Rita Kuczynski

Präludien zu Hegel


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Zeit wenig. Das sollte sich dann ändern, nachdem zunächst Hegel und Hölderlin im selben Jahr immatrikuliert wurden und zwei Jahre später der erst fünfzehnjährige Schelling ins Stift eintrat. Das Kloster: es bestand damals aus zwei parallelen Flügeln, verbunden durch einen Kreuzgang; der hintere Flügel an einen Berg gelehnt, aber durch einen tiefen Graben von der höher liegenden Gasse getrennt; hier war die Kirche, der Chor gen Morgen gewendet. Der andere Flügel enthielt das Refektorium und die Zellen, an denen der Neckar vorbeifließt. In diesem Gebäude, so hieß es, wollte man durch maßvolle äußerliche Beschränkung die Stiftler zu innerer Freiheit in der Wissenschaft erziehen. Zucht, Gehorsam und Einordnung waren daher oberstes Gesetz; die Kleidung (eine Art geistliche Kleidung) vorgeschrieben, die Teilnahme am Gottesdienst (gemeinsames Morgengebet, sonntags gemeinsamer Kirchgang), Ausgang und Studienzeiten waren genau festgelegt (man hatte sich jeweils an der Pforte zu melden), das Betreten von Wirtshäusern war verboten, Tanzen, Rauchen etc., Teilnahme an den Vorlesungen war Pflicht und nicht minder die Teilnahme an den Disputationen und Repetitionen, und Repetenten und ihre Famuli überwachten überall ihre Durchführung und führten darüber Buch. Aber nicht nur das: Einmal im Semester wurde über das Benehmen der Studenten an das Konsistorium nach Stuttgart berichtet, das seinerseits zu den Berichten Stellung nahm und evtl. Strafen festsetzte: ja, der Herzog selbst ließ sich die Listen vorlegen, und er zögerte nicht, bisweilen nach Tübingen zu kommen, um inmitten der Studentenschaft Lob und Tadel auszusprechen … Aber Verbote sind auch dazu da, übertreten zu werden, Verordnungen kann man umgehen oder sich öffentlich gegen sie auflehnen.

      Über den Mauern der Kirche war noch ein mächtiger Bau von zwei hochragenden Stockwerken, der so gewaltig über dem Hof emporstieg, daß die Bewohner der oberen »Sphäre« — so hießen die Gänge — 99 Stufen zu ersteigen hatten. 99 Stufen mußten die herzoglichen Stipendianten bewältigen, um sich in die Spektren der Theologie einzulesen. Eine angemessene Höhe hatten sie zu erreichen, um sich in die Metaphysik einzuüben. 99 Stufen, um sich in den recht dunklen, kaum heizbaren Zimmern die spekulativen Lehrsätze einzuprägen. Dabei saßen sie im Winter so gedrängt beisammen, daß der eine am Ofen von der Hitze geplagt wurde und der andere am Fenster fror. Daß der eine hinter dem Ofen nicht Licht genug hatte, um zu lesen oder zu schreiben, der andere näher der Tür von jedem Aus- oder Eingehenden Beschwerlichkeit litt. Dadurch wird mancher veranlaßt, so hieß es in diesem Bericht an den Herzog weiter, »sich lieber auf einer kalten Kammer in der Entfernung von andern aufzuhalten; um der Kälte willen bedient man sich eines Kohlenfeuers oder errichtet gar einen eigen mächtigen, gefährlichen Ofen, man raucht Tabak, es finden sich andere dabei ein, und so entsteht dann wohl auch ein Spiel«,1 was die Stiftleitung nicht korrekt fand, so weit über der Erde.

      99 Stufen, wie viele liegen zwischen Wissen und Nichtwissen? Doch mit dieser Frage sah sich Hegel erst gegen Ende seines Studiums konfrontiert.

      Korrekturen

      Zunächst galt: sich abwenden von dem, was man gut kannte, was keine Herausforderung mehr bildete. Hinter sich lassen die Zeit, in der scheinbar noch nichts entschieden war, in der man nur hoffen konnte, daß eine Entscheidung nicht fallen würde, eine Entscheidung, die viele andere Möglichkeiten – die man doch immer hat – dann ausschloß. Zunächst galt: zu vergessen die vielen begriffslosen Worte, mit denen man »unsere Köpfe von Jugend auf angefüllt …, und woraus größtenteils unser Gedankensystem besteht«. Hinter sich lassen die flüchtige Sprache, diese »ganz begrenzte Sammlung bestimmter Begriffe, nach denen wir alles modeln, was wir sehen oder bemerken«.1 Wenn schon Spekulation, dann bitte wie die Alten, besonders die Griechen: ausgehend von Erfahrungen und Beobachtungen Schlüsse ziehen. Auf dem Mittelweg zwischen Altem und Neuem liegt die Wahrheit!2

      Hatte Hegel bemerkt, daß das Reich der Wahrheit keineswegs so scharf von der Nicht-Wahrheit zu trennen ist, daß diese Reiche sich oft zum Verwechseln ähneln, mögen noch so tiefe Gräben sich zwischen Kloster und Straße hinziehen?

      Hinter ihm lagen die Fesseln des Stuttgarter Gehorsams, vor ihm die neuen, die in Stiftsstatuten festgeschriebenen. Vielleicht kann man die Tübinger eher sprengen. Vielleicht. – Lange, zu lange herrschte äußerliche Ruhe um Hegel, Ruhe, die wenig von ihm verriet. Erst jetzt in der neuen Umwelt begann sich etwas zu trennen, zu entfernen von ihm.

      Es begann damit, daß er sich in den Vorlesungen Worte aufschrieb, die eigentlich nicht aufzuschreiben waren, über die ein Professor Flatt oder Starr in ihren Vorlesungen mit Sicherheit nicht gesprochen haben. Der wenig interessante Ablauf der Pflichtvorlesungen über Ereignisse und Dinge, die längst besprochen oder durch die Zeitereignisse berichtigt waren, ließ genug Freiraum, um mit den Gedanken hinauszugehen aus den fast immer zu dunklen Vorlesungsräumen oder die Gedanken einfach ineinanderfallen zu lassen, so daß mitunter am Ende einer Vorlesung über »Metaphysik und natürliche Theologie« oder über die »Einführung in die christliche Dogmatik« auf einem fast leeren Blatt nur wenige Worte standen, wie: Leben … Gewissen … Gehorsam … Judas … Verwandlung … Pflicht … Bleiben … Assoziationsketten, die scheinbar in keinem Zusammenhang standen und die Hegels Biographen später auch nicht fanden, weil er die Blätter bald wegwarf, auf denen sie standen. Seine Zeit hier im Stift hatte schon einen Riss, der viel weiter reichte als von Augenblick zu Augenblick. Der Weggang von zu Haus. Die Erfahrung des gemeinsamen Lebens im Stift. Mit den Studenten Fink und Fallot reitet er in die Natur, mit Hölderlin macht er ausgedehnte Spaziergänge, auf denen sie über die Griechen sprechen, mit anderen wiederum liest er Gedichte. Diese Erfahrung der Freundschaft unter Gleichaltrigen ist neu für ihn. Er kann wählen zwischen Geselligkeit und gewünschtem Alleinsein eines studierenden Stiftlers. Diese freundschaftlichen Beziehungen der Studenten untereinander werden später wichtig sein für ihr Verhalten gegenüber der Stiftsleitung in turbulenteren Klosterzeiten.

      Hegels Leben hier konnte keinesfalls mehr einfach ablaufen. Etwas war geschehen, etwas, das sich erst später deuten lassen würde. Denn jetzt lebte er in einer Welt, die der früheren zwar verwandt, aber noch nicht wieder die seine war. Die Konturen waren andere. Die Schatten nicht zu deuten. Da standen Dinge und Wünsche auf und wollten auf ihn zugehen. Wünsche und Dinge, die er frühzeitig zum Schweigen gebracht hatte, weil er fürchtete, wohin sie ihn führten; hatte er doch bald bemerkt: Wünsche und Träume haben so viele Orte, so viele Türen. Und so rang er mit sich und all den Träumen, die er verlegte in die Bücher und deren Zwischenräume. Er rang mit dem Problem, was man verlieren kann, allmählich, ohne es zu vergessen. Ja, verlieren, an Tagen, da wir frieren und unsere Mütter uns nicht sagen können, wohin es geht, weil sie auch nicht wissen, wo das Alleinsein endet und wann wir einen Gott vermissen. Er erfuhr zum ersten Mal, wie man überwintern kann in sich selbst; wie man sich einzurichten versteht in Verhältnissen, in denen Empfindungen allzu oft unterdrückt werden.3

      Doch noch war er nicht fähig, diesen Zustand zu artikulieren. Jeder Versuch kam nach zu heftigem Anlauf zum Erliegen. So beschloß er, eine Weile zu ringen, zunächst im Genuß nach Genuß.

      Denn etwas mußte geschehen, wenn nichts Gründliches, dann eben das Nächstbeste, vielleicht. Und warum nicht durch die Straßen Tübingens ziehen, sich in Gasthäusern niederlassen und hören, was die anderen reden, wenn man zunächst nur schweigen kann, um ungültig zu machen vieles von dem Gesagten früherer Zeiten. Warum nicht einfach wieder mal in den Tag hinein leben, zumal man im Stift den lieben langen Tag mit tiefernstem Gesicht herumlaufen muß, um wenigstens den Schein der Ernsthaftigkeit und Würde eines herzoglichen Stipendiaten zu wahren. Weshalb also nicht in den wenigen vorlesungsfreien Stunden mit den anderen in die Gasthäuser ziehen, in die Gasthäuser, »wo man die Stipendiaten zu fünfzigen und sechzigen in ihrem Ordenshabit« antraf, »in der einen Hand das Bierglas und in der anderen die Tabakspfeife«; einige von ihnen kegelten, andere spielten Tarock – was Hegel mit Leidenschaft auch getan haben soll. Zum Ärger der Stiftleitung konnte nicht einmal das Tragen der geistlichen Tracht die Studenten an ihre geistliche Verpflichtung erinnern und sie vom öffentlichen Fluchen und Balgen abhalten.4

      Nun wäre es aber ganz falsch, zu meinen, daß diese Gegend, in der sich Hegel wiederfand, von der früheren so absolut getrennt gewesen war, das Licht, in dem er sich jetzt befand, war ein anderes geworden.

      Er besuchte die Vorlesungen mäßig, bekam Verwarnungen, weil er Gebet und Kirchgang vernachlässigte.