Wolfe Eldritch

Blutherbst


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Sie leuchteten in tiefem Graugrün, genau in dem Farbton der Blätter der Silberbuchen. Das wallnussbraune, glatte Haar verschwand im Nacken in der Kapuze ihres Mantels, als sie den Kopf etwas hob, um ihn anzusehen.

      »Wie geht es dir?«, fragte er leise.

      »Es geht mir gut. Es geht ihnen allen recht gut. Das ist nichts, worüber Du Dir sorgen machen musst«, erwiderte sie und machte eine knappe Geste, mit der sie die Männer und Frauen um sich herum einschloss. »Wir haben noch ein halbes Jahr, bis das erste Kind zur Welt kommen wird. Es ist alles in Ordnung.«

      Er nickte und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Tasheili gehörte zu den letzten Hirtinnen, die das alte Volk hervorgebracht hatte. Damit war sie in der Lage, die allgegenwärtige Waldmagie zu sehen, zu fühlen und zu lenken. Es waren nur mehr eine Handvoll Hirten übrig, und in jeder Generation wurden weniger Silvalum mit der Gabe geboren. Tasheili war darüber hinaus die Gemahlin des Waldfürsten. Und sie erwartete, wie fast alle der zum überwiegenden Teil weiblichen Gefolgsleute von Lendir, ein Kind.

      Dieser Umstand war der Grund dafür, dass sie sich ihm angeschlossen hatte. Ihre Unterstützung gab den Ausschlag, um das Wagnis überhaupt einzugehen. Zugleich hatte es erst ihr Einfluss ermöglicht, dass sie am Ende mit so vielen Seelen aufgebrochen waren. Ohne die Hirtin wäre der Waldläufer vermutlich nur mit einigen wenigen Vertrauten auf eigene Faust losgezogen. Gleich mehrere Hundert Mitglieder seines Volkes in eine ungewisse Zukunft zu führen, hätte er sich niemals zugetraut.

      Es waren das Wissen, der Einfluss und die Autorität der Gemahlin des Waldfürsten, welche ihr Vorhaben in einem solchen Umfang überhaupt erst ermöglichten. Nur sie hatte eine so große Zahl Silvalum unbemerkt zusammenbringen können. Und nur die Macht der Hirtin hatte die Gruppe bis jetzt am Leben erhalten, indem sie den Weg und ihren Aufenthaltsort vor den schrecklichen Jägern verbarg, die ihnen folgten. Lendir selbst war der Kommandant der fürstlichen Späher. Damit war er für den Schutz der Ränder des Waldes verantwortlich, oder war es zumindest bis zu dem Verrat gewesen. Auch als Unterhändler und Bote zwischen dem alten Volk und den Menschen von außerhalb hatte er mit seinen Gefolgsleuten gedient. Bis man die ehemaligen Handelspartner auf den Befehl des Waldfürsten hin in Silvershire abgeschlachtet hatte. Das Massaker war nicht der entscheidende Grund für den Entschluss zur Flucht, hatte ihm aber endgültig vor Augen geführt, wie hoffnungslos die Lage in der Heimat tatsächlich war. Und vor allem, wie unrettbar sich der Fürst in den Wirren der Verderbtheit, die ihr Land zerfraß, verloren hatte. Oder in seinem eigenen Wahnsinn, so es diesen Unterschied denn gab.

      »Du solltest dir ebenfalls einige Stunden Ruhe gönnen«, riss ihn die sonore Stimme der Hirtin aus seinen Gedanken. »Der beste Führer ist nutzlos, wenn er vor Erschöpfung zusammenbricht.«

      Er lächelte sie an und nickte, legte seine Hand einen Moment auf ihren Unterarm und wand sich dann ab.

      »Bald«, sagte er über die Schulter, und setzte die Runde durch die ruhenden Silvalum fort.

      Er ging die Reihen der Rastenden ab, eine Gruppe nach der anderen, drückte hier eine Hand, umarmte dort eine Frau. Er versuchte denen, die ihm ihr Leben anvertraut hatten, so viel Zuversicht und Geborgenheit zu vermitteln, wie er nur vermochte. Sie sollten sich nicht im Übermaß um das Ungewisse sorgen, das auf sie lauerte. Ebenso wenig wie um das Siechtum und den Tod, die hinter ihnen lagen, oder über das unheilige Verderben, das sie jagte. Er schlug sich seiner Einschätzung nach recht gut darin, ein Selbstvertrauen auszustrahlen, das er nicht empfand. Es genügte, wenn all diese Sorgen und Ängste sich Tag für Tag in sein eigenes Herz fraßen.

      Seine Gedanken schweiften bei dem Gang durch die Reihen der Flüchtlinge immer wieder in die letzten Jahre zurück. Der Niedergang seines Volkes mochte schon vor Generationen begonnen haben. Der kontinuierliche Rückgang der Zahl der Hirten war zumindest ein Indiz dafür. In den alten Tagen hatte es Hunderte von ihnen gegeben. Silvalum, die mit der Gabe geboren wurden, mit dem Wald und seinen Geschöpfen zu sprechen. Mit der Fähigkeit die Energie, die das Land durchfloss, zu fühlen und für ihr Volk nutzbar zu machen. In den letzten Generationen waren es stetig weniger geworden. Das lag nicht an mangelnder Ausbildung, sondern einfach daran, dass kaum noch Silvalum zur Welt kamen, die über genug Talent verfügten, um eine Unterweisung zu rechtfertigen.

      Vor zwei Dekaden hatte den Neugeborenen dann immer öfter mehr gefehlt, als nur eine Verbindung zur Seele des Waldes. Anfangs war das Sterben der Säuglinge schleichend vor sich gegangen und es hatte nur die eine oder andere Missbildung gegeben. In den vergangenen drei Jahren hatte sich die Lage in einen Alptraum verwandelt. Jedes zweite Kind wurde inzwischen tot geboren oder starb wenige Tage nach der Entbindung. Oft ohne jeden ersichtlichen Grund. Im Laufe der letzten Monate waren die Zustände unerträglich geworden, und nur noch zwei von zehn Säuglingen überstanden die erste Lebenswoche. Anstehende Geburten, einst ein freudiger Anlass, waren jetzt gefürchtet, und eine Schwangerschaft galt fast schon als Fluch.

      Niemand vermochte zu sagen, worin das Sterben begründet lag. Alle wussten hingegen, dass jedes Stück Nahrung, jeder Tropfen Muttermilch und jeder Atemzug von der Waldmagie durchzogen war, die ihre Heimat seit Urzeiten durchdrang. Und die Hirten spürten schon lange, dass diese Magie sich veränderte. Über Jahrtausende war die urtümliche Lebenskraft des Waldes ihr Verbündeter gewesen. Sie hatte sie vor der Außenwelt verborgen und geschützt, hatte ihnen ein langes Leben und Gesundheit geschenkt. Nun schien es so, als würde sie sich gegen sie wenden und sie ins Verderben reißen.

      Im Laufe der Zeit mehrten sich die Stimmen, die der Meinung waren, dass die Verderbnis von den Silvalum selbst verschuldet sei. Man erlaubte den Menschen seit Generationen den Frevel, am Rande des Waldes zu leben. Die ständige Präsenz und die immer weiter fortschreitende Annäherung an das schmutzige, primitive Menschenvolk habe die Seele des Waldes erzürnt. Dass der Waldfürst diesen Stimmen nachgab und daraufhin das stets friedliche Silvershire hatte vernichten lassen, war nur die Letzte in einer langen Kette von verzweifelten Entscheidungen. Was auch immer sie in der Fremde erwarteten mochte, die Alternative in der Heimat bedeutete Wahnsinn und Tod.

      Das Tasheili eines Tages an ihn herangetreten war, hatte ihm zuerst einen unsäglichen Schrecken versetzt. Er hatte seine ersten Schritte, glaubte er zumindest, mit großer Vorsicht und Behutsamkeit getan. So viel Grübelei und Planung, um so früh zu scheitern. Aber die ruhige und bedachte Gemahlin des Fürsten nahm ihn nur beiseite und bot ihm ihre Hilfe an. Das wenige Wochen alte Kind, das sie unter dem Herzen trug, war es, dass für sie den Ausschlag gab. Das und sein eigener Ruf als verlässlicher, besonnener und zutiefst loyaler Mann, den er sich in den Jahren seines Dienstes erarbeitet hatte.

      Der Hirtin war es zu verdanken, dass sie mit mehreren hundert Silvalum hatten fliehen können. Und allein ihre Macht verschleierte nun die Spur, welche sie im Fluss der Waldmagie hinterließen. Sie schien inzwischen auch die Einzige zu sein, die sie weit genug Richtung Osten zu führen vermochte, um sowohl der Verderbnis als auch den Jägern zu entkommen.

      Lendir war ein erfahrener Waldläufer und hatte einige Dutzend seiner alten Weggefährten für diese Reise gewinnen können. Gute, tapfere Männer und Frauen, die den Wald und seine Wege kannten wie niemand sonst. Vor den Häschern, die der Waldfürst auf sie gehetzt hatte, gab es jedoch kein Entrinnen. Weder für ihn, noch für andere Sterbliche, die sich der Seele des Waldes nicht zu bedienen wussten. Anfangs hatte er daran gezweifelt, dass selbst die erfahrene Hirtin in der Lage war, die Spur von so vielen Silvalum zu verschleiern. Tasheili war sich ihrer Sache hingegen sicher, und bislang war die Reise reibungslos verlaufen.

      Lendir fragte sich gelegentlich, ob die Beziehung zwischen der Fürstin und ihrem Gemahl schon zuvor getrübt worden war. Er hatte das Thema bis jetzt nicht angeschnitten und hatte es auch nicht vor. Offenkundig ging ihr das Wohl ihres ungeborenen Kindes über alles. Dieses Wagnis war die einzige Chance, dem Fluch zu entkommen, der sich scheinbar über ihr Volk gelegt hatte. Wenn es denn überhaupt eine Möglichkeit gab. Die Säuglinge, die hier in den Leibern der fast vierhundert Frauen heranwuchsen, mochten bereits unrettbar verloren und ihr Verrat ebenso sinnlos sein wie ihre Flucht.

      Das Mirtiro, der Fürst des Waldes, den Pfad der Weisheit verlassen hatte, war spätestens mit dem Befehl für Silvershire deutlich geworden. Lendir konnte die Angst der anderen Silvalum nur zu gut nachvollziehen.