das höhergelegene Geäst der großen Bäume, um seinem Toben zu entgehen; eher riskierten sie, mit einem dünnen Ast zu Boden zu stürzen, als sich den unberechenbaren Wutanfällen Kerchaks auszusetzen, der schon einem ihrer Artgenossen die Halsschlagader durchgebissen hatte. Ein junges Weibchen verlor den Halt auf einem Ast und landete krachend vor den Füßen Kerchaks. Mit einem dumpfen Schrei fiel er über das Weibchen her und riss ihm mit seinen mächtigen Zähnen ein großes Stück Fleisch aus der Flanke. Dann packte er einen armstarken Ast und schmetterte ihn seinem Opfer auf Schultern und Kopf, bis der Schädel der Unglücklichen einem blutigen Brei glich.
Sekunden später erspähte Kerchak Kala, die mit ihrem kleinen Kind von der Nahrungssuche zurückkehrte und ahnungslos näherkam. Erst die warnenden Schreie anderer Affen machten sie auf die Gefahr aufmerksam. Sie schwang sich mit einem Satz auf den nächsten Baum. Sie selbst entging wohl der haarigen Hand, die sie packen wollte, aber bei dem unerwarteten Satz hatte das kleine Äffchen den Halt verloren und stürzte aus zehn Meter Höhe zu Boden. Kala eilte ihm trotz der von Kerchak drohenden Gefahr sofort zu Hilfe, aber sie kam zu spät. Kerchak hatte das Kleine bereits mit seinen mächtigen Armen zerquetscht. Damit schien seine Wut verraucht, er traf keine Anstalten, Kala zu belästigen, die das leblose Geschöpf jammernd an ihre Brust drückte.
Kerchak war ein riesiger Gorilla von etwa dreihundertfünfzig Pfund Gewicht. Er hatte eine fliehende, außergewöhnlich niedrige Stirn, blutunterlaufene, kleine Augen saßen dicht neben der platten Nase, seine Ohren waren groß und dünnwandig. Seine Erregbarkeit und seine ungeheuren Kräfte hatten ihn zum Herrscher des kleinen Stammes gemacht, in dem er vor zwanzig Jahren geboren worden war. Jetzt, da er sich in der Blüte seiner Jahre befand, gab es im weiten Dschungel keinen Affen, der seine Herrschaft anzuzweifeln wagte, kein Raubtier, das den Mut hatte, sich ihm zum Kampf zu stellen.
Nur ein Dschungeltier fürchtete ihn nicht: Tantor, der alte Elefant; im Gegenteil, Kerchak mied das graue Tier mit den mächtigen Säulenbeinen und dem schwingenden Rüssel nach Kräften, Wenn Tantor trompetete, floh der Gorilla mit seinen Stammesgenossen in die höchsten Baumwipfel.
Der Stamm, den Kerchak mit eiserner Hand und geblecktem Gebiss regierte, zählte sechs bis acht Familien; jede Familie bestand aus einem erwachsenen Männchen, seinen Frauen und deren Jungen. Insgesamt bildeten also etwa sechzig bis siebzig Menschenaffen Kerchaks Stamm.
Kala war die jüngste Frau eines Affen namens Tublat. Sie zählte erst neun oder zehn Jahre, und das Kind, das Kerchak getötet hatte, war ihr erstes. Trotz ihrer Jugend war sie groß und kräftig, ein schönes Tier mit wohlgeformten Gliedern, einer runden, hohen Stirn, die auf größere Intelligenz schließen ließ, als sie ihre Stammesgenossen normalerweise besaßen. Auch ihre Mutterliebe zeigte sich stark ausgeprägt.
Als die Mitglieder des Stammes sahen, dass Kerchaks Wut verflogen war, kehrten sie von ihren luftigen Sitzen auf die Erde zurück und gaben sich weiter den Beschäftigungen hin, denen sie zuvor nachgegangen waren. Die Jüngsten tollten zwischen tiefhängenden Zweigen und Lianen, einige der Älteren lagen träge auf den weichen Matten faulender Dschungel-Vegetation, andere suchten in Baumstämmen und Erdklumpen nach Reptilien, Früchten, Nüssen, kleinen Vögeln und Eiern.
Eine Stunde verging so, dann rief Kerchak seine Untertanen zusammen und wandte sich, mit dem Befehl ihm zu folgen, dem Meer zu. Den größten Teil des Weges legten sie auf der Erde zurück, wobei sie den Elefantenpfaden folgten. Die Tiere hatten einen rollenden, schaukelnden Gang, weil sie beim Gehen die Knöchel der geschlossenen Hände aufsetzten, um ihre plumpen Körper voranzuschwingen.
Nahmen sie aber den Weg durch niedriges Geäst, dann waren sie von erstaunlicher Beweglichkeit und schwangen sich mit der gleichen Geschicklichkeit wie ihre kleineren, behänderen Artgenossen von Baum zu Baum. Kurz nach Mittag erreichten sie den Höhenzug, von dem sie den Strand und die kleine Holzhütte erblickten, die Kerchaks Ziel war.
Kerchak hatte viele seiner kleineren Artgenossen den Tod finden sehen, wenn sie in die Nähe des seltsamen, hellhäutigen Affen kamen, der einen schwarzen Stock in der Hand trug, mit dem er ein lautes Geräusch erzeugen konnte. Er hatte durch das Fenster der Hütte geblickt, wenn sich niemand darin aufhielt, und war entschlossen, das sonderbare Instrument zu erbeuten und das Innere der Hütte zu erforschen. Immer wieder verspürte Kerchak ans Verlangen, seine Zähne in den Hals des rätselhaften Tieres zu schlagen, das er zu fürchten und zu hassen gelernt hatte. Immer wieder lag er deshalb mit seinem Stamm im Hinterhalt, um auszukundschaften, ob der weiße Affe die Hütte verließ. Ihre Angriffe hatten sie seit längerer Zeit aufgegeben, denn jeder Überfall endete mit dein Donner aus dem kleinen Stock und dem Tod eines Stammesgenossen.
Heute verriet kein Zeichen die Anwesenheit des Mannes, und von ihrem Versteck aus konnten sie erkennen, dass die Tür der Hütte offenstand. Langsam und vorsichtig bewegten sie sich durch den Dschungel auf die Hütte zu. Keines der Tiere grollte oder schlug sich dröhnend gegen die Brust, denn der kleine schwarze Stock hatte sie gelehrt, ihre Anwesenheit nicht zu verraten.
Näher und näher kamen sie, bis Kerchak als erster die Tür erreichte und einen neugierigen Bück hineinwarf. Hinter ihm standen zwei Männchen und Kala, die noch immer den leblosen Körper ihres Kleinen an die Brust presste.
In der Hütte sahen sie den seltsamen weißen Affen halb über dem Tisch liegen. Sein Kopf ruhte auf den Armen. Auf dem Bett lag eine von einem Leintuch bedeckte, reglose Gestalt, und in einer kleinen, roh zusammengeschlagenen Wiege klagte weinend ein winziges Geschöpf.
Geräuschlos betrat Kerchak die Hütte und erwartete geduckt den Angriff. Im gleichen Augenblick fuhr John Clayton auf. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn erstarren; er sah drei mächtige männliche Gorillas und dahinter die Gestalten anderer Tiere, die sich gegen den Dschungel abzeichneten. Wie viele es waren, erfuhr er nie, denn seine Pistolen hingen neben dem Gewehr an der gegenüberliegenden Wand, und in dieser Sekunde sprang Kerchak ihn an.
Als der mächtige Affe die schlaffe Gestalt des Mannes, der John Clayton, Lord Greystoke, gewesen war, aus der tödlichen Umarmung entlassen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Wesen in der Wiege zu. Aber Kala kam ihm zuvor; sie riss das Kind an sich, bevor er es packen konnte, sprang mit einem gewaltigen Satz aus der Hütte und brachte sich auf dem Gipfel des höchsten Baumes in Sicherheit. An Stelle des Kindes von Alice Clayton lag nun ein kleiner toter Affe in der Wiege. Kala aber liebkoste das Menschenwesen, dessen Weinen an ihre Mutterinstinkte appelliert hatte. Unter ihrer zärtlichen Berührung verstummte das Weinen des kleinen Wesens bald. Kala verstand, was die klagenden Laute des Kindes ausdrücken wollten; sie legte es an ihre Brust und ließ es von der Milch trinken, die für ihr eigenes Kind bestimmt gewesen war.
So kam es, dass Kala, die Menschen-Äffin, die Rolle der Mutter für den kleinen Sohn eines englischen Lords und einer englischen Lady einnahm.
In der Zwischenzeit untersuchten die anderen Affen behutsam und misstrauisch die Einrichtung der Hütte. Kerchak wandte sich dem Bett zu und zog das Segeltuch beiseite. Beim Anblick der Gestalt Alices fuhr seine Hand mechanisch an ihre Kehle, aber sogleich spürte er, dass dieses Wesen nicht mehr lebte, und verlor das Interesse daran. Seine Aufmerksamkeit galt nun dem an der Wand hängenden Gewehr. Seit Monaten musste er das Verlangen bezähmen, den todbringenden Donnerstock sein eigen zu nennen. Nun, da er die Waffe nur zu nehmen brauchte, fand er kaum den Mut, sie zu ergreifen. Tief in seinem Unterbewusstsein schlummerte die Überzeugung, dass der Donnerstock nur in der Hand desjenigen, der mit ihm umzugehen wusste, gefährlich werden konnte. Dennoch vergingen mehrere Minuten, bis er es fertigbrachte, ihn zu berühren. Immer wieder durchquerte er die Hütte, ohne den Blick von der Waffe zu lassen. Schließlich blieb er an der Wand stehen, hob zögernd die Hand und ließ sie über den kühlen Stahl des Laufes gleiten. Die Tatsache, dass die Berührung ihm keinen Schmerz bereitete, ermutigte ihn, und er begann die Waffe genauer zu untersuchen. Seine Hand strich über Lauf und Schaft, er blickte in die dunkle Mündung, betastete Kimme und Korn und berührte schließlich den Abzug.
Donnernd löste sich der Schuss. Die Affen stürzten übereinander, als sie die unheimliche Hütte in wilder Flucht zu verlassen versuchten. Auch Kerchak war zu Tode erschrocken, so dass er völlig vergaß, den Gegenstand, der das donnernde Geräusch verursacht hatte, fallen zu lassen. Stattdessen umklammerte er die Waffe und nahm sie auf seiner Flucht mit