Wolfe Eldritch

Blutherbst


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de Contaut nannte diesen Ort seit beinahe fünfzehn Jahren sein Zuhause. Der ehemalige Landmeister der Westmark war inzwischen seit fast vier Dekaden ein Bruder des Templerordens. Gerade erklomm er an der Seite eines geschätzten aber seltenen Gastes eine steile, steinerne Treppe. Diesen Weg, der für ihn ein tagtägliches Ritual darstellte, ging er für gewöhnlich allein. Die Stufen führten vom Kommandoraum aus an seinen Gemächern vorbei und nach oben, auf die Spitze des Hauptturmes. Von den Zinnen aus hatte man an klaren Tagen einen Blick auf die Stadt und das Umland, der seinesgleichen suchte. Das Panorama umfasste die grünen Hügel des Landes ebenso wie den Fluss, die Königsburg und den Haupttempel des Lichtbringers. Wachtstein war zwar niedriger gebaut als Burg und Tempel, lag aber aufgrund seiner Position auf der Anhöhe etwas erhabener als alle anderen Bauwerke.

      Der Mann, der sich jetzt neben ihm mit den Stufen abmühte, gehörte zu den wenigen Freunden, die de Contaut sein eigen nannte. Sie hatten gerade ein ausgiebiges Frühstück, bestehend aus Eiern, gebratenem Speck und gesüßtem Haferbrei genossen. Wie bei nahezu jeder Mahlzeit hatte Jarek Zdravko sich maßlos überfressen. Der alte Landmeister der Ostmark schnaufte hörbar beim Erklimmen der Stufen, während der Hochmeister eine Gewandtheit zeigte, die seiner Jahre spottete. Sie waren ein ungleiches Paar, bei dem der Mann aus der Ostmark deutlich den Kürzeren zog, und doch hatte er sich sein Amt mit Intelligenz, Beharrlichkeit und Mut redlich verdient.

      »Es geht doch nichts über ein wenig Bewegung nach einem guten Essen«, sagte Jarek jetzt in einem sarkastischen Tonfall und mit dem unverkennbaren Akzent der äußeren Ostmark. »Machst du das jeden Morgen?«

      »Das tue ich«, erwiderte der Hochmeister mit einem dünnen Lächeln. »Obgleich ich nicht jeden Morgen so viel Nahrung in mich hineinstopfe, wie wir es gerade getan haben. Aber für gewöhnlich bleibt es zum Frühmahl auch bei einem Brei, wenn ich allein esse.«

      »Dabei hast du doch eben schon kaum etwas gegessen«, grinste der Mann aus der Ostmark und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. Er schwitzte, obwohl es alles andere als warm war. Der Frost mochte der Vergangenheit angehören, aber der Wind hier oben war noch immer eisig.

      »Wenn du weiter so viel frisst, wirst du irgendwann platzen, alter Freund«, sagte Severin nicht unfreundlich, »das Alter verzeiht die Sünden der Jugend nicht mehr so leicht.«

      »Ah, es gibt schlimmere Arten zu sterben, als sich zu Tode zu fressen. Außerdem bin ich ohnehin bald ein paar Wochen im Feld, da kann ich mir vorher ruhig noch ein paar Pfund anfressen.«

      »Du willst also nach wie vor eine der Expeditionen persönlich anführen?«, erkundigte Severin sich.

      »Ja, das will ich«, bestätigte der Landmeister. Jede Spur von Fröhlichkeit war jetzt aus seiner Stimme gewichen. »Auch wenn das, was wir finden werden, mir nicht gefallen wird. Entweder wird das nämlich gar nichts sein, oder aber irgendetwas, das für die Auslöschung von über einem Dutzend Dörfer verantwortlich ist.

      Ich weiß nicht, welche der beiden Alternativen mir lieber ist. Wochenlang umsonst in der Wildnis herumzuirren, oder in eine Teufelei hineinzulaufen. Auf jeden Fall habe ich es gründlich satt, hilflos herumzusitzen und mir Meldungen darüber anzuhören. Vor allem, wenn die so klingen, als ob meine Offiziere blind und taub durch das Land stolpern und wirres Zeug zusammenfantasieren.«

      »Ich habe die Berichte gelesen«, erinnerte Severin ihn. »Wie bist du mit der Aufstellung der Truppen zurechtgekommen? Ich nehme an, dass du bald aufbrechen wirst?«

      »Übermorgen«, nickte Jarek, »bevor ich mich hier festfresse. Bis ich wieder im Osten bin, sollte die Tundra weit genug aufgetaut sein, dass wir einigermaßen vorankommen. Ich habe die drei Expeditionen beisammen, die Männer sind in Bereitschaft, die Trosse so gut wie vollständig.«

      »Gab es wegen den herzöglichen Truppen Probleme, oder hat de Grabow ohne zu murren kooperiert? Es gelingt mir noch immer nicht, mich daran zu gewöhnen, wie umgänglich der Mann zu sein scheint, nachdem ich seinen verdammten Vater so lange ertragen musste.«

      Jarek grinste und nickte. »Das ging diesmal vollkommen reibungslos. Nicht, dass der Junge sonst ein sonderlich unangenehmer Zeitgenosse wäre, wie du schon sagtest. Als er von dem Befehl des Königs erfahren hat, war er sofort Feuer und Flamme. Er hat zwar nichts Derartiges durchblicken lassen, aber ich glaube, er hätte selbst etwas auf die Beine gestellt, wenn ihm der König nicht zuvorgekommen wäre. Auf diese Weise, mit unserer Hilfe, ist es ihm natürlich lieber, die Situation mit den Grafen an der Grenze ist ja nach wie vor eine Katastrophe.«

      »Steht es immer noch so schlecht um die Grenzlande?«, wollte Severin wissen. Die Ostmark hatte sich als Einzige im Reich nie ganz von dem Chaos erholt, das nach dem Grau über die Welt hereingebrochen war. Große Teile des Grenzgebiets lagen auch sechzig Jahre nach dem Umbruch noch brach. Aus der östlichen Hälfte seiner Grafschaften bekam Herzog de Grabow nur spärliche Steuern. Die dort ansässigen Vasallen waren vollauf damit ausgelastet, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, dafür zu sorgen, dass die Bauern nicht verhungerten und die immer wieder auftauchenden Banden aus Gesetzlosen im Zaum zu halten.

      »Der Osten ist einfach nur völlig im Arsch«, schnaufte Zdravko. »Ohne uns wäre die Grenze unbewacht und es gäbe statt Dörfern nur eine Handvoll kleine Räuberlager. Den westlichen Teil des Herzogtums hat de Grabow seit ein paar Jahren wieder fest im Griff. Etwas Besseres als der Tod seines Vaters konnte der Ostmark nicht passieren, wenn du mich fragst.

      Jedenfalls scheint der Herzog mehr als froh zu sein, dass er nicht selbst über die Grenze muss. Oder dabei einige seiner wenigen zuverlässigen Grafen bei der Sache riskiert. Er hat die geforderten Männer bereitwillig unserem Befehl unterstellt und scheinbar auch halbwegs brauchbare Leute geschickt. Proviant und Transport sind ebenfalls geregelt. Bis zum Herbstanfang sollten wir tiefer in der Tundra sein, als irgendjemand seit dem Erwachen der Heiligkeit des Lichtes nach Osten vorgedrungen ist.«

      Severin nickte und stützte sich mit beiden Händen auf das Mauerwerk zwischen zwei Zinnen. Der Blick über das morgendliche Land war jeden Tag aufs Neue beeindruckend und verlor nie seine Wirkung auf ihn. Die Luft war kalt und klar und er konnte die Hügel, Wiesen und Felder des Umlandes auf viele Landmeilen erkennen. Sein Gehör wurde langsam schlechter, aber seine Augen waren noch immer die eines Falken.

      »Hast du schon entschieden, wen du mitnehmen willst, wenn du schon so unvernünftig bist, nicht selbst zu Hause zu bleiben?«, fragte er.

      »Stoinok nimmt den Norden, er mag es kalt, ich den Süden und Dunstan bekommt die Mitte«, antwortete der Landmeister, dessen Atem sich wieder halbwegs beruhigt hatte.

      »Marschall Baldric von Dunstan«, intonierte Severin mit ausdrucksloser Stimme. »Wie macht der sich eigentlich? Warst du mit seiner Ernennung zum Marschall zufrieden?«

      Zdravko lächelte dünn und zog eine Augenbraue hoch.

      »Ich weiß nur, dass er sich hier vor Jahren mal eine schwerwiegende Verfehlung geleistet hat. War ich nicht bei, geht mich nichts an. Aus einem Grund, denn ich nicht zu packen bekomme, mag ich den Mann nicht, aber das ist nebensächlich. Er ist einer meiner Besten. Ein wenig distanziert und verschlossen, und manchmal wirkt er beinahe arrogant, aber die Brüder respektieren ihn. Viele mögen ihn, besonders die Jüngeren. Er wird ein guter Marschall. Wenn man ihn ließe, würde er vielleicht sogar einen guten Landmeister abgeben, in zehn oder zwanzig Jahren.«

      Severin nickte nur langsam und schaute wieder über die Zinnen, ohne weiter darauf einzugehen. Er war ebenfalls nicht hier gewesen, als diese böse Verfehlung, wie Zdravko es genannt hatte, passiert war. Das war sechzehn Jahre her, zwei Jahre, bevor man Severin de Contaut zum jüngsten Hochmeister seit Bestehen des Ordens ernannte. Doch hatte er die vertraulichen Berichte gelesen, und das mehr als einmal.

      Es gab nur sehr wenige Brüder wie von Dunstan, dem Herrn sei dank, und über jene führten die Templer diskret aber sorgfältig Buch. Sie hatten diesen Mann in die Mark geschickt, die am weitesten vom Herzen des Reiches entfernt lag. Im rauen, wilden Grenzgebiet war es immer einfacher, jemanden falls nötig verschwinden zu lassen.

      Es mochte stimmen, dass die Abstammung eines Bruders im Orden keine Rolle mehr spielte,