Valérian Vandyke

Hüte dich vor den wilden Tieren


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wieder gehen.«

       »Es tut mir leid«, sagte Patrick nun etwas kleinlaut, »aber ich habe nicht erwartet, dass du so empfindlich darauf reagierst. Gib mir noch eine Chance, die Sache wieder in Ordnung zu bringen und hör’ mir einfach mal zu. Ich denke, dir ist nun klar geworden, warum wir die Simulationskammer Pool nennen. Es gibt zwei Gründe dafür, warum ich mich für diese Art der Simulation entschieden habe. Erstens bin ich ein leidenschaftlicher Taucher und zweitens lassen sich auf diese Weise einige Effekte leichter erzielen als in unserer gewohnten Umgebung. Durch die reduzierte Beleuchtung und durch die beschränkte Sichtweite unter Wasser reduziert sich auch die erforderliche Rechenleistung gewaltig. Du musst bedenken, dass es sich bei dieser Anlage um ein rein privates Vergnügen handelt. Und die Umsetzung deiner Bewegungen lässt sich einfacher bewerkstelligen. Als du durch die Kammer gewatet bist, hast du den echten Fußboden berührt und die echten Wände angefasst. Damit wäre die Simulation jedoch auf diesen Raum beschränkt. Das Einspannen deines Körpers in das Gurtsystem erlaubt es dir, waagerecht im Wasser zu schwimmen oder senkrecht nach oben oder unten zu tauchen. Damit erweitert sich der Aktionsradius ins Unendliche. In unserem großen Labor haben wir auch eine Möglichkeit in einer VR-Umgebung herumzulaufen. Es nennt sich Treadmill. Man kann darauf herumlaufen, ohne sich real von der Stelle zu bewegen, aber es ist riesig groß und äußerst kostspielig. Der haptische Anzug ist jedoch der gleiche, den wir in der Firma verwenden. Ich habe dir nicht ganz die Wahrheit gesagt. Er hat die Illusion deiner Bewegungen durch das Wasser noch realistischer wirken lassen. Dies sollte erst der Anfang deiner Reise durch die VR sein. Ich verspreche dir, dass ich ab jetzt keine Späße mehr mache und dass du es nicht bereuen wirst, wenn du mir die Gelegenheit gibst, es wieder gut zu machen.« Ich war tatsächlich noch geschockt von dem Erlebnis und geneigt der Sache ein Ende zu bereiten. Aber andererseits wusste ich nun, dass es nur eine perfekte Illusion gewesen ist und ich war einfach zu neugierig, um an dieser Stelle schon abzubrechen. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, räumte ich ein, dass der Scherz nicht ganz so übel gewesen ist. »Na gut«, sagte ich schließlich. »Ich gebe dir noch einmal die Möglichkeit dich zu rehabilitieren. Aber keine lebensbedrohlichen Situationen mehr.«

       »O.K.«, meinte Patrick. »Aber ganz ohne Würze wollen wir die Sache nicht ablaufen lassen. Du musst dir nur immer klar machen, dass es VR ist.« Ich seufzte. Kaum hatte ich eine Geste der Zustimmung gemacht, schon griff er beherzt zu. »Also los dann«, gab ich mich geschlagen.

       »Bestens«, meinte er daraufhin. »Ich wusste doch, dass deine Neugier gewinnt.« Daraufhin hörte ich ein summendes Maschinengeräusch und dann ein metallisches Knirschen, als ob sich eine große Masse in Bewegung gesetzt hätte. Tatsächlich hob sich die vordere Tür langsam nach oben. Als ich in die Kabine eingetreten war, handelte es sich noch um eine einfache Holztür, aber jetzt hob sich dort ein schweres Stahltor und gab zögernd einen schmalen Spalt frei, durch den Sonnenlicht hereindrang. Als das Tor sich endlich vollständig gehoben hatte, war ich schier überwältigt von der Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Ich befand mich mitten in einem Korallenriff, das sich in bunt schillernden Farben über die sanften Hügel des Meeresgrundes erstreckte. Zwischen den Korallen konnte ich zahllose ebenso farbenfrohe Fische ausmachen, die verspielt ihre Bahnen zogen. Der Meeresspiegel lag nur wenige Meter über mir und die Sonne breitete einen bewegten Teppich von Schlieren über dem sandigen Grund aus. Alles wirkte so real, wie ich mir es nie erträumt hätte. Ich schwamm langsam durch die große Öffnung nach draußen und genoss es, inmitten dieser fantastischen Landschaft dahinzugleiten. Nachdem ich etwa zwanzig oder dreißig Meter aus der Kabine heraus geschwommen war, drehte ich mich langsam um und erlebte die zweite Überraschung. Die Tür, durch die ich kam, war eine kleine Schachtöffnung in der Seitenwand eines gigantischen Schiffswracks. Das Wrack war über und über mit Algen und Schlingpflanzen bewachsen, die sich langsam in der Dünung des flachen Wassers hin und her bewegten. Es war offensichtlich ein großes Passagierschiff, kleiner als die legendäre Titanic, aber aus meiner Perspektive nicht minder gewaltig und es erschien besser erhalten. Ein großer Teil des Schiffs ragte wohl aus dem Wasser heraus, die Reflexionen an der Oberfläche verhinderten jedoch die Sicht nach oben. Aus einer zweiten Öffnung im Schiffsrumpf lösten sich nun zwei Gestalten, die direkt auf mich zu schwammen. Eigentlich dachte ich mir schon, wer es sein könnte, doch als sie nahe genug waren staunte ich nicht schlecht über ihre Gestalt. Es waren Daria und Patrick, aber ihre Körper waren in erstaunlicher Weise verändert. Daria sah eigentlich fast so aus, wie ich sie von dem kurzen Gespräch in Erinnerung hatte, aber von der Hüfte an abwärts hatte sie sich in eine Nixe verwandelt und sie hatte einen grün und blau geschuppten Fischschwanz, dessen breite Flosse in zwei langen Fäden auslief. Patrick hingegen war in grotesker Weise verändert. Er hatte den Körper eines Delfins angenommen, sein Kopf aber trug noch immer sein unverwechselbares Gesicht mit der ausgeprägten Adlernase und er trug die gleiche Brille, die er schon im Labor anhatte.

       »Na wie findest du meine bescheidene Unterwasserwelt?«, fragte mich der Patrick-Delfin.

       »Ich bin überwältigt«, erwiderte ich. »Aber ich bin immer noch stinksauer wegen der Vorstellung eben. Da musst du mir noch einiges bieten, um mich wieder gnädig zu stimmen.«

       »Na da wollen wir doch mal sehen, was sich da machen lässt«, meinte er. »Lass uns einfach Daria hinterher schwimmen.«

       »Wo steckt ihr beiden eigentlich in Wirklichkeit?«, fragte ich. »Gibt es noch weitere solche Pools in deiner Wohnung?«

       »Nein, nein. Das ist nicht notwendig. Du alleine erlebst diese Illusion. Wir sitzen hier gemütlich im Labor und sehen uns die Show auf einem Bildschirm an. Unsere Körper sind animiert und unsere Worte werden auf die Mundbewegungen der Figuren übertragen. Die Körper-Bewegungen werden durch einen haptischen Handschuh eingespeist, so dass wir die Richtung und Geschwindigkeit angeben können. Den Rest erledigen die Programme selbstständig. Es ist wie bei einem Computerspiel; nur, dass du nun mittendrin bist.«

       Daria schwamm mit einem majestätisch anmutenden Flossenschlag voraus in Richtung Korallenriff. Der Patrick-Delfin folgte ihr und ich versuchte in gewohnter Weise, wie ein Brustschwimmer hinterher zu schwimmen. Ich hatte jedoch keine Chance. »Hey!«, rief ich. »Wollt ihr mich nun mitnehmen oder nicht?«. Der Patrick-Delfin kehrte um und sah mich nachdenklich an. »Na dann lass mal sehen, was wir da machen können. In einen Fisch sollten wir dich nicht verwandeln. Aber wie findest du das? Schau dir mal deine Hände und Füße an.« Ich betrachtete fasziniert meine Gliedmaßen und glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Meine Finger fingen an zu wachsen, bis sie etwa die doppelte normale Länge erreicht hatten. Gleichzeitig war zwischen den Fingern eine Schwimmhaut gewachsen. Wenn ich die Finger spreizte, konnte ich mit meinen fächerförmigen Händen ungleich mehr Wasser verdrängen als vorher. Meine Füße waren jedoch zu langen Flossen mutiert. Ich sah aus wie ein Taucher aus einer anderen Welt. Mit dieser Ausrüstung hatte sich meine submaritime Beweglichkeit enorm gesteigert. Mit nur leichten Pendelbewegungen der Unterschenkel brachte ich es jetzt auf ein enormes Tempo. Ich überholte den Patrick-Delfin mit rasanter Beschleunigung und schloss rasch zu Daria auf. »Na wie findest du mein neues Outfit?«, kokettierte ich. Daria reagierte jedoch nicht, wie ich es erwartet hatte. Ihr Mund blieb in einer lächerlichen, starren Pose geschlossen. »Hast du deine Sprache verloren? Oder können Nixen von Natur aus nicht sprechen?«

       »Es ist ganz einfach«, mischte sich Patrick nun ein. »Wir haben zurzeit nur ein Mikrofon aktiv geschaltet. Deshalb ist Daria stumm wie ein Fisch.«

       Daria nickte eifrig mit dem Kopf, winkte mir kurz zu und nahm dann wieder Fahrt auf. Es war eine herrliche Tour. Wir schwammen durch Schwärme von Fischen, die sich auf wundersame Weise wie ein einziger harmonischer Organismus bewegten und sich vor uns teilten. Ich musste sofort wieder an Carl Kramers Spekulationen über die Parallelen zum menschlichen Verhalten denken und schmunzelte insgeheim darüber. Wir wetteiferten mit Delfinen, und jagten hinter ihnen durch dichte, lichtdurchflutete Tangwälder, die sich sanft in der Brandung wiegten und wir begegneten einem riesigen Wal, der majestätisch an uns vorbeizog und rasch wieder in der Finsternis verschwand. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich mich nicht wirklich in den Tiefen des Meeres befand, sondern von einer aufwändigen Simulation getäuscht wurde. Diese Tatsache wurde mir jedoch nur allzu deutlich vor Augen geführt, als Patrick nach einer guten halben Stunde beschlossen hatte, seinen nächsten Streich mit mir zu spielen. Wir schwammen gerade durch eine Felsenschlucht, als eine kräftige Strömung einsetzte und mich unbarmherzig