Jörg Meyer-Kossert

Der Fall der Irminsul


Скачать книгу

hatte, verfiel er in einen gleichmäßigen, monotonen Schritt. In der unendlichen Weite des Schnees wurden alle Geräusche dumpf geschluckt - tiefe Stille umgab ihn. Er hatte sich zwei derbe Haselruten beschafft, die ihm als Stöcke dienten. So umgab ihn nur der regelmäßige Takt seiner Schritte und das schleifende Tack -Tack der Stöcke im Schnee, dem er sich ganz überließ. Automatisch passte sich bald schon sein Atem diesem Rhythmus an und nach einer Weile war er bereits ein Stück in die unteren Sphären seines Selbst gesunken. Er bemerkte weder Kälte noch Anstrengung. Tack - Tack - Schritt - Schritt; nur das allein drang an sein Ohr und wies ihm den Weg. Automatisch wandte er sich hier nach links, dort nach rechts. Blind fand er den Weg, zu oft schon war er ihn gegangen.

      Doch ab einer ungewöhnlich geformten Felsengruppe wurde er plötzlich wieder hellwach für Zeichen im Außen:

      "Gut so", murmelte er, als er im Schnee die frische Spur eines Fuchses kreuzte. Und wenig später nickte er zufrieden mit dem Kopf, als er erst in den frühen Morgenstunden abgeknickte Äste einer Tollkirsche erblickte.

      "Gut! Sehr gut!"

      Nach Stunden erreichte er eine einzelne Eiche, die am Eingang dieses Tales stand, einem Torpfeiler gleich, hoch, knorrig und von kräftigem Wuchs. Rune hielt an, legte Felltasche und Messer ab und verneigte sich tief vor dem Baum.

      "Sei gegrüßt, Hüter des Tales", sprach er.

      "Ich bin gekommen wie immer. Wieder einmal bitte ich dich um deine Kraft und um deinen Schutz."

      Dann stellte er sich nah vor den Baum. Mit dem Gesicht ihm zugewandt erhob er beide Arme weit nach oben und berührte mit den Handflächen die rissige Rinde. Er schloss seine Augen und neigte den Kopf, sodass auch die Stirn Kontakt mit dem mächtigen Baumriesen bekam. Mit seinen gespreizten Beinen stand er schräg gegen den Baum gelehnt als ob er ihn stützte. In seinen Ohren begann ein hintergründiges Rauschen, dunkel und wild, das zu einem tiefen Dröhnen anwuchs. Von den Handflächen an spürte er einen mitreißenden Strom seine Arme herablaufen, und weiter durch seinen Hinterkopf sein Rückgrat hinunter. Sein Blut im Körper toste. Die Eiche und er waren verbunden, ihre Kraft floss in seiner und seine in ihr und er wusste: sein Kommen würde nicht umsonst sein.

      Lange verharrte er in dieser Haltung und spürte den Kreislauf zwischen Eiche und Ihm, zwischen Wasser und Fleisch, zwischen Naturgeistern und ihm, dem Schamanen. Und irgendwann, als der Zeitpunkt gekommen war, als die gegenseitige Begrüßung ihr Ende gefunden hatte, und das wunderbare Ineinander Tanzen sich gelegt hatte, gab er sich aus der Umschlingung frei - aufgeladen, gereinigt, die Kräfte egalisiert, er und die Eiche, die Eiche und er - ein und dasselbe Kraftfeld!

      Von nun an war er sich der guten Zeichen sicher. Nur eines noch galt es abzuwarten!

      Er dankte dem Baum, hob Messer und Felltasche auf und ging die Böschung herab, dem Tal entgegen. Kurz nach einer leichten Bodenerhebung konnte er in der Ferne, deutlich abgegrenzt vom Dickicht anderer Bäume, drei weitere Eichen ausmachen, nah an einer Felswand, seitlich im Tal. Sein Ort! Er war ganz nahe!

      Nun kam die letzte Ungewissheit. Er wusste: wenn er jetzt etwas falsch machte, war seine Sache in Gefahr. Still ließ er sich nieder, da wo er gestanden hatte, ohne Deckung, weit sichtbar für jedermann. Er kreuzte die Beine und spürte in den Atem des Tales hinein.

      Nach einer Weile legte er beide Hände an den Mund, formte die Finger seiner rechten in ungewöhnlicher Weise um die der linken Hand und gab dann drei schrille kurze Pfiffe von sich. Laut schallten sie in die Weite und Tiefe des Tales hinein.

      Warten - das war die leichteste Übung! Niemals hätte er sich hierüber Gedanken gemacht. Nein, die Schwingung war es, die stimmen musste, die Schwingung zwischen ihm und dem Tal und dem, auf das er wartete!

      Doch da sah er es! Behände und leichtfüßig, quirlig und doch zielgenau, hüpfte und sprang ihm etwas über Baumwipfel, Äste, Zweige und dann auch wieder am Boden über den Schnee entgegen. Sein Freund! Sein Freund und langjähriger Helfer, ohne den die Reise nicht gelingen konnte: das Eichhorn, welches in den drei Eichen wachte, während er seine Sache vollbringen würde!

      Rune hatte Nüsse mitgebracht und andere schmackhafte Samen, die er nun mit ruhiger Hand dem Eichhorn anbot. Es nahm sie aus seiner Hand entgegen und fraß. Er fühlte die Wärme des Fells, die kleinen Krallen und den weichen buschigen Schwanz, und Freude durchströmte sein Herz. Nun wusste er sich endgültig willkommen geheißen!

      Alles Weitere war wie ein wiederkehrendes Nachhause kommen. Beiden waren die nächsten Schritte klar: auf dem Weg zu den drei Eichen wurde Rune von dem wissenden Tier begleitet; als er ankam und sein Begrüßungsritual begann, blieb das Tier still auf seiner Schulter, und als Rune im Anschluss die nahegelegene Felswand nach dem Eingang zur Höhle absuchte, in die er sich zurückziehen würde, sprang das braune Tierchen als erstes voran in die modrige Luft hinter den bei der letzten Abreise von Rune aufgeschichteten Reisigzweigen.

      Er war angekommen und alle Zeichen verhießen eine gute Verbindung. Die nächsten Tage verbrachte Rune mit der unmittelbaren Vorbereitung der Reise: Kontakt aufnehmen mit dem Geist des Tales, die Verbindung mit den Tieren, Pflanzen, Mineralien und der Natur herstellen, um so das Netz der Kraft ganz direkt erfahren zu können! Er würde nur reisen können, wenn sein Bewusstsein mit dem Feld der Elemente dort verbunden war.

      Dazu gehörte, dass er ausschließlich aß, was im Tal gewachsen war, und trank, was durch die Böden- und Gesteinsschichten des Tales gesickert war. Hierfür hielt er in der Höhle stets Vorräte aus allen Jahreszeiten bereit: Wurzeln und getrocknete Beeren, Rinde, Pilze und Blattwerk und diverse weitere essbare Anteile, selbst Erde wie auch Asche von verschiedenen Feuerzeremonien hatte er in unterschiedlichen Behältnissen in der Höhle vorrätig.

      Tropfwasser aus der Höhlendecke, welches sich in einem natürlich entstandenen Becken fing, hatte er in einem kleineren Überlaufbehälter so aufgefangen, dass er selbst im Winter, wie jetzt, diesen nur über seine Feuerstelle hängen musste, um das sachte darin geschmolzene Wasser anschließend zu sich nehmen zu können.

      Er aß nur kleine Mengen. Wasser jedoch trank er ausgiebig. Stundenlang saß er am Ausgang der Höhle. Von der kleinen Anhöhe sog er den Blick in das stille Tal in sich auf und fühlte sich mit allen seinen Sinnen in es hinein, um sein Bewusstsein zu den Wesen darin auszudehnen. Sobald die Dämmerung kam, umkreiste er sein Feuer und sog den Rauch der verbrannten Materialien tief in seine Lungen hinein. Dabei trug er seinen Kopfschmuck, schwang den Kopf in verschiedensten Rhythmen, und ließ die Klangteile prasselnd aneinanderschlagen, bis die Wogen der Energie abebbten und ihn in ein gleichmäßiges Stampfen mit seinen Füssen auf dem Boden der Höhle führten.

      Erst als er sich tief verbunden wusste mit allen Elementen des Tales, dem Geist der Pflanzen, sowie mit Wind, Sonne, Wasser und Schnee, begann er sein eigentliches Vorhaben.

      Neben seiner Feuerstelle nahm er eine Hand voll kleiner Steine, sehr unterschiedlich in Farbe, Material und Struktur, bedächtig in beide Hände. Er verweilte. Ihre Frequenzen, ihren unterschiedlichen Geist, ihre Energie zu fühlen, mit ihnen zu kommunizieren und zu hören, welche Botschaften sie ihm übermitteln wollten, fiel ihm jetzt leicht.

      "Gibt es etwas, was ihr mir mitteilen möchtet?"

      "Habe ich eure Erlaubnis, mit euch meine Reise einzuleiten?"

      Der Geist der Mineralien zeigte sich ihm. Aufmerksam hörte Rune zu. Er nahm sie mit allen Sinnen wahr.

      Dann warf er sie vor sich auf den sorgfältig bereiteten Boden. Rune blickte still und unverwandt auf das gefallene Muster. Nach endlosem Starren schloss er die Augen. Er war bereit! Er lud die Mächte des Tales ein, mit ihm auf die Reise zu gehen. Eine Antwort erbat er, eine Antwort zur Frage: was hat es mit dem Mädchen auf sich, mit Frigga, dem kleinen, unscheinbaren Kind aus seinem Dorf?

      Still wartete er ab, horchend, demütig, nichts fordernd, nichts erwartend, nur offen, offen, weit... weit... in einer anderen Ebene versunken, dennoch präsent und klar und um sein Anliegen bewusst. Es zeigte sich ein Kreis verschiedener Helfer um ihn. Er könne wählen, hieß es, wählen, wer mit ihm auf die Reise gehen sollte. Er fragte, ob die weise Alte da sei:

      "Die, die alles weiß, die, die alles sieht."