Jörg Meyer-Kossert

Der Fall der Irminsul


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Mundwinkel spiegelten das Gift seiner Worte wieder.

      "Nehmt lieber zwanzig Ladungen Trockenfisch. Das bringt uns über den Winter."

      "Zehn Ladungen und zehn Schweine."

      Die Stimmen gingen laut durcheinander, und in kurzer Zeit heizte sich die Stimmung immer mehr auf bis sich schließlich Rune, der Schamane erhob. Seine dürre Gestalt zeigte deutlich, wie sparsam er Nahrung zu sich nahm und wie oft er fastete. Die Sicherheit und Glaubwürdigkeit aber, die von seiner Person ausging, nötigte jedem Menschen ein hohes Maß an Achtung ab. Schnell kehrte Ruhe ein als die versammelten Menschen erkannten, dass er zu ihnen sprechen wollte, und erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus.

      "Freunde! Der Winter ist dieses Jahr wesentlich härter als in den vergangen Jahren. Ich denke, die Ems, die die Menschen aus den Flussauen ernährt, wird mit dickem Eis überzogen sein. Ihre Vorräte gehen sicherlich zu Ende. Natürlich ist das kein Grund, in unserem Land zu wildern. Aber sie werden nichts mehr haben, was sie uns im Tausch hätten geben können oder was wir jetzt als Schadensersatz fordern könnten."

      Rune versuchte seine Leute zu mäßigen. Er war in einfaches Leinen gekleidet und trug darüber ein helles Schaffell gegen die Kälte. An seinem Hals baumelte ein Amulett aus weißen Federn, die an kurzen Hanffäden aufgezogen waren.

      "Wir sollten zunächst einen Boten zu Chrodegang schicken und eine Erklärung von ihm als ihrem Fürsten verlangen."

      Unzufriedenes Gemurmel wurde hörbar und es entwickelte sich eine anhaltende Diskussion.

      Odo ließ sie gewähren. Die Krieger unter ihnen ließen bei solchen Aussprachen gerne ihre Muskeln spielen. Aber die Älteren und Ruhigen wussten geschickt, die Kriegstreiberei zu beruhigen.

      Aufmerksam horchte er in den Wortwechsel hinein und ließ allen Männern genügend Zeit sich Gehör zu verschaffen. Als er meinte, die allgemeine Stimmung genügend durchblickt zu haben, verschaffte er sich erneut Ruhe, indem er wiederholt auf seine kleine Trommel schlug bis Ruhe eingekehrt war.

      "Eibenhüter!

      Es ist Winter und wir haben genug damit zu tun, Nahrung zu beschaffen und alles für das nächste Frühjahr in Ordnung zu bringen. Ihr wisst so gut wie ich, dass wir im Moment weder zu den Flussauen marschieren können, um uns mit Waffengewalt den uns zustehenden Ersatz zu holen, noch zur Irminsul, um einen großen Thing einzuberufen.

      Deshalb schlage ich vor, dass wir zwei Boten zu Chrodegang schicken, so wie Rune gesagt hat, und um Erklärung bitten. Wenn es gut geht, werden sie uns für das nächste Frühjahr Ersatz zubilligen. Ich fürchte jedoch, so wie ich Chrodegang kenne, dass wir uns die Schweine und den Trockenfisch dann im nächsten Sommer dort selber abholen werden müssen."

      Zustimmendes Gemurmel wurde laut.

      "Derk! Nimm dir zwei Männer und reite zu Chrodegang. Die drei toten Diebe bleiben als Pfand hier im Dorf. Sag ihnen, wenn sie die Drei trotz ihres Frevels in Ehren in die Anderswelt schicken wollen, so können sie sie hier abholen. Aber wir erwarten eine angemessene Entschädigung. Wir werden ja sehen, was sie uns anbieten."

      Derk nickte entschlossen und begann sofort seine Vorbereitungen zu treffen.

      Vier Tage später, der Nordwind wütete noch entschiedener als vorher, bat eine Abordnung der Flussmenschen vor den Palisaden um Einlass. Odo empfing sie im Langhaus mit finsterem Gesicht.

      "Was habt ihr uns zu berichten?"

      Die drei vom Frost gezeichneten Boten schienen sich nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen.

      " Mein Fürst!", begann der Sprecher von ihnen.

      "Unser Fürst Chrodegang schickt dir diese zwei Schafe als Zeichen seiner guten Absicht. Die jungen Männer, die in eurem Wald gejagt haben, waren noch unerfahren und waren sich der Reichweite ihrer Tat nicht bewusst."

      Lautes Murren und wütende Proteste der Umstehenden waren die Antwort.

      "Der Fluss ist zugefroren und gibt uns keinen Fisch mehr. Unsere Vorräte sind größtenteils aufgebraucht und viele von uns leiden Hunger. Lass uns unsere drei Männer mitnehmen, damit wir ihnen einen ehrenvollen Abschied in die Totenwelt mitgeben können. Im kommenden Sommer werden wir euch nochmals einen Karren mit getrocknetem Fisch bringen."

      "So leicht kommt ihr uns nicht davon."

      "Halunken!"

      "Männer, die die heiligen Gesetze nicht beachten, brauchen kein ehrendes Geleit ins Totenreich."

      Die Zwischenrufe wurden lauter und übertrafen sich gegenseitig. Odo konnte sich nur mühsam Gehör verschaffen. Aber er ließ es auch gerne zu, dass die Flussmenschen sahen, welche gereizte Stimmung bei seinem Stamm herrschte.

      "Für den Frevel, unter den heiligen Eiben Hirsche zu jagen, gibt es keine Entschuldigung. Das wisst ihr genauso gut wie wir."

      Odo rang mit sich selbst um eine Lösung. Er wollte die gute Nachbarschaft zu den Flussmenschen nicht zu sehr belasten. Aber dieser versuchte Raub durfte auch nicht ungesühnt bleiben. Sonst war der Nachahmung Tür und Tor geöffnet.

      "Cernunnos*, der Gehörnte, dem diese Tiere unterstehen, wird euch selbst dafür sein Opfer abverlangen. Aber auch uns werdet ihr nicht mit zwei Schafen dafür abspeisen können. Bringt uns im nächsten Frühjahr zwei Ochsenkarren voll mit Stockfisch und dann wollen wir dieses Mal Nachsicht mit euch haben. Sollten wir euch aber noch einmal in unseren Wäldern erwischen, so werden unsere Krieger euch die rechte Antwort geben. Geht und bringt Chrodegang diese Antwort. Und nehmt die toten Wilderer mit nach Hause."

      Odo nickte knapp mit dem Kopf und wies mit der Hand zur Türe. Für die Boten war das sein Zeichen, dass die Anhörung beendet war. Mit eisigem Schweigen bildeten seine Stammesmitglieder eine Gasse, durch die die Boten den Raum verlassen mussten. Sie waren froh, als sie das Dorf und am Ende auch die Palisaden unbeschadet hinter sich hatten.

      Obwohl die Strafe auch härter hätte ausfallen können, war sich Odo darüber im Klaren, dass zwischen ihm und Chrodegang von nun an eine unausgesprochene Feindschaft begonnen hatte. Den vorgeschlagenen Handel würde Chrodegang wohl zähneknirschend annehmen, aber eines nicht allzu fernen Tages würde er ihm diese Niederlage heimzahlen wollen. Und die Gelegenheit hierzu sollte schneller kommen als beide argwöhnten.

      2 Rune

      Vorsichtig schob Iken das Fell beiseite, das den Eingang verschloss, und betrat die Hütte des Schamanen. Mühsam versuchten ihre Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nachdem sie den Eingang wieder verschlossen hatte, war der kalte Nordwind draußen geblieben und ein intensiver Geruch nach Kräutern und Erde erfasste ihre Sinne. An den Wänden der Hütte hingen zahllose zusammengebundene Pflanzenbüschel, die zum Trocknen dort aufgehängt worden waren. Darunter sah Iken viele kleine Töpfe und Schalen, die mit Pulvern, kleinen Steinen, mit Federn und Wolle, mit Tierhaaren und scheinbar auch mit kleinen Knochen gefüllt waren. Als Schamane war Rune auch für die Kranken und Verwundeten in seinem Stamm zuständig, und so wunderte sich Iken nicht über diesen großen Vorrat an Heilkräutern. Es war ein unbezahlbarer Schatz und zeigte wie vorsorglich und gewissenhaft Rune seine Aufgabe wahrnahm. Daneben lagen in für Iken nicht erkennbarer Ordnung verschiedene Werkzeuge, ein Beil, Messer, Mörser und Stößel und andere Gegenstände, deren Anwendung Iken fremd waren. Zuwenig verstand sie von der Arbeit eines Schamanen.

      "Warum kommst du nicht näher?", vernahm sie seine Stimme.

      Rune war nirgends zu sehen. Im hinteren Teil der Hütte, soviel wusste Iken allerdings von ihren vorangegangen, seltenen Besuchen, befand sich ein niedriger, durch ein rot durchwirktes Tuch abgetrennter Bereich, den Rune unter anderem als Schlafraum nutzte. Respektvoll schob sie das Tuch beiseite. Der gemütliche kleine Raum war mit zahllosen Fellen, zwei Hockern und einer großen Liegestatt ausgestattet. In der Mitte qualmte ein kleines Feuer, über dem ein kupferfarbener Topf hing, in dem Rune scheinbar einen Tee bereitete. Platz für irgendwelche anderen Teile oder gar Besucher gab es nicht.

      Rune blickte sie erwartungsvoll