Wolfe Eldritch

Blutherbst


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könnte, dich so liegen zu sehen, Gin. Woche für Woche und Monat für Monat ohne eine Besserung.« Er suchte ihren Blick und hielt ihn gefangen. Die tiefe Resignation, die in seinen Augen lag gehörte zu einem Mann, der mindestens viermal so alt war wie er. Dass er in seiner Verzweiflung gleichzeitig eine Stärke ausstrahlte, die sie nie an ihm erlebt hatte, brach ihr fast das Herz.

      »Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen. Da es nicht besser zu werden scheint, sind deine Besuche und Griseldas Fürsorge das Einzige, über das ich mich noch freuen kann. Das heißt, wenn sie nicht gerade versucht, mir ihre Lumpenmatsche in den Hals zu schieben, bis ich beinahe kotze.«

      Ginevra hatte sich gegen die Schwäche und das Leiden ihres Bruders gewappnet. Mit seiner Offenheit und dieser merkwürdigen, traurigen Reife hatte sie nicht gerechnet. Für gewöhnlich war er bei ihren Besuchen im Halbschlaf, oder schien es zumindest zu sein. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er so absolut klar bei Verstand war. Es war einerseits vermutlich ein gutes Zeichen, dass er nicht ständig im Fieber dahindämmerte. Andererseits erfüllte es sie mit Grauen zu erkennen, dass er sich seiner Situation so vollkommen bewusst war.

      »Ich weiß«, fuhr er fort, als hätte er ihre Gedanken erraten, »dass du den frühen Tag draußen verbringst. Aber morgens bin ich meist noch schwach und irgendwie vernebelt. Deshalb habe ich oft kaum mitbekommen, dass du da warst. Gegen Nachmittag geht es mir seit ein paar Wochen für wenige Stunden etwas besser. Wenn man das so nennen kann. Schwach wie ein Baby, aber im Kopf ein bisschen ... weniger komisch.«

      Er atmete tief und es war offensichtlich, wie sehr ihn das Reden anstrengte. Dennoch schwieg Ginevra und hielt nur weiter seine Hände, ohne ihn zum Schweigen aufzufordern. Zum einen wusste sie nicht, was sie auf seine Worte erwidern sollte, zum anderen spürte sie, wie wichtig es ihm war, mit ihr zu sprechen. Es verging eine ganze Weile, bis er leise weitersprach.

      »Nachmittags fährt Griselda seit einiger Zeit für eine Stunde mit einem Zweispänner mit mir aus.«

      Sie hob verwundert die Augenbrauen, aber er sprach schnell weiter.

      »Nur langsam und nicht sehr weit. Mal bis zum Fluss, mal bis zum Waldrand im Norden. Dann stehen wir eine Weile dumm herum, damit ich etwas frische Luft bekomme und mal etwas anderes sehe als nur die Wände hier. Es war ihre Idee und es tut mir gut. Ich bin hinterher noch müder als sonst, aber ob ich nun hier vor mich hindämmere oder richtig schlafe, spielt wohl keine Rolle. Du glaubst gar nicht, wie wundervoll es sein kann, nach so langer Zeit wieder Bäume und Wiesen zu sehen.

      Ich wollte Mutter fragen, ob du uns vielleicht ab und an begleiten könntest. Ich weiß ja, wie sehr du den ganzen Kram, den du nachmittags machen musst, verabscheust. Und, naja, ich dachte, meine Gesellschaft könnte weniger unerquicklich für dich sein, als das Stricken und das Tanzen. So wärst du ein bisschen mehr draußen und wir können noch etwas Zeit miteinander verbringen. Zeit, in der ich deine Nähe auch mitbekomme.

      Ich würde mich wirklich sehr freuen. Ich meine, du weißt schon, im Moment geht es ganz gut, aber es weiß ja niemand wie lange ...«, er zuckte mit den Schultern und lächelte sie müde an.

      Sie schluckte schwer und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um die Tränen niederzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Eine abgrundtiefe Traurigkeit ergriff sie so plötzlich, dass sich ihr Magen zusammenkrampfe. Sie drückte seine Hände etwas fester und war überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.

      »Natürlich begleite ich euch, wenn Mutter es erlaubt. Ich wusste ja gar nicht, dass du überhaupt hinauskannst.«

      Und wenn Mutter es nicht erlaubt, dann zur selben Hölle mit ihr wie mit Vater, fügte sie in Gedanken stumm hinzu.

      »Nein, wie auch, nachmittags quälen sie dich ja mit dem Lernen«, sagte Benjamin. »Und morgens bin ich für gewöhnlich noch nicht ganz da. Griselda hatte angeboten, dich zu fragen. Aber ich wollte es selbst tun. Es gibt so wenig Dinge, die ich noch selbst tun kann. Es ist schön, dass ich es jetzt endlich geschafft habe. Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, würde ich mich ehrlich freuen. Es wäre schön, ein wenig von der Zeit, die mir noch bleibt, mit dir zu verbringen.«

      »Nun hör aber auf«, sagte sie sanft und jetzt war ihre Stimme nicht mehr ganz so fest wie zuvor. »Dahlenbrugge sagt, dass es dir irgendwann wieder gut gehen wird. Und selbst wenn er das schon so lange sagt, dass es schwerfällt, ihm das zu glauben, sind sich alle sicher, dass du das Schlimmste hinter dir hast.«

      Im müden Blick ihres Bruders blitze eine Spur von Spott auf.

      »Schlimmer als das hier wird es nicht mehr, Gin. Ich mag ja immer der Faule von uns beiden gewesen sein, aber nach drei oder vier Schritten erst einmal ein paar Atemzüge ausruhen zu müssen, ist doch zu viel des Guten. Oder eher des Schlechten. Glaub mir Schwesterchen, schlimmer als das hier, kann nichts sein, nicht einmal der Tod.

      Ich möchte wieder gesund werden, wirklich. Es gibt nichts, das ich mir mehr wünschen würde. Wenn ich wieder gesund werde, lerne ich alles, zu was ich vorher keine Lust hatte. Ich werde mit dir Reiten, wenn du möchtest, und Fechten trainieren. Scheiß auf das, was unsere Eltern davon halten, wir schleichen uns einfach für eine Weile fort. Ich habe nie gewusst, was für ein Geschenk es ist, wenn man laufen und springen kann.«

      Sein Blick wurde glasig und er atmete dreimal tief ein und aus.

      »Ich möchte das wirklich alles wieder können, aber wenn ich morgens einfach nicht mehr aufwache, ist das auch schon besser als das hier.«

      Es folgte ein Schweigen, das sich unangenehm lange hinzog. Ginevra wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie traute sich auch nicht zu sprechen, weil sie die Tränen spürte, die sie nicht vergießen wollte. Nicht vergießen durfte, denn wenn die Dämme jetzt brachen, gab es vielleicht kein zurück mehr. Und Schwäche war etwas, dass man sich in diesen Mauern, in der Familie des Königs, nicht leisten konnte.

      »Aber wie dem auch sei«, fuhr der sichtlich erschöpfte Prinz schließlich fort, »ich freue mich wirklich, dass du uns bei den Spazierfahrten begleiten magst. Ich werde Mutter fragen, oder vielleicht lasse ich das auch von Griselda machen, das ist nicht so wichtig. Sie kommt gut mit Mutter und Melina aus, besser als du oder ich wahrscheinlich. Vielleicht können wir dann nächste Woche schon das erste Mal zusammen raus.

      »Das fände ich wirklich schön«, erwiderte sie sofort und lächelte. Sie freute sich aufrichtig über diese Entwicklung, nicht nur, weil ihr dadurch unter Umständen die eine oder andere Stunde lästiger Pflicht erspart bleiben würde. Es war auch ein gutes Zeichen, dass Benjamin überhaupt wieder aufstehen konnte.

      Und letztendlich hatte er völlig recht, ganz gleich, was der Erzbischof oder sonst jemand sagen mochte. Wer wusste schon, wie viel gemeinsame Zeit ihnen noch blieb? Ihr Bruder war der Einzige in der Familie, von dem sie aufrichtig behaupten konnte, dass sie ihn liebte. Sie hatten beide mehr von diesen Stunden, wenn er kräftig genug war, sich mit ihr zu unterhalten.

      »Gut«, sagte er mit einem müden Lächeln, bei dem sich seine Augen halb schlossen. »Dann scher dich jetzt zu deinen Pferden und den bellenden Flohfängern. Ich muss noch lange genug wach bleiben, damit Griselda mich mit ihrer Lumpenmatsche vollstopfen kann. Das nennt sie Frühstück, weißt du? Und ich will dabei nicht einschlafen, ich habe Angst, dass sie mich dann mit einem Schlauch stopft wie eine Gans.«

      Sie erwiderte sein Lächeln, nickte und erhob sich. Bevor sie ging, beugte sie sich behutsam über das Bett und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Es war das erste Mal seit über drei Jahren, dass sie das tat. Als sie die Tür leise hinter sich anlehnte, hörte sie seinen tiefen, leicht rasselnden Atem.

      Griselda stand in der offenen Tür zu dem anderen Raum und sah ihr erwartungsvoll entgegen.

      »Hat er es endlich geschafft, dich zu fragen?«, wollte sie wissen. »Ich hätte es schon vor zwei Wochen getan, aber er wollte es nicht. Er wollte es unbedingt selbst tun. Ich erwarte, dass er in neun von zehn Fällen tut, was ich ihm sage, was er bei Gott auch tut. Da musste ich mich in dem Fall auch mal nach seinen Wünschen richten. Ich wusste ja, wie wichtig es ihm war.«

      »Ja,