Rita Kuczynski

Präludien zu Hegel


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Präludien zu Hegel

      Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

      © 2019 by Rita Kuczynski

       www.rita-kuczynski.de

      Hoffbauerpfad 19

      14165 Berlin

      Buchgestaltung: Bernd Floßmann • www.IhrTraumVomBuch.de

      Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

      Diese Biografie ist keine Biografie

      Eine junge Frau erhält von höchster Stelle den Auftrag, eine Hegel-Biografie zu schreiben. Davon gibt es, wie alle wissen, die sich mit dem Thema beschäftigen, viele. Hier und jetzt jedoch bestehen besondere Erwartungen. Hegel ist einer der geistigen Väter der zu dieser Zeit herrschenden Auffassung, wenn auch einer, der auf dem Kopf stand. Für diese Auffassung musste Hegel durch den Klassiker vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ein Klassiker, das wissen diejenigen, die in dieser Zeit das Sagen haben sehr gut, ist nur groß durch große Vorgänger. Eine Biografie darf, ja soll den Vorgänger stark, aber überwindbar darstellen.

      Für die junge Frau, Rita Kuczynski, ist die Welt Klang. Sie ist auch Musikerin. Davon hatte sie gerade lange genug abgesehen. Sie schreibt also an diesem Text und ist sich nach dem ersten Rausch klar: Das ist es sicher nicht, was die Auftraggeber lesen wollten. Sie ist sich bewusst: Diese Biografie ist keine Biografie, sondern ein Bericht vom Klang des Werdens hegelschen Denkens, ein Musikstück in Worten.

      Sie wendet sich an ihren Mentor, den Philosophen Wolfgang Heise, und beichtet. Der sagt: Schreib weiter! Und als sie zum Ende kommt, wird Heise von der „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Kulturministerium“, faktisch der Zensurbehörde der DDR, gebeten, ein Gutachten für eine eventuelle Veröffentlichung zu erstellen. Er schreibt in das Gutachten, natürlich auch mit dem Ziel, dass das Buch eine Druckgenehmigung erhalte: „Der literarischen Gattung nach entstand ein Unikum, weder ein philosophischer Essay noch ein historischer Roman … weder Dokumentation noch freie Erfindung … eine Gemüt- und phantasievolle Rekonstruktion eines Lebensmonologs des jungen Hegel …“ Er bescheinigt der Autorin „… die sprachliche Intensität und sprachliche Musikalität des inneren Monologs, einen den jüngeren Generationen verlorenen Zugang zu Hegel.“ Seine Sprache wird plötzlich selbst von der Musik des Textes ergriffen: „Dieser subjektive Weg ist freilich anschaulich nur, insofern das Abstrakte vergegenwärtigt wird: hier die Beziehung von Ich und Welt …“

      Vorsichtshalber fügt Heise hinzu, dass es sich hier um Hegels „Verhältnis zur kirchlichen Ideologie und Autorität“ handle. Doch: „Nun ist es freilich noch niemandem hinreichend gelungen in der Wissenschaft, die individuelle Erfahrung der Epoche, vermittelt durch den sozialen Kommunikationszusammenhang und die konkrete Gegenständlichkeit des Erfahrenen zu rekonstruieren.“ Der Autorin, so weiß Heise, ist es gelungen. Doch das spricht er klugerweise nicht aus. Ihre „Darstellung ist ein Versuch, Dialektik nicht nur im Geburtsprozess als Methode der Welterkenntnis, sondern zugleich als Weg, das eigene Verhältnis zur Umwelt und Wirklichkeit produktiv zu gestalten, darzustellen.“

      Da Wolfgang Heise in diesen Zeiten einer der wenigen international anerkannten Philosophen aus der DDR ist, hatte die Zensurbehörde wenig Lust auf Streit. Und so tat die Behörde das, was sie in diesem Fall immer tat, sie setzte das Buch auf die Liste der Bücher, für die leider zu wenig Papier da war, ließ tausend Exemplare drucken und vergaß den Fall.

      Nun kommt dieses Kleinod wieder in den Druck, so wie es geschrieben wurde. Dieser Text gibt allen eine Chance, die versuchen, Hegel zu verstehen, die versuchen, seinen Entwicklungs­prozess nachzuvollziehen. Hegel ist hier ein ganz junger Mensch, so wie wir, ganz in Zweifel und hin- und hergerissen, getrieben von der Notwendigkeit, beeinflusst von den Stürmen der Welt um ihn herum, so wie wir, auf dem Weg, tätig zu werden, so wie wir …

      Hier steht der Text, es gibt keinen besseren Weg. Lesen Sie ihn.

      Bernd Floßmann, Berlin im Januar 2019

       Als ich einst unmutig war über das Wort: »Alles, was ist, ist vernünftig«, lächelte er sonderbar und bemerkte: »Es könnte auch heißen: ,Alles, was vernünftig ist, muß sein.’« … Dann standen wir des Abends am Fenster, und ich schwärmte über die Sterne, dem Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: »Die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.«

       Heine, Briefe über Deutschland

       … und wir werden staunen und fragen, ob wir es noch seien, wir, die Dürftigen, die wir die Sterne fragten, ob dort uns ein Frühling blühe …

       Hölderlin, Hyperion

       Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig.

       Hegel, Vorlesung über »Naturrecht und Staatswissenschaft«, 1819/20

Stuttgart 1770-1789

      Ungeprüftes Vertrauen

      Manchmal – und nicht nur, wenn es Tag wurde – glaubte er den Weg zu kennen. Manchmal – und nicht nur, wenn er ein Buch fand, das ihn fesselte – meinte er einige Schritte weiter zu gehen, doch machte er, ohne es zu merken, schon bald Schritte zurück. Und nicht nur, wenn er die Berge um Stuttgart bestieg, mußte er Umwege nehmen, viele, die sich erst später als notwendige Wege erwiesen. Als seine Mutter starb, blieb ihm im vierzehnten Lebensjahr nichts übrig, als sich von einer Welt zu trennen, an die er sich gerade erst zu gewöhnen begann.

      Ach, diese Trennungen … Er fürchtete sie, lange bevor die Mutter starb; als hätte er geahnt, daß sie ihm wieder und wieder bevorstehen würden, er mit ihnen immer aufs neue zu tun haben werde, ohne vorerst zu wissen, warum.

      Manchmal, wenn er in seinem Zimmer war, schloß er die Fenster und wartete, bis die Unruhe aus den Vorhängen wich; bis sie herabfiel und endgültig liegenblieb. Er versuchte alle Spalten abzudecken, die Ritzen zu verstopfen, um auf diese Weise auch die kleinsten Zugänge zu seinem Zimmer zu unterbinden. Denn nur in entschiedenster Abgeschlossenheit glaubte er an manchen Tagen das Maß für seine ihm allein eigenen Unbegrenztheiten nicht zu verlieren. An anderen Tagen, wenn die Mutter entgegen ihrer Gewohnheit abends die Tür zu seinem Zimmer nicht einen Spalt offenstehen ließ, sondern sie richtig schloß, damit die jüngeren Geschwister ihn nicht störten oder der Lärm von Besuchern ihn nicht belästigte, fühlte er sich so allein, so getrennt von den anderen, daß er augenblicklich aufstand und vorsichtig die Tür, die er als Einrichtung nie ganz verstand, wieder öffnete. Danach machte er oft einige Schritte durchs elterliche Haus, unsicher, ob jedes Zimmer mit jedem noch in Verbindung stand. – Grenzüberschreitung von einem Zimmer ins andere, durch Türen, die durch nichts als ihr Vorhandensein beglaubigt schienen. Das war also möglich in der Residenz Württembergs, in der Hegel zu ausgebildeterem Weltverstand gelangen sollte; einem Weltverstand, der – wie man Hegel später nachsagte gekennzeichnet war »durch einen gescheiten Eklektizismus, den er sich angeeignet hatte … durch vielseitigere Kenntnis in der neueren Literatur, besonders der aufklärerischen«,1 zu der er leicht Zugang hatte in der Hauptstadt des Landes.

      Frühzeitig konspektiert er Moses Mendelssohn über die Frage »Was heißt aufklären?«, liest Campes Moralkompendien für Kinder, verfolgt die »Berliner Monatszeitschrift«, das Blatt der Berliner Aufklärung. Er stellt Exzerpte über Nicolai zusammen, interessiert sich für Garves Versuch, die deutsche Aufklärung mit der europäischen, insbesondere der französischen und englischen, zu vermitteln. Er liest auch die »Allgemeine Literatur Zeitung« und macht Auszüge, Seiten über Seiten aus Feders neuem »Emil«, dem deutschen Versuch auf Rousseaus Erziehungsroman.

      Doch was war mit Hegels Wünschen, die in den Ecken hockten, in Hohlräumen zwischen den Wänden oder unter den Dielen eingeschlossen? Was mit den Träumen, die