer erkennen.

       Dies alles sind Feinheiten der Kommunikation, die wir beherrschen, ohne dass es uns direkt bewusst wird.

       Für Marc jedoch waren diese Gesten und Betonungen völlig unverständlich. Ihm fehlte ein bestimmter Teil des Abstraktionsvermögens, der notwendig ist, um aus der Gesamtheit der Worte und Gesten ein zusammenhängendes Bild zu konstruieren. Wir kennen diese Situation, wenn wir einen Satz in einer Fremdsprache hören oder lesen und jedes einzelne Wort verstehen können. Die Aussage des Satzes bleibt uns aber völlig verborgen, weil uns eine bestimmte Information fehlt, die diesen Satz in einen anderen Zusammenhang stellt. In gleicher Weise verhält es sich mit dem Verständnis visueller Eindrücke.

       So war Marc zwar in der Lage seine Mitmenschen an ihren Gesichtern zu unterscheiden, denn es sind voneinander unabhängige Merkmale, die ein Gesicht individuell machen, aber die Interpretation eines Gesichtsausdrucks blieb ihm völlig verborgen.

       Das soll aber nicht heißen, dass seine Welt in Bezug auf die Wahrnehmung komplexer Zusammenhänge ärmer war, denn seine Interpretation der sinnlichen Eindrücke war einfach nur anders. Während wir ununterbrochen damit beschäftigt sind, unsere Sinneseindrücke zu abstrahieren, sie zu vereinfachen und zu etikettieren, um sie sofort in eine Schublade einordnen zu können, zerlegte Marc alles was er an Informationen sammelte in kleine Teile, die er mit einer Fähigkeit, die uns wiederum nicht zu eigen ist, überblicken konnte. Mit dieser Methode war es ihm möglich, Feinheiten aus einem Gesamtbild zu extrahieren, die man sonst völlig übersehen würde. Betrachtet man zum Beispiel das Bild ›Spanien‹ von Salvatore Dali, so erkennt man den Umriss einer Frau, die sich mit dem Arm auf eine Kommode lehnt. Die Frau hätte Marc auf diesem Bild nicht entdecken können, wohl aber die vielen kleinen Menschen und Pferde, die in einen Reiterkampf verwickelt sind oder an irgend einer Stelle im Bild herumstehen, um die Umrisse eben dieser Frau darzustellen. Der künstlerisch interessante Aspekt dieses Kunstwerkes, nämlich die optische Doppeldeutigkeit, wäre ihm zwar verborgen geblieben, dafür hätte er aber auf Anhieb sagen können, wie viele Personen auf dem Bild zu finden waren, und er hätte auch nach Jahren noch sagen können, dass aus der Schublade der Kommode ein Tuch heraushängt und dass dieses Tuch von roter Farbe ist.

      Genau dieser holistische Blickwinkel war es, den Sarah immer aufs Neue an Marc faszinierte und sie hatte sich auch schon an seine Marotten gewöhnt. Was sie allerdings heute zu sehen bekam, als sie ihn in seinem Zimmer aufsuchte, verschlug ihr doch die Sprache. Er hatte eine komplette Wand von Bildern und Möbeln freigemacht, um sie mit den Hinweisen zu bestücken, die er mit Sarahs Hilfe zusammengetragen hatte. Die Wand ähnelte einer gigantischen Collage mit einer Vielzahl von kleinen Zetteln, auf die Marc etwas geschrieben hatte sowie Ausschnitte der spärlichen Zeitungsartikel, die über die Todesfälle erschienen waren. Manche Blätter waren mit einem dicken Stift eingekreist worden, andere wurden mit Pfeilen versehen, die insgesamt ein wirres Bild von Verknüpfungen erzeugten. Für Sarah war es ein heilloses Durcheinander und sie musste erst einmal einen Schritt zurücktreten, um sich von diesem Chaos nicht überwältigen zu lassen. Sie kannte zwar Marcs Denkweise, aber trotzdem hatte sie fälschlicherweise erwartet, dass er die Informationen in einer Art Tabelle auftragen würde, um eine vereinfachte Struktur zu erzwingen. Das wäre wohl die übliche Vorgehensweise gewesen, aber nicht für Marc und seine ganz besondere Art, Muster zu erkennen.

       Stattdessen hatte er sämtliche Erkenntnisse in die Atome ihres Informationsinhalts zerlegt und über der ganzen Wand ausgebreitet.

       Marc selbst war jedoch nirgends zu entdecken und Sarah musste zweimal nach ihm rufen, bis sie ein Lebenszeichen von ihm zu hören bekam. Er hatte sich wieder in den Wandschrank gesetzt, um ein Buch zu lesen. Dies war einer seiner beliebtesten Plätze. Der Schrank besaß eine eingebaute Beleuchtung und bot ihm so jeden Komfort, den er brauchte, wenn er sich aus der Welt seiner Mitmenschen zurückziehen wollte, was er mindestens einmal pro Tag praktizierte. Wenn er sich dann in ein Buch vertiefte, verschwand das Universum um ihn herum einfach, oder vielleicht verschwand auch er aus diesem Universum. Ungewöhnlich war jedoch, dass er darüber heute den Termin mit Sarah verpasste, denn Marc war die Pünktlichkeit in Person.

       »Hallo Sarah«, begann er. »Es tut mir leid, dass ich nicht an unsere Verabredung gedacht habe. Ich hoffe du bist nicht böse deswegen.«

       »Nein, ich bin nicht böse«, beruhigte ihn Sarah. »Du bist ja hier. Das ist schon in Ordnung.«

       Trotzdem interessierte sie der Grund für seine ungewohnte Vergesslichkeit.

       »Liest du gerade ein interessantes Buch?«, fragte sie daher. »Es muss wohl sehr spannend sein.«

       »Ja, das ist es«, erwiderte Marc. »Es ist ein Kriminalroman.«

       »Worum geht es denn in dem Buch?«

       »Es geht um Leute, die einen mysteriösen Brief bekommen mit dem sie auf eine Insel gelockt werden, wo dann einer nach dem anderen umgebracht wird.«

       »Ich schätze, dass es sich um ›Zehn kleine Negerlein‹ von Agatha Christie handelt«, wusste Sarah.

       »Ja, das ist es. Es ist unglaublich spannend und es erinnert mich ein bisschen an unsere Fälle, findest du nicht?«

       »Na, ich hoffe nicht. Zwei Tote genügen meiner Meinung nach völlig. Was hast du übrigens über unsere Todesfälle herausgefunden? An der Wand hier kann man erkennen, dass du dich sehr intensiv damit beschäftigt hast.« Sie zeigte auf die völlig mit Notizzetteln übersäte Zimmerwand. »Ja das habe ich wirklich, Sarah. Ich habe die Fälle ›dekongruiert‹. Das Wort dazu habe ich selbst erfunden, es bedeutet dass man Dinge, die sich in einer bestimmten Weise überdecken, auseinanderzieht und nebeneinander anordnet, damit man sie getrennt voneinander betrachten kann.«

       »Diese Methode benötigt eine Menge Platz«, warf Sarah ein, aber Marc konnte den leichten Sarkasmus nicht wahrnehmen und erwiderte ernst: »Das stimmt, aber jetzt kann ich Einzelheiten sehen, die vorher miteinander verschmolzen waren.«

       »Und was ist das Ergebnis deiner Nachforschungen?«, wollte Sarah nun wissen.

       »Keine Kongruenz«, antwortete Marc knapp.

       »Wie? Soll das etwa heißen, dass die beiden Fälle nichts gemeinsam haben?«, Sarah war überrascht. »Immerhin sind die beiden Toten hier in der Klinik gefunden worden. Ist das keine Gemeinsamkeit?«

       »Doch, das ist eine Gemeinsamkeit, aber sie ist eine notwendige Bedingung, damit wir uns überhaupt damit beschäftigt haben. Damit scheidet sie für die Betrachtung aus.«

       Das machte Sarah nun nachdenklich.

       »Die Fälle sind einfach zu unterschiedlich«, ergänzte Marc. »Liegen zeitlich weit auseinander, anderes Geschlecht, andere Hautfarbe, andere Todesart und so weiter. Es könnte einen Zusammenhang geben, aber keines der Indizien lässt darauf schließen.«

       »Angenommen du betrachtest jeden Fall getrennt«,