Wolfe Eldritch

Blutherbst


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Tochter kaum Freundinnen habe. Die Prinzessin hatte es wohlweißlich verstanden, sie in diesem Glauben zu lassen. Die Wahrheit war, dass sie keine Einzige hatte. Sie kannte es nicht anders und vermisste so auch nichts.

      Die einzige menschliche Wärme, die sie kannte, bestand in der tiefen Sympathie der betagten Stallmeister, Hufschmiede und Falkner. Die alten Männer respektierten sie für ihren liebevollen und kundigen Umgang mit den Tieren ebenso, wie für ihre Zuverlässigkeit und Disziplin. Sie selbst fand bei den einfachen, rauen Gesellen einen Hauch von Geborgenheit. Ein kümmerlicher Ersatz für die nie erfahrene väterliche Wärme, aber besser als gar keiner. Sie gab sich Mühe, nicht über solche Dinge nachzudenken, war sich aber durchaus der Tatsache bewusst, das sie ziemlich verdreht im Kopf war.

      Rasch bog sie in einen Gang ein, der nur noch gelegentlich zu ihrem morgendlichen Weg gehörte. Eine Weile hatte sie diesen kurzen Umweg jeden Tag gemacht, doch nun besuchte sie die Gemächer von Benjamin nur noch einmal die Woche. Genau genommen, dachte sie schuldbewusst, ist das letzte Mal nun schon neun Tage her. Ihr Verhältnis zu ihrem kleinen Bruder war immer ein ungewöhnliches gewesen, obschon nie ein schlechtes. In der Hauptsache wurde es von ihrer eigenen Stärke und Unnachgiebigkeit geprägt. Der Prinz war ein aufgewecktes, munteres und unkompliziertes Kind. Doch er war eben ein Junge, und der versuchte irgendwann, seine Schwester zu drangsalieren. Dass sie zwei Jahre älter war, spielte dabei keine Rolle, schließlich war sie nur ein Mädchen. Zu seiner Bestürzung hatte der junge Thronfolger feststellen müssen, dass Ginevra stärker war als er und sich darüber hinaus mit einer Wildheit zur Wehr setzte, die ihm Angst machte.

      Dieses Kräfteverhältnis, festgelegt als die beiden gerade sechs und acht Lenze zählten, war in den kommenden Jahren unverändert geblieben. Sie trugen ab und an ihre kleinen Kämpfe aus, körperlich wie mental, wie das bei Geschwistern eben der Fall war. Der Prinz musste jedoch schnell einsehen, dass er der älteren Schwester in allen Bereichen unterlegen war. Ein aggressiverer Geist hätte darauf vielleicht mit Zorn oder gar Hass reagiert, doch Benjamin war von tiefstem Herzen sanftmütig. Er resignierte einfach. Das tat er ohne große Bitterkeit, woran Ginevra ihren Anteil hatte.

      Die Prinzessin trug zwar viel vom Eisen ihres Vaters in sich, glücklicherweise aber auch etwas von der Rationalität und Liebenswürdigkeit der Königin. Sie nutzte ihre Stärke, der sie sich sehr wohl bewusst war, nicht aus, um den kleinen Bruder zu drangsalieren, und sie zog ihn auch nicht mit seiner Unterlegenheit auf. Sie sorgte nur für klare Verhältnisse, wann immer sie es für richtig hielt. Dann jedoch mit einer Erbarmungslosigkeit, die dem König selbst zur Ehre gereicht hätte.

      Auf diese Weise hatte das königliche Geschwisterpaar die ersten gemeinsamen Lebensjahre auf gesunde und zu weiten Teilen respektvolle Art miteinander verbracht. Ginevra hatte damit gerechnet, dass sich zumindest die physischen Unterschiede mit den Jahren zugunsten von Benjamin verschieben würden. Sowohl sein Geschlecht als auch das Kampftraining, das dem Prinzen im Gegensatz zu ihr zuteilwurde, mussten auf ganz natürliche Art und Weise dafür Sorgen. Irgendwann würde er größer, kräftiger oder ganz einfach geschickter im Umgang mit seinem Körper sein als sie. Sie hatte dieser Aussicht gelassen entgegensehen. Ihre Dominanz war mit den Jahren so fundamental geworden, dass sie eine solche Verschiebung der Kräfte zwischen ihnen sogar begrüßte. Auf lange Sicht konnte sie eine gesunde Ausgeglichenheit in ihr Verhältnis bringen. Das mochte dafür sorgen, dass sie auch im Erwachsenenalter gut miteinander auskamen. Das war etwas, das sie sich wünschte, denn sie liebte ihren kleinen Bruder. Ebenfalls keine Selbstverständlichkeit in den Reihen der Aristokratie.

      Wie es nun aussah, würde es jedoch nie dazu kommen. Die Entwicklung des Prinzen war, gelinde gesagt, rückläufig. Während sie zu den Gemächern ging, in welchen Benjamin seit einigen Wochen lebte, wappnete sie sich gegen seinen Anblick. Sie tat das auf die gleiche Art, wie sie sich jeden Tag, nachdem ihre Zeit bei den Pferden vorbei war, gegen das wappnete, was ihr der Tag bei Hof brachte. Es war ein innerer Panzer, eine bewusste Gefühlskälte, die sie heraufbeschwören konnte, wann immer sie wollte. Sie schuf damit die Distanziertheit zu ihrem Umfeld, die alles war, was sie der Welt entgegenzusetzen hatte.

      Vor einer Tür aus rötlichem, feingemaserten Holz kam sie zum Stehen. In diesem Teil des Schlosses befanden sich unter anderem die Gästequartiere. Daher hatte man hier solch edles Material verbaut. Exotisches Edelgehölz aus dem fernen Haquadelaor war nur eine der verschwenderischen Kostbarkeiten, welche in diesem Flügel die einfachen Baustoffe ersetzt hatte. Zierholz, Gold und Seide, anstatt Eiche, Eisen und Wolle. Ein Grund mehr, aus dem Ginevra diesen Teil für gewöhnlich mied. Sie zog die Schlichtheit von grobem Stein und Eisenholz dem vermeintlichen Luxus vor. Ersteres vermittelte ihr wenigstens ein Hauch von Geborgenheit aus frühen Kindertagen. Letzteres stand symbolisch für alles, was sie an ihrem Leben verabscheute.

      Sie stieß die polierte, auffallend leichte Tür auf und schlüpfte in einen geräumigen, größtenteils leeren Flur. Von hier gingen drei weitere Türen ab, ebenfalls aus dem feinen, rötlich schimmernden Holz gefertigt, aus dem die Eingangstür bestand. Wunderschön anzuschauen, kaum halb so schwer wie härtere Holzarten und mehr Zierde als Schutz. Sie führten in drei große, rechteckige Räume. Hinter der Tür im Westen erstreckten sich die größten Gemächer, die zugleich Küche und Waschraum darstellten. Nach Osten lag die Kammer ihres Bruders, auf die Ginevra nun zuging. Sie warf im Vorbeigehen einen Blick auf die zu zwei Dritteln geöffnete Tür im Süden.

      Dort befand sich das Zimmer der Bediensteten, die ihre Mutter eingestellt hatte. Ihre Zofe Melina hatte die Frau namens Griselda vorgeschlagen, als klargeworden war, dass der Zustand des Prinzen ihn langfristig der Pflege bedürftig machte. Seit einigen Wochen kümmerte sie sich jetzt schon um Benjamin. Sie war eine Witwe von außerhalb, laut Melina aus dem westlichen Grenzland von Stennward. Sie hatte weder Verwandte noch Bekannte in Sigholm und war erst vor Kurzem in die Stadt gekommen. Eine alleinstehende Frau mittleren Alters, die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal irgendwo neu anfangen wollte. Die Kammerzofe der Königin hatte schnell Vertrauen zu den Fähigkeiten der Fremden gefasst und, wie sich inzwischen gezeigt hatte, damit recht behalten.

      Griselda war von kleinem Wuchs, hatte aber die Statur einer zähen Feldarbeiterin, sehnig und knochig. Schultern und Hüften waren gleichermaßen ausladend und kräftig, ihr Busen hing, frühzeitig erschlafft, über einem massiven Brustkorb. Das Gesicht passte zum Rest ihrer Erscheinung. Es war breit und trotz der hohen Wangenknochen völlig reizlos. Die Nase war groß und schief, so als ob sie vor vielen Jahren gebrochen und nicht ordentlich gerichtet worden war. Überhaupt gab es an dieser Frau keine Symmetrie, weder im Antlitz noch am Körper. Sie war ganz einfach nur hässlich. Jetzt strich sie sich eine Strähne graublonden Haares aus ihrem ungeschlachten Gesicht und schenkte der Prinzessin ein breites Lächeln.

      Ginevra erwiderte es unwillkürlich und hob die Hand zu einem kurzen, beinahe kindlichen Begrüßungswinken. Sie mochte die Frau, die ebenso gut vierzig wie fünfzig Jahre alt sein konnte. Sie erschien auf den ersten Blick verbraucht und verlebt, bewegte sich jedoch behände und strahlte Vitalität und Energie aus.

      Die Art Frau, dachte sie im Stillen, die man noch in einem Alter auf dem Feld arbeiten sieht, in dem die feinen Damen sich beinahe schon zum Pissen tragen lassen. Die Zofe war eine einfache aber resolute Frau. Sie nahm die Aufgabe, sich um das Wohl des kranken Thronfolgers zu kümmern, ernst ohne vor der Verantwortung zurückzuschrecken. Es hatte nicht lange gedauert, bis man ihr die Obhut über Benjamin vorbehaltlos überlassen hatte. Sie sorgte dafür, dass er so viel aß, wie eben möglich war, kümmerte sich um seine Sauberkeit und ließ ihm Bewegung zukommen, soweit sein Zustand das zuließ. Auf der anderen Seite achtete sie darauf, dass er sich nicht überanstrengte und ihm kein Unbefugter zu nahe kam. Außer der Familie und dem alten Erzbischof ließ sie ohne vorherige Ankündigung niemanden in diese Räume.

      Im Rahmen dieser Aufgabe hatte sie ihre absolute Unerschrockenheit bereits unter Beweis gestellt. Als der Bischof einmal verhindert war, und einen Priester als Vertretung geschickt hatte, war der Geistliche nach einigem Gezänk unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Laut schimpfend und mit hochrotem Kopf kehrte er später mit einer schriftlichen Erlaubnis der Königin zurück. Es kam nicht oft vor, dass einem Diener Gottes von einer Kammerzofe die Tür versperrt wurde. Man munkelte, dass der Mann sogar mit körperlicher Gewalt gedroht habe, woraufhin die kleine aber kräftige Frau ihn nur auslachte.