Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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ihn dann mit ein paar unbeholfenen japanischen Worten zum Lachen gebracht. Offensichtlich hat er keinen Verdacht geschöpft und wir sind zusammen in seine Wohnung gegangen, damit er mir die Fotos zeigen konnte, die er während der letzten Semesterferien zuhause noch gemacht hatte. Doch ich hatte mich verrechnet. Offensichtlich gab es mindestens eine weitere Interessensgruppe, die über die Sprites Bescheid wusste und hinter dem Utsúwa her war. Als wir gerade gemütlich zusammen saßen und darüber redeten, wie sich seine Heimatstadt Kobe in den letzten Jahren verändert hatte, wurde die Wohnungstür brutal eingetreten und zwei Männer in schwarzen Mänteln kamen hereingestürmt. Mein neuer japanischer Bekannter war aber offensichtlich darauf vorbereitet. In einer einzigen fließenden Bewegung sprang er vom Sofa und stürzte sich den Männern entgegen, die zwar ihre Waffen gezogen hatten, aber nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet hatten. Einen der beiden Angreifer konnte er mit einem geschickten Fußtritt sofort außer Gefecht setzen, der zweite konnte zwar ausweichen, verlor aber die Kontrolle über seine Waffe und stürzte schwer zu Boden. Statt sich weiter um den zweiten Mann zu kümmern oder gar durch die offene Haustür zu flüchten, öffnete der Japaner eine Schublade und nahm das Utsúwa heraus, um schließlich zum Fenster zu laufen, das er hastig öffnete. Dann aber machte er etwas, das mich völlig verblüffte. Er schob den Esstisch an das Fensterbrett, schwang sich auf den Tisch. Das Utsúwa nahm er in die linke Hand und dann fing er an zu balancieren. Er setzte die Füße voreinander, als ob er auf einem schmalen Balken entlang laufen würde und hielt sich mit der freien rechten Hand an einem imaginären Halteseil fest, dabei schwankte er hin und her, als ob der Balken unter seinen Füßen schwanken würde. Der Tisch aber stand felsenfest und rührte sich kein bisschen. Auf dem Weg zum Fenster schaute er sich zweimal ängstlich nach den beiden Angreifern um, die aber immer noch benommen am Boden lagen. Dann stürzte er ab.«

       Ich musste feststellen, dass Nuria die Begabung hatte, einen Sachverhalt fesselnd darzustellen und zu einer spannenden Geschichte zu verknüpfen. Während ich ihr zuhörte, begann sie mich einerseits zu faszinieren, andererseits wuchs in mir ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt ihrer Ausführungen. Sie schien meine kritischen Blicke jedoch nicht wahrzunehmen oder ignorierte sie einfach und ließ sich in ihrem Redefluss nicht bremsen.

       »Ich raste zum Fenster, schaute nach unten und konnte ihn nur noch verkrümmt am Boden liegen sehen. Und an dieser Stelle kamst du ins Spiel. Du hast direkt neben ihm gestanden, während das Utsúwa langsam in deine Richtung rollte. Als du es an dich genommen hast, habe ich sofort vermutet, dass du zu den beiden Angreifern gehören würdest. Mantel und Hut waren in dieser Situation ein ausreichendes Indiz.

       Außerdem hast du genau das an dich genommen, was ich unbedingt wiederbeschaffen wollte. Ich rannte zur Wohnungstür und nahm im Laufen, ohne darüber nachzudenken, die Waffe auf, um dann weiter durch das Treppenhaus nach unten zu stürzen. Den Rest der Geschichte, zumindest was deinen Teil angeht, kennst du ja. Mich allerdings haben die beiden nach einigen Minuten gestellt. Sie haben mir die Pistole abgenommen und mich untersucht, da sie nicht mitbekommen hatten, was eigentlich passiert war. Sie hatten geglaubt, dass der Japaner aus dem Fenster geklettert wäre, um von mir abzulenken, damit ich mit dem Utsúwa entkommen konnte. Ich habe ihnen gesagt, dass ihr Kumpel die Kapsel, wie sie es nannten, an sich genommen hätte, aber das verwirrte sie nun total und sie wollten genauer wissen, wen ich da wohl gesehen hätte. Ich erklärte ihnen den Sachverhalt und wir kehrten zum Treppenhaus zurück, aber du warst wie vom Erdboden verschwunden. Als die beiden, völlig verstört, das Haus verließen, konnte ich ihnen endgültig entkommen. Ich wusste nun, dass es eine dritte Partei gab, die jetzt im Besitz von Informationen über die Sprites war. Das schlimmste jedoch war, dass ich wahrscheinlich einen Menschen erschossen hatte, was mich schwer belastete. Der Schuss hatte sich viel leichter gelöst, als ich es erwartet hatte. Eigentlich wollte ich dir nur drohen, damit du das Utsúwa herausgibst, mehr wollte ich wirklich nicht.«

       Nach dieser unglaublichen Geschichte war ich selbst zunächst einmal sprachlos. Mir jagten tausend Gedanken durch den Kopf, aber es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder soweit im Griff hatte, dass ich daraus Fragen formulieren konnte. Während der ganzen Zeit, es müssen einige Minuten gewesen sein, schaute mich Nuria einfach nur an. Sie saß da, hatte die Hände vors Gesicht gelegt und beobachtete mich über ihre Fingerkuppen hinweg. Endlich lösten sich die ersten Worte von meinen Lippen und synthetisierten sich zu einer Frage.

       »Bin ich infiziert?«, entrann es mir zaghaft, beinahe ängstlich.

       »Ich glaube nicht, dass man es eine Infektion nennen kann, denn es werden keine Körperzellen befallen. Die Sprites bewegen sich frei zwischen den Gehirnzellen, aber sie dringen weder ein, noch zerstören sie etwas. Ob du Sprites in dir trägst kann ich noch nicht beantworten. Ohne die notwendigen technischen Hilfsmittel ist es unmöglich, sie nachzuweisen. Aber es ist möglich, indirekt ihre Wirkung festzustellen.«

       »Kann ich es selbst erkennen, ob ich befallen bin? Was würde ich empfinden?«

       »Du hättest keine Chance etwas zu bemerken. Unkontrollierte Sprites erzeugen Wahrnehmungsstörungen, die auf deinen Erinnerungen basieren. Also Halluzinationen, die wie echte Erlebnisse erscheinen. Manchmal sind es nur kleine Detailveränderungen der Wirklichkeit, manchmal ist es die Erschaffung einer vollständigen Welt. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob sie dir etwas vorgespielt haben, ist die nachträgliche Überprüfung der Erlebnisse. Deshalb werden wir an genau der Stelle anfangen deine Erinnerungen zu überprüfen, wo du das Utsúwa an dich genommen hast.«

       »Wie lange leben diese Dinger denn? Irgendwann müsste denen doch der Saft ausgehen. Kann man sie denn wieder entfernen?«

       Nuria verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse.

       »Das ist eben genau das Problem. Ich weiß es nicht. Die Übertragung auf den Menschen war noch nicht vorgesehen. Ich habe keinen blassen Schimmer, ob es eine Möglichkeit gibt, die Sprites wieder zu entfernen. Wenigstens sind sie so programmiert, dass sie sich in der menschlichen Umgebung nicht fortpflanzen können. Dazu benötigen sie einen künstlichen Botenstoff, den es in biologischen Organismen nicht gibt. Das einzige was sicher funktioniert, ist die gezielte Kontrolle der Sprites.«

       »Und womit kann man sie kontrollieren?«, wollte ich nun wissen.

       »Mit einem sogenannten Soju-No. Stell es dir wie ein Steuergerät vor, mit dem sich die Programmierung der Sprites verändern lässt. Es ist ein biophysikalischer Compiler.«

       »Hast du so ein Gerät?«

       »Nein«, meinte sie. »Zunächst müssen wir aber erst einmal herausfinden, ob wir es denn überhaupt benötigen. Ich schlage vor, dass wir uns morgen früh, sagen wir gegen neun Uhr, vor deiner Kneipe treffen und dann deinen Weg am Tag X noch einmal abgehen, um deine Erinnerungen zu überprüfen. Dann sehen wir weiter. Du solltest dir bis dahin diesen Tag noch einmal genauestens Revue passieren lassen, damit wir auch kleinere Details nicht übersehen.«

       »Gut«, erwiderte ich kurz, ohne es wirklich so zu meinen. »Was machen wir jetzt mit dem kaputten Metallzylinder?«

       »Den werde ich nun endgültig an mich nehmen, falls du nichts dagegen hast.«

       Ich zögerte nicht eine Sekunde, holte den Karton aus dem Schließfach und übergab ihn schnell an Nuria. Dabei hielt ich den Karton weit von mir, da ich mich vor dem Inhalt jetzt mehr fürchtete denn je. Eine völlig sinnlose Geste in Anbetracht der Tatsache, dass ich den Zylinder Tage zuvor mit Werkzeugen malträtiert und mit bloßen Händen angefasst hatte. Sollten jetzt doch Diamanten darin sein, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, dann hatte sie mir den größten Bären aller Zeiten aufgebunden und ich wäre auf den billigsten Trick hereingefallen. Aber als wir uns, fast hastig, verabschiedet hatten und ich ihr hinter dem zurückgezogenen Vorhang nachschaute, glaubte ich fest daran, dass sie nicht gelogen hatte.

      12

      Es war wieder einmal Zeit für die tägliche Therapiestunde mit Marc. Sarah genoss die Gesellschaft des jungen Mannes, auch wenn seine Gedanken und Gefühle ihr für immer fremd bleiben würden. Wahrscheinlich aber war es gerade die völlige Unvereinbarkeit ihrer Welten, die diese Gespräche so faszinierend machte. Allerdings war es auch oft zermürbend ihm ihre Sichtweise zu erklären, wenn es ihm an dem notwendigen Quantum an Intuition mangelte, das wir für selbstverständlich erachten.