Katja Kerschgens

Hilfe, ich hatte eine glückliche Kindheit


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Menschen niemals zu Gesicht bekommen.

      Niemals.

      »So, kleine Pause, Herr Noack. Ich mache Ihnen die Kabinentür auf, damit Sie sich die Beine vertreten können«, sagte Micha und nahm seinen Kopfhörer ab.

      Nadine riss sich ihr eigenes Headset herunter und schnappte sich das Manuskript. Sie sprang auf.

      »Bin gleich wieder da.«

      Sie stürzte regelrecht aus dem Raum voller Racks und Blinklampen. Sie musste nach draußen an die frische Luft. Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt für eine Zigarette. Wenn sie nur rauchen würde. Loriot sah sie sofort, als sie in den Empfangsbereich kam. Freudig sprang er an ihr hoch. Aber da fiel ihr ein, dass Micha und der Sprecher ihr hier oder vor der Tür begegnen könnten. Nein, das ging gar nicht. Außerdem hatte sie Dringenderes zu tun, als sich abzukühlen, auch wenn ihr die Hitze noch im Gesicht stand.

      »Sorry, Schätzchen, jetzt kein Gassi, Frauchen muss lesen.«

      Sie sah sich um und entdeckte eine offen stehende Tür, dahinter ein herrenloses Büro. Bestens. Sie huschte hinein, zog die Tür hinter sich zu, setzte sich an den Schreibtisch. Schnell blätterte sie im Manuskript bis zu der Stelle, die zuletzt gelesen worden war. Sie scannte die nächsten Seiten im Schnelldurchgang. Sie musste das Buch perfekt drauf haben für die Produktion. Sie wusste, dass der Sprecher gut vorbereitet war und sich im Vorfeld schon intensiv mit dem Text auseinandergesetzt hatte, dass er längst Anmerkungen und Notizen für die einzelnen Protagonisten und seine Interpretation der verschiedenen Stimmlagen gemacht hatte. Alles Typen, die Nadine noch nicht kannte und von denen sie noch kein Bild hatte.

      Auf dem Flur hörte sie ihn sagen: »Frische Luft ist eine gute Idee.«

      Micha versuchte in seiner schnoddrigen Art einen Scherz zu machen, »Zigarette ist für Sie wahrscheinlich sowas Ähnliches wie Schokolade für Magermodels, was?«, scheiterte aber an seiner Unterwürfigkeit. Er hatte sicher schon bessere Witze gemacht, auch wenn Nadine noch keinen gehört hatte. Die Herren verließen offenbar das Gebäude, rasch sammelte sie sich für die Zeilen vor ihr.

      Sie konnte schnell lesen, aber für diesen dicken Schinken und das bisschen Zeit nicht schnell genug. Nach einer Weile - viel zu kurz, aber immerhin - waren wieder die Stimmen und Schritte der Männer zu hören.

      Dann rief Micha vom anderen Ende des Flurs: »Nadine, wo bist du? Herr Noack und ich warten!«

      Nadine packte den Papierstoß, stolperte aus dem Büro und auf die Studiotür zu. Micha saß bereits an seinem Platz, als sie ankam, die Tür zur Sprecherkabine war verschlossen.

      Perfekt.

      Erleichtert aufseufzend ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder.

      »Herr Noack«, sagte sie in das Mikro ihres Kopfhörers, den sie sich in einer fließenden Bewegung aufgesetzt hatte, »gleich beim nächsten Kapitel: Wie wollen Sie den Widersacher sprechen?«

      »Warten Sie«, in ihrem Kopfhörer hörte sie Blätterrascheln, »ah, hier. Den hatte ich mir mit einer verschlagenen Stimme vorgestellt. Wie jemand, der immer so ein bisschen aus angehobenen Schultern heraus spricht, einen Hauch zischend, spitz.«

      Er machte es vor. Und Nadine hatte sofort den perfekten Unhold vor Augen, eine hinterlistige Type, der besser nicht zu trauen und die brandgefährlich werden konnte. Sie scrollte im Geist die Geschichte weiter durch, die sie bis jetzt gelesen hatte, und nickte.

      »Ja, das passt!«

      Micha meldete sich zu Wort: »Also, ich hatte mir da eher so einen Grummler vorgestellt, so einen lauten Maulhelden.«

      »Mh - mhm«, verneinten Nadine und die Stimme in ihrem Kopfhörer gleichzeitig, und sie musste schmunzeln. Sofort sprang ihr Herzschlag in eine andere Frequenz um: Dieser Noack sah es genauso wie sie

      »Du wirst sehen, Micha«, wandte sie sich an den Toningenieur, »der Typ wirkt in dieser Variante noch böser.«

      »Das glaube ich auch«, bestätigte die Stimme aus der Sprecherkabine, und Nadine hatte schon wieder diese Hitzewallungen.

      »Dann mal los«, gab sie den Auftakt für das nächste Kapitel.

      3

      »Na ja, und was macht bei dir die Arbeit?«

      »Neues Projekt.«

      »Was genau?«

      »Der neue Thriller von Blankett.«

      »Boah, das ist ja der Hammer. Wie kommst du denn da dran?«

      »Zufall.«

      »Und wer spricht es?«

      Stille.

      »Hallo Nase, muss ich noch die Angelausrüstung holen? Oder kommt da auch mal was von alleine heraus?«

      Nadine seufzte.

      »Du hast ihn bestimmt schon mal gehört.«

      Sarah zog die Schultern hoch, ihre Augenbrauen bewegten sich fragend nach oben.

      »Die Hunde des Nachbarn. Totgeburt. Oder Silber, Gold und du.«

      Nadines Freundin schlug sich die Hand vor den Mund, ihre blauen Augen rollten einmal einen vollen Kreis aus und starrten sie dann an.

      »Der? Wirklich der? Oh mein Gott, ich ... Ich liiiebe seine Stimme! Ich glaube, ich habe jedes Hörbuch, das er gesprochen hat! Jedes! Sogar den Ratgeber über Sex im Alter.«

      Nadine musste lächeln.

      »Das ist ihm sicher heute noch etwas unangenehm.«

      »Diese Stimme! Da bekomme ich jedes Mal ganz weiche Knie. Den wollte ich schon immer kennen lernen. Wie sieht er aus?«, Sarah machte einen Kiekser: »Warte, sag nichts! Er ist bestimmt muskulös mit kantigem Kinn, so ein aalglattes Männergesicht wie diese Beachboytypen in Amerika.«

      Nadine sagte nichts.

      »Komm, bitte, bitte! Oder vielleicht so ein großer Blonder mit Pferdeschwanzfrisur«, Sarah redete sich in Wallung, »mit großen Händen und dicken Armen, Variante Wikinger?«

      Sie schnappte kurz nach Luft.

      »Oder vielleicht - warte, so ein ...«

      Nadine hob beschwichtigend die Hände.

      »Nicht so laut, wir sind hier nicht alleine!«, flüsterte sie.

      Tatsächlich hatten bereits zwei mehr als mittelalte Frauen vom Nachbartisch einen Blick herübergeworfen. Und zwar beim Stichwort »große Hände«, Nadine hatte es genau gesehen. Selbst Loriot hatte die Aufregung gepackt, Sarahs Crescendo verhieß Aufbruch oder Leckerlis oder irgendetwas anderes Tolles. Schwanzwedelnd blickte er mit seinen schwarzen Knopfaugen zu ihr hoch.

      »Komm schon!«

      »Ich habe keine Ahnung.«

      »Oder ist er vielleicht ...«, Sarah hielt inne, »waaas? Du hast keine Ahnung?«

      »Nein.«

      »Ja, aber. Äh. Ihr arbeitet seit, seit - wie lange zusammen?«

      »Seit Montag.«

      »Und du hast ihn in diesen drei Tagen nicht ein einziges Mal ...?«

      »Nein.«

      »Wie soll das denn gehen in diesen winzigen Studioräumen?«

      »Ich habe ihn darum gebeten.«

      »Du hast - was?«

      Nadine schaute kurz zum Fenster hinaus auf die belebte Straße, die von den Schaufenstern beleuchtet wurde. Es regnete Bindfäden. Jeder Gast, der das Bistro betrat, schüttelte sich und den Schirm aus und roch nach nassem Stoff.

      »Ich habe ihm gesagt, dass man sich für solch große Projekte die Illusion erhalten sollte. Und dann noch was von Unvoreingenommenheit und vereinfachte Zusammenarbeit und