Wolfe Eldritch

Blutherbst


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hatte diese ersten Stunden des Tages schon in Kindertagen für sich entdeckt. Im Laufe der Zeit war zwischen der Kronprinzessin und ihren Eltern eine Art stilles Einvernehmen entstanden. Sie ging früh zu Bett und kam den lästigen Pflichten ihres Standes ohne zu murren nach. Damit erkaufte sie sich freie Stunden wie diese. Und darüber hinaus ein Maß an Freiheit, von dem andere Kinder der Aristokratie des Reiches nur träumen konnten.

      Kurz nach ihrem zehnten Geburtstag, also seit inzwischen über vier Jahren, hatte sie mit diesem außergewöhnlichen Tagesablauf begonnen. Sie holte sich ihr Frühstück zumeist in der Küche oder ließ es ganz ausfallen. Oft genügten ihr auch ein oder zwei Äpfel. Außerdem war es ihr gestattet, an Tagen, an denen sie sonst keine Verpflichtungen hatte, mit dem Mittagessen zu beginnen, wann sie mochte. Gemeinsame Mahlzeiten der gesamten königlichen Familie gehörten ohnehin in eine Zeit, an die sie sich kaum noch erinnern konnte.

      Wenn sie das Schloss am frühen Morgen hinter sich gelassen hatte, begannen die Stunden, die für sie die allerkostbarsten waren und die jenes eine Gut darstellten, für das es sich für sie zu leben lohnte. Sie beeilte sich an jedem Tag, so schnell wie möglich zu den Stallungen zu kommen. Zeit mit den Pferden und Hunden des Hofs zu verbringen, war seit jeher die liebste Beschäftigung des kleinen Wildfangs, der sie schon mit sechs Jahren gewesen war.

      Sie liebte jeden Aspekt daran, den Umgang mit den Tieren und das Reiten selbst, wie auch das Gefühl von echter Freiheit, dass es ihr vermittelte. Die war freilich eine Illusion, was nichts daran änderte, dass sie die einzige Freiheit war, die sie höchstwahrscheinlich je erfahren würde. Sie hatte sich eine eigene kleine Welt innerhalb ihres goldenen Käfigs erkämpft und tat, was immer nötig war, um sie sich so lange wie möglich zu erhalten. Sogar an der Jagd hatte sie im letzten Jahr einige Male teilnehmen dürfen. Sie erlegte in der vergangenen Saison zwei Rehe und einmal sogar ein Wildschwein. Es war ihr nur darum gegangen herauszufinden, ob sie es fertigbrachte zu töten. Das tat sie, aber es bereitete ihr ebenso wenig Freude wie die Gesellschaft ihres gefühlskalten Vaters und seiner herzöglichen Stiefellecker. Denn nicht mehr als das waren die Vertrauten und die sogenannten Freunde des Königs in ihren Augen. Das galt ebenfalls für den Großteil vom Rest der Aristokratie des Reiches.

      Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass ein solcher Mann keine Freunde hatte. Und ebenso kannte sie, trotz ihrer Jugend, die Menschen gut genug, um zu wissen, dass jeder einen solchen Mann fürchtete. Das galt umsomehr, wenn er über die Macht eines Königs verfügte. Sie hatte die Adligen in der Nähe ihres Vaters auf den Jagdgesellschaften sehr aufmerksam beobachtet, wie sie es stets mit allem in ihrer Umgebung tat. Es gab das übliche bunte und unappetitliche Treiben auf der Jagd, das Fressen, Saufen und Prahlen. Kurzum genau das, worum es den feisten Schweinen ohnehin in erster Linie ging, gewiss. Ginevra entging jedoch nicht, dass selbst die Herzöge und ihre Söhne sich in der Nähe ihres Vaters nie wirklich gehen ließen oder entspannten. Dabei neigte der König weder zum Jähzorn, noch konnte man ihn als über die Maßen ungerechten Mann bezeichnen. Aber kalt war er, verschlossen und damit doch nie ganz berechenbar.

      Sie selbst hatte früh gelernt ihn ebenso zu meiden, wie sie es inzwischen bei den meisten anderen Menschen von Stande tat. Sie hielt sich von all den Hofschranzen fern, so gut sie es vermochte. Überhaupt konnte sie sich nur dann entspannen, wenn sie entweder mit den Tieren allein war, oder sich in Gesellschaft einiger besonderer Diener befand. Der alte Stallmeister zählte dazu, ebenso der betagte Hufschmied. Diese Männer verkörperten für sie ein Leben, das ihr verwehrt war. Ein Leben mit einem Inhalt, einer Aufgabe und vielleicht so etwas wie einem Sinn. Das Treiben bei Hofe war ihr schon immer zutiefst zuwider gewesen. Die Arbeit mit den Pferden hingegen erfüllte sie, das Erkennen des Charakters eines Tieres und das selbstlose Erfüllen seiner Bedürfnisse. Oder eine so simple Freude wie das Bogenschießen. Ihr lag nichts an der Jagd an sich, aber der Umgang mit dem Bogen faszinierte sie. Die Mischung aus Kraft und Konzentration, die man benötigte, um mit einer ordentlichen Waffe ein weit entferntes Ziel zu treffen, war ebenso fordernd wie befriedigend. Diese einfachen, greifbaren und echten Dinge liebte sie über alles. Wenn sie zumindest ein paar Stunden am Tag auf diese Weise verbrachte, fühlte sie sich geerdet und halbwegs geborgen. Sie wusste nicht, wie sie die gekünstelte Welt der Aristokratie ohne einen solchen Ausgleich ertragen sollte.

      Einmal, als ihr Vater erfahren hatte, dass sie selbst die Ställe ausmistete, hatte er abfällig bemerkt, dass sie sogar lernen würde, wie man den Tieren die Hufe beschlüge, wenn man sie gewähren ließe. Sie hatte ihm nur dieses dünne, eisige Lächeln geschenkt, das damals noch allein ihm vorbehalten war, und geflissentlich den Mund gehalten.

      Wenn es nach ihr ginge, würde sie sogar lernen, wie man die Hufeisen schmiedete. Sie hätte auch gerne richtig zu fechten gelernt, ein wenig konnte sie es schon, aber das hatten beide Elternteile abgelehnt. Und wenn selbst Mutter gegen sie stand, lagen die Dinge denkbar schlecht. Sie wusste, dass die Damen, wenn man sie so nennen wollte, bei den Nordländern aus dem fernen Norselund ebenso selbstverständlich das Kämpfen lernten wie das Lesen und Schreiben. So hieß es jedenfalls. Das war jedoch kaum als Argument geeignet, denn jede Diskussion mit ihrem Vater war ohnehin eine zu viel, und die Belange der Insel in Nordmeer stellten immer ein schlechtes Gesprächsthema dar.

      Sie beschränkte sich also darauf, ihr Können mit dem Bogen zu vergrößern, übte mit dem Jagdspeer und versorgte die Tiere. Sie hatte eine Zeit lang in Erwägung gezogen, heimlich jemanden zu bezahlen, damit er sie im Fechten unterrichtete, dieses Vorhaben aber bald wieder aufgegeben. Zu groß war die Gefahr, dass eine solche Sache aufflog. Und zu schrecklich die Folgen für den Unglücklichen, der ihr Zudiensten gewesen wäre.

      Während die Nacht gerade begann, dem Morgen zu weichen, durchquerte sie mit schnellen Schritten die Flure und Gänge. Sie war auf dem Weg zu den Stallungen und trug ihre dafür übliche Aufmachung. Hohe Stiefel aus dunklem, abgenutzten Leder, enge Leinenhosen, ein ebensolches Hemd und eine dicke Wolljacke. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar hatte sie im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Sie war groß für ihr Alter, schlank und trainiert, eine erblühende Schönheit, die umso natürlicher wirkte, da sie keinen Wert auf ihr Aussehen legte.

      Im Gegenteil hätte sie gerne auf dieses Aufblühen ihrer Weiblichkeit verzichtet, und das aus mehr als einem Grund. Zum einen war da die widerliche Lästigkeit, die in ihren Augen die monatlichen Blutungen darstellten. Besorgniserregender aber gestalteten sich die Implikationen, die mit ihnen einhergingen. Eine Frau ihres Standes würde sich unter den gegebenen Umständen in Kürze mit Werbung und Heirat beschäftigen müssen. Oder vielmehr, und das war das eigentlich Schreckliche daran, fiel diese Aufgabe ihren Eltern zu. Ihr selbst blieb nicht viel mehr, als deren Entscheidungen zu ertragen. Wie gerne hätte sie auf die Rundungen an Hüfte und Brust verzichtet, auf die andere Mädchen ihres Alters so sehnlich warteten. Nicht nur, dass sie kein Interesse an dummen jungen Männern hatte. Dabei spielte es keine Rolle, ob es um einen dreckigen Stallburschen handelte, oder um die geleckten Bücklinge aus den Familien der herzöglichen Vasallen, deren Avancen sie zweifellos bald über sich würde ergehen lassen müssen.

      Vor allem sah sie sich durch eine bevorstehende Heirat der Möglichkeit beraubt, ihr Leben so fortzusetzen, wie sie es gewohnt war. Die Balance zwischen Pflicht und Freiheit, die ihr Leben bestimmte und die sie so hart erkämpft hatte, würde zerstört werden. Sie empfand panische Angst bei dem Gedanken, ihre Tage nur noch mit Handarbeiten und Tanz zu verbringen. Besonders Letzteren verabscheute sie mit Inbrunst. Sie wollte ihren Körper spüren und sinnvoll benutzen, und nicht zu Musik, die sie lächerlich fand, herumhopsen wie eine Närrin. Ganz davon abgesehen, dass sie genau wusste, dass diese Übung nur zu bald irgendwelchen rotgesichtigen Jünglingen dazu dienen würde, ihren erblühenden Körper zu betatschen.

      Sie bewegte sich rasch, sicher und fast lautlos über den getäfelten Boden. Bevor sie sich die Freiheit, sich auf dem Land um das Schloss herum frei zu bewegen erkämpft hatte, waren die Gänge und Räume des Bauwerkes selbst die Welt gewesen, die sie erkundet hatte. Sie kannte jede Tür, jeden Raum und jeden Flur in Sighold. Ganz allein war sie in den frühen Jahren ihrer Kindheit herumgestreunt und hatte jeden noch so entlegenen Winkel ausgekundschaftet. Mit den anderen Mädchen war es im Grunde das gleiche Problem wie mit den Jungen. Entweder man hatte es mit duckmäuserischen, verängstigen Bediensteten zu tun, oder mit verwöhnten, affektierten Höflingen. Letztere