Katja Kerschgens

Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit


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      Loriot verstand ihr offenkundig entspanntes Zurücklehnen als Einladung und sprang ihr schwanzwedelnd auf den Schoß. Er tappte dreimal im Kreis herum, ließ sich endlich schnaufend nieder und rollte sich zu einer atmenden Kugel zusammen.

      Nadine versenkte ihre Finger in sein weiches Fell. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog seufzend die müden Zehen ein. Ding, ding, jetzt bitte einsteigen zur nächsten Runde! Ihr Gedankenkarussell nahm wieder Fahrt auf.

      Sarahs Eltern waren nicht nur geschieden, sie hatten den gesamten Rosenkrieg über ihre drei Kinder ausgetragen. Jahrelang. Irgendwas hatte sie auch mal von einem Onkel erwähnt, die Andeutungen verhießen nichts Gutes.

      Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.

      Ihre Nachbarin Fippsi kam aus einer Familie, die seit Generationen Hartz IV bezog. Alkohol hatten die Eltern, Drogen ihre Brüder außer Gefecht gesetzt. Nach ihrem eigenen Entzug verdiente sie ihr Geld mit - na ja, so genau wollte Nadine sich das gar nicht vorstellen.

      Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.

      Karl, ein Kollege aus dem Verlag, war einer von diesen Jungs, die in so einem katholischen Internat von Anfang an ganz eigene Vorstellungen von Nächstenliebe durch einen Priester hatte erfahren dürfen. Erst vor zwei Jahren hatte er sich endlich offenbart und sich den Entschädigungsforderungen von ebenfalls Betroffenen angeschlossen. Bislang ohne Erfolg.

      Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.

      Sarah konnte nicht von ihrer Ehe mit ihrem jähzornigen Mann loslassen, Fippsi kotzte sich jeden Abend leer, Karl hatte einen ausgeprägten Wasch- und Putzzwang.

      Was wusste sie schon vom Leben?

      Und das waren von unzähligen Beispielen nur die ersten drei, die ihr spontan einfielen.

      All diese traurigen Lebensschicksale erklärten deren jeweiliges Heute. Mit so einer Kindheit war für den Rest des Lebens die Duftmarke gesetzt. Unentrinnbar. Wenn später etwas schief lief, war das nur logisch. Nadine verstand das.

      Das erklärte aber nicht, warum ihr Leben nicht einfach perfekt war. Zumindest nach den Normen dieser Welt, in der sie lebte.

      Dass sie immer noch alleine wohnte. Mit gut Anfang dreißig. Mitte dreißig. Schon über Mitte dreißig. Ohne Mann, ohne Reihenhäuschen, ohne Kinder, ohne Bidet.

      Wenn sie ihre Kindheit nicht dafür verantwortlich machen konnte, dann war sie es wohl selbst schuld.

      Das tat weh.

      Sie entschied sich um: Eine gute Kindheit war eben eine schlechte Lebensvorbereitung.

      Blöde Ausrede, das funktionierte auch nicht richtig.

      Ein Klingeln riss sie aus ihren Schlussfolgerungen. Vorsichtig hob sie Loriot von ihrem Schoß, raffte sich aus ihrem Sessel und ging zu dem Regal, aus dem das Geräusch kam. Unter drei Büchern lag das schnurlose Festnetztelefon begraben.

      »Hallo Mami.«

      »Na, mein kleiner Papierwurm? Wie war dein Tag bis heute?«

      »Ich sinniere gerade über mein Karma. Sonst ist alles gut.«

      »Ach so?«

      Nadine bekam so eine Ahnung, dass das gar kein guter Gesprächseinstieg gewesen war, auch wenn sie ihn nicht wirklich ernst gemeint hatte. Oder wenigstens nur ein bisschen ernst. Auf jeden Fall war es eine Steilvorlage. Sie fiel zurück auf ihren Sessel, auf das Kommende gefasst.

      »Ja, ja, ich weiß schon. Aber Würmchen, mir ist völlig klar, warum du deine Sonntage immer noch alleine verbringen musst.«

      »Prima, lass hören, dann weißt du mehr als ich.«

      »Solange sich in deinem Bett Bücher stapeln, passt da auch kein Mann rein.«

      Nadine blickte geistesabwesend durch die offene Tür in das kleine Nebenzimmer. Da stand ihr Bett mit einem Meter fünfzig Breite, die eine Hälfte mit Büchern für die Nachtstunden belegt. Sie verdrehte die Augen.

      »Achso.«

      »Ja, nach Feng-Shui ist das ganz schlecht. Wenn man jemanden in sein Leben lassen will, muss man dafür auch einen Platz freihalten. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

      »Feng-Shui?«

      »Na ja, habe ich mal gelesen. Aber da ist doch was Wahres dran. Denk mal drüber nach!«

      Sie dachte tatsächlich einen Moment darüber nach und versuchte sich gleichzeitig vorzustellen, wie ihre Mutter es sich wahrscheinlich genauso gemütlich auf dem großen Sofa in ihrem eigenen Wohnzimmer gemacht hatte, wie sie es auf Mr. Snug gerade tat. Die Lachfalten, die dichten, nur wenig grauen Haare, die sie in einer modischen Kurzhaarfrisur trug, ihr weicher, warmer Blick. Sie hatte ihre Mutter genau vor Augen. Und ihre Mutter wahrscheinlich auch gerade ihre Tochter.

      Nadine kramte nach einem neuen, unverfänglichen Thema.

      »Kommt Tante Helga zu Papis Geburtstag?«

      »Wir hoffen es. Sie ist ein bisschen angegriffen. Du weißt schon, diese Sache mit ihrer Hüfte ...«

      Es war gelungen. Nadine griff entspannt nach ihrem Weinglas. Doch schon mit der nächsten Frage ihrer Mutter stand es wieder auf dem Beistelltisch: »Läuft da Mahler im Hintergrund?«

      »Ja - und?«

      »Nichts, Schatz.«

      »Das war noch im Player, als ...«

      »Ja, ja.«

      Nadine hörte ihre Mutter wissend lächeln. Sie wünschte sich, sie könnte hörbar die Augen verdrehen. Das Gegenprogramm zu Fippsis beruflichen Tätigkeiten musste schon ganz oben auf der Kulturskala angesetzt sein, sonst wirkte es nicht. Und da sie immer erst abends nach Hause kam, war Fippsi bereits ...

      Oh. Heute nicht. Es war Sonntag. Es war Viertel nach fünf. Sie schielte auf ihr Weinglas und spürte das schlechte Gewissen in sich aufsteigen. Verdammter Herbst mit seinen frühen Abenden.

      »Was soll ich Papi zum Geburtstag schenken?«

      Einen Versuch war es wert.

      »Da liegt mir was auf der Zunge.«

      »Ach, Mami!«

      »Das wäre doch mal eine Überraschung!«

      »Na bestens. Woher soll ich denn bis dahin ... Na gut. Ich werde mir einen Mann mieten, ihn den passenden Lebenslauf auswendig lernen lassen und ihn als meinen Verlobten bei euch antanzen lassen.«

      »Er sollte aber dunkelhaarig sein.«

      »Sonst noch was?«

      »Lass mich mal überlegen. Vielleicht so einer mit richtig altmodischem Charme. So mit Handkuss und so. Du weißt schon!«

      »Ich hab dich auch lieb!«

      Nadine musste darüber lächeln, dass ihre Mutter ihr ein Lächeln entlockt hatte. Sie freute sich auf Papis Geburtstag. Selbst wenn es noch zwei Wochen hin war. Und ihr einfach kein Geschenk einfiel.

      2

      Nadine stürzte durch die Tür des Studiogebäudes, als diese endlich summend aufsprang. Ein kurzatmiges »Hallo« Richtung Martina am Empfang gekeucht, dann war sie auch schon am anderen Ende des Flurs angelangt. Loriot kannte seinen Job, er ließ sich auf seiner angestammten Decke neben dem Empfangstresen nieder.

      Sie blieb vor der Tür zu Studio C stehen, holte zweimal tief Luft, bevor sie eintrat. Eigentlich doch ganz normal, wie immer. Außer, dass nicht sie erwartet wurde. Und sie eine halbe Stunde zu spät war.

      Micha war schon da. Natürlich. Die Tür zur fensterlosen Studiokabine war geschlossen, offenbar war auch der heutige Sprecher bereits anwesend. Oder war es eine Sprecherin? Nadine wusste es nicht. Sehr peinlich.

      »Hallo Micha, ich bin es. Tut mir voll leid, ich hatte ...«