Wolfe Eldritch

Blutherbst


Скачать книгу

gewesen, den Kontakt zu den Menschen abzubrechen. Genau damit hatte der ehemalige Kommandant der fürstlichen Späher zunächst gerechnet. Er hatte auf die Anweisung des Fürsten hin die bisher in Silvershire lebenden Silvalum am Waldrand empfangen, und in das Herz ihrer Heimat zurückbegleitet. Er hatte diese Entscheidung bedauert. Das Verhältnis zwischen den Außenweltlern und seinem Volk hatte sich im Laufe der Zeit beinahe zu einer distanzierten Freundschaft entwickelt.

      Wenig später hatte er die Gruppe zu der Siedlung geführt, die den Ort gesäubert hatte, der von den Menschen Silvershire genannt worden war. An diesem Tag hatte er beschlossen, die Heimat zu verlassen. Von da an hatte er Pläne geschmiedet.

      Er strich einer besonders jungen Frau, die sich in die Arme einer älteren schmiegte, über das Haar. Sie hob den Kopf und lächelte ihn an, die Augen von schimmerndem Gold wie seine eigenen. Man sah noch keiner von ihnen die Schwangerschaft an, aber er kannte sie beide. Er kannte inzwischen jeden der Flüchtlinge, jede einzelne Seele, die ihr Leben in seine Hände gelegt hatte.

      Wenn ich versage, bin ich am Untergang unseres Volkes nicht weniger Schuld als Mirtiro, kam es ihm in den Sinn. Und ich habe nicht einmal die Entschuldigung, dem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. Oder vielleicht bin ich das. Spürt der Fürst auf irgendeiner Ebene seines Geistes, was mit ihm passiert?

      Grimmig schob er den Gedanken an den Mann, dem er vor vielen Jahren Treue bis in den Tod geschworen hatte, beiseite. Er hatte getan, was er für richtig hielt. Alles, was hinter ihnen lag, war jetzt nur noch insofern von Bedeutung, wie sie verhindern mussten, dass es sie einholte.

      Seine Hauptaufgabe war es mittlerweile, den Menschen Zuversicht zu geben. Die eigentliche Arbeit des Führens lag inzwischen bei Tasheili. Anfangs führten Lendir und seine alten Weggefährten die Gruppe auf dem Weg nach Osten, und die Hirtin hatte die Gabe nur dafür verwenden müssen, ihre Spur zu verwischen. Je weiter sie in die dunklen Tiefen des Waldes vordrangen, umso unzuverlässiger wurden allerdings die Sinne der Waldläufer. Die Waldmagie war hier so intensiv, dass sie die Realität selbst vor den Augen und Ohren der Silvalum zu verschleiern vermochte. Mit jedem Tag musste die Hirtin ihre Aufmerksamkeit stärker aufteilen und sowohl dem Weg vor ihnen, wie auch dem hinter ihnen widmen.

      Lendir hoffte, dass ihre Kraft ausreichte, um diese Belastung bis zum Ende durchzustehen. Mehr als einmal hatte sie die von ihm eingeschlagene Richtung drastisch korrigiert. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte, wohin er sie hätte führen können. Mittlerweise verspürte er ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn ob seiner immensen Verantwortung unsagbar frustrierte. Ohne die Fähigkeiten der Hirtin würden sie sich in den gleichen magischen Schleiern verlieren, die über Jahrtausende hinweg Bedrohungen vom Inneren ihrer Heimat ferngehalten hatten. In den Rändern des Waldreiches waren im Laufe der Zeitalter ganze Heere von Außenweltlern spurlos verschwunden. Da spielten ein paar hundert Männer und Frauen mehr keine große Rolle. Die Zeiten, in denen die Schleier nur den Feinden des Waldes gefährlich werden konnten, schienen vorbei zu sein.

      Oder aber du hast einfach die Gunst der Heimat mit deinem Verrat verspielt, dachte er plötzlich. Vielleicht gehörst du nun zu den Feinden des Waldes, und die alte Magie richtet sich deshalb gegen dich. Wäre das nicht eine interessante Wendung, wenn all diese Männer und Frauen sterben würden, nur weil sie einem Verräter wie dir folgen?

      Er atmete einige Male tief ein und aus und ließ seinen Blick über die Bäume schweifen, die sich um ihn herum in alle Richtungen erstreckten. Es gab hier keine Lichtung im eigentlichen Sinne, aber die einzelnen Buchen standen weit auseinander. Durch das nahezu völlige Fehlen des Unterholzes bot der Boden ausreichend Platz für ihr Lager, und so war der Ort für die Rast so gut wie jeder andere.

      Seine Augen suchten nach dem diffusen Verschwimmen, diesem leichten Flackern, dass er nur aus den Augenwinkeln wahrzunehmen vermochte. Er hatte es immer eine Weile gesehen, bevor Tasheili ihn zur Seite genommen und ihn zu einem Richtungswechsel aufgefordert hatte. Stets diskret und leise, so dass niemand etwas davon mitbekam. Sie wollte seine Autorität als Führer nicht untergraben und wusste, wie wichtig er für die Moral der Silvalum war. Den anderen Waldläufern, welche seit vielen Jahren unter Lendir dienten, blieben diese Vorgänge natürlich nicht verborgen. Sie merkten selbst, dass sie den eigenen, sonst so untrüglichen Sinnen nicht mehr trauen konnten.

      Er beendete seine Runde wenig später und kam erneut an der Ruhestätte von Tasheili vorbei. Sie hatte die Augen jetzt offen, und er nickte ihr ihm Vorbeigehen zu. Er ging in die Richtung des Baumes, an dem er gelehnt hatte, hielt sich links davon und kam schließlich zu einer kleinen Gruppe von Frauen, in deren Mitte er Platz nahm. Lendir rückte an eine junge Silvalum mit dunkelblondem, lockigem Haar und leuchtend grünen Augen heran. Sie drehte sich ihm zu und lächelte, woraufhin er ihr eine der gelockten Haarsträhnen aus der Stirn strich. Ihr Gesicht war herzförmig, die Lippen voll, die Augen groß und strahlend, die Nase klein und gerade. Sie strahlte die makellose, wundervolle Vitalität der Jugend aus. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Nach dem kurzen aber innigen Kuss legte er einen Arm um ihre Schultern und die Hand des anderen auf ihren Bauch. Sie döste wenig später langsam ein und Lendir wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihr Kind überleben würde.

      Er schaute in den wabernden Nebel, in dem sich der Wald vor ihnen verlor, und versuchte selbst in einen Zustand zu gleiten, der dem Schlaf zumindest nahekam. Irgendwo dort draußen waren die Sentinel. Er konnte sie beinahe in den Schatten sehen, wie sie hin und herhuschten, die glühenden Augen auf die Spuren der Verräter geheftet, die schwarzen Bögen in den klauenartigen Händen. Wenn ihre Jagd Erfolg hatte, würde es nichts geben, was Lendir für seine Frau oder das ungeborene Kind tun konnte.

      Leben oder Tod, Erlösung oder Verdammnis, jetzt oblag alles dem Urteil des Waldes. Schließlich glitt auch er hinüber in die Dunkelheit.

      2. Kapitel 1

       Wachtstein

      Der Kommandoraum von Wachtstein thronte als höchster Punkt über dem Rest der Festungsanlage. Das runde, fünfzehn Meter durchmessende Gewölbe bildete das Herz des Hauptquartieres des Ordens. Schmale, hohe Fenster mit spitzen Bögen zogen sich reihum in regelmäßigen Abständen durch das Mauerwerk. Die steinernen Wände waren nicht mit Holz vertäfelt, wurden aber zu weiten Teilen von Regalen und dicken Teppichen verdeckt. Hier befand sich die umfangreichste Ansammlung weltlicher Bücher im gesamten Königreich. Nur der nahegelegene Haupttempel der Kirche des Lichtbringers verfügte über eine größere Zahl an Schriftstücken. Dort fand man auch die letzten okkulten Werke, magische Schriften und hexerische Pamphlete aus der Zeit vor der Erleuchtung. Die wenigen, die in den Tagen des Erwachens nicht der Säuberung durch Kirche und Inquisition zum Opfer gefallen waren.

      Die schweren Kartentische, die das Innere des Raumes dominierten, beherbergten Karten der gesamten bekannten Welt. Von einigen winzigen Inseln vor der Küste der Westmark, bis zu den Steilküsten im Norden von Norselund, ebenso wie von den trostlosen Weiten im Osten bis zu den dunklen Dschungeln auf dem Kontinent im Süden. In kleinem Maßstab fand man hier Flüsse, Wälder, Berge wie auch Städte, Dörfer und Burgen. Die komplette erforschte Welt lag verteilt auf einem halben Dutzend Tische unterschiedlicher Größe.

      Der Raum selbst lag in der Spitze des zentralen Turms des Hauptquartieres. Wachtstein befand sich auf einem abgeflachten Hügel. Man hatte die Kuppe der Anhöhe vor der Errichtung der Festung mühsam abgetragen und so ein natürliches Fundament geschaffen. Anschließend war eine kreisförmige Wehranlage von einer Landmeile Durchmesser errichtet worden. Beinahe drei Dekaden hatte der Bau gedauert. Bis heute galt die Heimstatt der Templer als gewaltigstes Bollwerk des Reiches. Die Ringe der äußeren Anlage ragten viele Mannslängen hoch gen Himmel und wurden von zahllosen Verbindungsgängen und Toren durchzogen. Der innere Bereich der Festung glich einem übergroßen Bergfried, der inmitten eines Irrgartens von über hundert Zwingern unterschiedlicher Größe aufragte.

      Der Hauptturm überragte alles um sich herum um mehrere Schritte. Er war mit einer eigenen, niedrigen Ringmauer umgeben und beherbergte im unteren Teil ebenso Wachstuben und Vorratslager, wie eine kleine Küche und Gastquartiere für hochgestellten Besuch. Dem folgte der Kommandoraum und direkt darüber befand sich das Quartier