Katja Kerschgens

Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit


Скачать книгу

habe zum Beispiel auch nicht im Internet nach seinem Foto gesucht. Ich will das nicht.«

      Sarah prostete Nadine mit ihrem Weinglas zu.

      »Mit Verlaub: Sie haben einen Knall, Frau Walters.«

      Dann hatte sie offenbar eine Eingebung und griff nach ihrem Smartphone, das auf dem Tisch lag und in den letzten drei Minuten schon viermal vibriert hatte. Sie klickte die eingegangenen SMS weg.

      »Warte, den suche ich mir jetzt! Da hätte ich ja auch mal früher drauf kommen können ...«

      »Nein, lass das!«

      Nadine war ziemlich laut geworden. Loriot setzte erstaunt ein halblautes »Buufff« hinterher.

      »Jetzt lass mich doch!«

      »Nein, bitte nicht.«

      Sarah blickte verstört auf.

      »Sag mal, geht’s noch?«

      Nadine wurde das Thema langsam peinlich. »Lass uns über was anderes reden«, schlug sie vor.

      »Nee, nee, nee. So einfach geht das nicht. Mich hier erst heißmachen und dann rufen: Ätsch, bätsch, geguckt wird nicht! Hättest du wohl gerne.«

      Sarah tippte auf der glatten Oberfläche ihres Smartphones herum.

      »Wie wird der nochmal genau geschrieben?«

      Nadine lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. So sehr ihre Freundin mit sich selbst beschäftigt war, aber sie wusste auch, dass diese Geste nichts Gutes verhieß.

      »Du meinst das ernst, oder?«

      »Selten habe ich etwas ernster gemeint.«

      Es entstand eine Pause, in der Sarah ihr Handy weiter unschlüssig in der Hand hielt.

      »Komm, da steckt doch mehr dahinter. Jetzt sag schon!«

      »Da steckt überhaupt nichts dahinter.«

      Sarah legte das Smartphone zur Seite und stützte das Kinn auf die Hände.

      »Hmmm?«, machte sie mit großen Augen. Sie mochte tief in ihre eigene missglückte Welt vergraben sein, aber es gab sie dann doch, diese lichten Momente. Da war ihre Freundschaft plötzlich weniger einseitig.

      Ausgerechnet jetzt.

      »Weißt du, wie das für mich klingt?«, fragte sie mit einem Blick, als wolle sie eine zu kleine Schrift entziffern.

      »Nein.«

      »Es soll ja Leute geben, die vor der Ehe keinen Sex haben wollen. Die sparen sich für den großen Moment auf«, Sarah zeigte mit dem Finger auf Nadine, »ist es sowas vielleicht?«

      »Quatsch.«

      Ihre Freundin machte eine wegwerfende Geste.

      »Ist auch besser so. Diese Sexaufsparerei ist totaler Unsinn, das endet meist in der großen Enttäuschung, ich sag´s dir.«

      »Diese Enttäuschung will ich mir halt grundsätzlich ersparen.«

      Sarah nippte an ihrem Glas. Nachdenklich schleckte sie mit der Zungenspitze einen Tropfen von der Oberlippe.

      »Verstehe ich nicht.«

      »Überleg doch mal. Stell dir nur mal vor, er ist vielleicht so ein Hutzelmännchen«, Nadine schüttelte sich, »so ein kleiner Typ mit krummen Beinen und ein paar letzten dünnen Haaren, die er über seine Glatze gekämmt hat.«

      Sarah riss theatralisch die Augen auf und rief: »Vielleicht hat er ja einen Buckel!«

      Die beiden Frauen fingen an zu kichern, als hätten sie schon den dritten harten Drink hinter sich. Die Damen am Nachbartisch schauten herüber, als wollten sie einen abhaben.

      »Stimmt, das wäre eine Schande. Es wäre so, als risse jemand so ein pokemsches Dorf ein.«

      »Po-tem-kin-sches Dorf«, verbesserte Nadine.

      »Ich würde das nicht durchhalten, echt jetzt.«

      »Klar, du bist Enttäuschungen ja auch gewohnt.«

      Ein Gesprächsvakuum entstand, das an die Schmerzgrenze ging. Es war keine lange Pause, aber eine sehr tiefe. Nadine hörte den Nachhall ihrer eigenen Worte.

      Oha.

      »Was genau«, Sarah sprach ihre Worte so ruhig, dass Nadine genau wusste: Sarah war alles andere als ruhig in diesem Moment, »willst du damit sagen?«

      »Ich. Also. Weißt du ...«

      »Ich höre.«

      Nadine suchte nach einem Erdloch, starrte aber nur auf den verkratzten, leicht verschmutzten Linoleumboden. Oder war es Laminat? Industrieparkett? Wie hielt so ein Boden überhaupt den Belastungen durch die hin und herlaufenden Kellner und Gäste stand? Machten Stöckelschuhe eigentlich grundsätzlich mehr Dellen als ...

      Sie blickte auf. Keine Chance. Ihr Gegenüber wartete auf ihre Antwort.

      »Ich habe das nicht so gemeint«, gab sie sich reumütig.

      Sarahs Frage war stecknadelspitz: »Wie dann?«

      »Ach, weißt du, ich kann mit Enttäuschungen eben schwer umgehen.«

      »Mir fällt das dagegen ganz leicht? Das ist mir jetzt aber neu.«

      Sarahs Tonfall war betont unbetont. Wollte Nadine eine Freundin loswerden, war das hier gerade eine günstige Gelegenheit. Zum handfesten Streit fehlte nur noch ein falscher Atemzug. Sie schluckte. Eigentlich waren ihre Treffen doch immer recht nett. Sie lachten viel zusammen. Meistens. Wenn es nicht um Sarahs Probleme ging. Also fast meistens. Manchmal.

      »Im Gegensatz zu dir habe ich eben einiges an Glück gehabt. Und das will ich nicht aufs Spiel setzen. Ich meine«, Nadine war plötzlich überzeugt, dass das einfach mal gesagt werden musste, »das Leben hat dich ganz anders auf solche Dinge vorbereitet. Ich habe Angst, dass meine heile Welt einen Riss bekommt.«

      So. Jetzt war es raus.

      »Deine Sorgen will ich haben«, Sarah atmete schnell und tief ein und stieß die Luft in einem Stoß durch die Nase aus, »denn meine Welt hat ja schon genügend Risse, so dass es auf den einen oder anderen nicht ankommt. So in der Art?«

      Nadine nickte vorsichtig. Sie rechnete damit, dass Sarah jetzt auf den Tisch schlug oder empört aufsprang oder sie beschimpfte oder ...

      »Da hast du irgendwie Recht.«

      »Habe ich?«, fragte Nadine leise.

      »Du und deine goldene Hülle. Du verkriechst dich in deine Bücher, hast dich um nichts zu kümmern, hast einen tollen Job, einen total süßen Hund und kannst machen, was du willst. Meilenweit weg von der Wirklichkeit um dich herum.«

      Nadine hatte das Gefühl, zu einer winzigen flauschigen Kugel zusammenzuschrumpfen.

      »So ähnlich.«

      Beinahe wäre ihr noch eine Entschuldigung hinterhergerutscht. Konnte das sein, dass sie sich jetzt schlecht fühlte, weil ihr Leben ein kleines bisschen über der Norm all der Enttäuschten und Gedemütigten verlief? So gesehen fühlte sich ihr Leben falsch an, da gab es nichts dran zu rütteln. Verquere Welt.

      Sarah warf sich in die Rückenlehne ihres Bistrostuhles. Das Plastik gab ein ächzendes Geräusch von sich.

      »Du hast echt Sorgen.«

      »Sagen wir es mal so: Ich habe eben andere Sorgen als die Mehrheit.«

      Ihre Freundin machte übergangslos ein nachdenkliches Gesicht.

      »Am meisten wundert mich, dass der Typ da mitspielt. Ich meine, die Situation muss dem doch völlig absurd vorkommen.«

      Nadine zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, aber Mr. Stimme, wie sie ihn für sich nannte, war mit ihrem ungewöhnlichen Wunsch umgegangen, als sei es das Normalste