Rita Kuczynski

Präludien zu Hegel


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hingegen in Privatstudien beharrlich und mit großem Fleiß arbeitete. Anders bei Hegel, der weder an Privatstudien noch an öffentlichen Vorlesungen großes Interesse oder gar Fleiß zeigte und der seine meisten Verwarnungen und Strafen wegen unerlaubtem Spazierengehen aus dem Stift oder zu später Heimkehr bekam.5 Vielleicht ahnten die drei schon, daß das, wonach sie suchten, das Geheimnis, der Drehpunkt aller Dinge, in diesen Vorlesungen nicht zu finden war – Vorlesungen, die das Neue der philosophischen Aufklärung, das von Frankreich schon herüberkam, ängstlich aussparten und statt dessen in sturer Kirchendogmatik verharrten. Vielleicht begriff Hegel, daß zunächst einmal abzuwarten ist und in den gewonnenen Freistunden mehr zu lernen war. Merkte er gerade in dieser Zeit, dass die ihm aufgedrängten Einsichten etwas Unangenehmes an sich hatten, unangenehm, weil sie ihn so endgültig und aufdringlich ansahen? Ahnte er, in dieser Zeit schon, daß sich Wahrheit auch widerspricht, unter anderem um ihrer selbst willen – aus einer Art produktiver Treulosigkeit sozusagen? Hatte er nicht im Resümee der Stuttgarter Jahre gemeint: Die Wahrheit liegt auf dem mittleren Weg?

      Zunächst wartete er also und hoffte, den richtigen Pfad doch noch zu finden. Er las, las Rousseau, der sein Held war. Er fand an Kants »Kritik der reinen Vernunft« zunächst nicht allzu viel Geschmack, die »Kritik der praktischen Vernunft« lag ihm schon eher. Die Sphären der »reinen Vernunft« waren ihm zur Zeit etwas fremd. Er war zu erdgebunden in den ersten Tübinger Jahren, um sich in die Spektren des »Reinen« einzulesen. Er hatte nachzuholen, er mußte nachholen: die Erfahrung des Augenblicks. Er war vornehmlich damit beschäftigt, die pietistische Strenge seiner Erziehung zu korrigieren. Das nahm seine Zeit in Anspruch. Und da er oft nicht wußte, wie er diese Korrektur vollziehen sollte, überließ er sich dem Wein, der auch seine Einsichten hat. Dennoch hoffte er, seine eigene Gangart zu finden, denn noch glaubte er an die Götter, die er mitgebracht aus Stuttgart. Er hoffte, obwohl einige Kommilitonen befürchteten, daß seine häufigen Unterredungen mit Bier und Wein ernsthafte Auswirkungen auf sein Denkvermögen haben könnten.6

      Und während Stunden so fielen in gebeugte Tage und Zweifel sich duckten in Tübinger Straßen, während Schatten sich legten auf die bereits gelernten Dinge und Lehrsätze sich in Ratlosigkeit verfingen, brach im Nachbarland Frankreich die Große Revolution aus.

      Ursachen für die Verderbtheit der Regierungen oder der Traum von den Menschenrechten

      Endlich war etwas Entscheidendes geschehen, etwas, das sich schon lange vorbereitet hatte und zumindest durchs Denken weit über Frankreichs Grenzen hinaus verbreitet war. Endlich schienen die Theorien der Aufklärung ergänzt zu werden durch die Aktion in der Gegenwart. Die Vernunftsätze der klassischen bürgerlichen Philosophie sollten Wirklichkeit werden und ihre Macht beweisen. Endlich wurde – noch ganz im Sinne der Aufklärung – verkündet, »daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Missachtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind«.1

      Nicht die Art und Weise, wie die herrschenden Feudalen ihre materiellen und politischen Interessen durchsetzten – unabhängig von ihrem Willen und Wollen durchsetzen mußten – war Ursache für das öffentliche Unglück, sondern die Unkenntnis, das Vergessen oder einfach die Missachtung der Menschenrechte, also das Nichtwissen und die mangelnde moralische Verantwortung, so sahen es jedenfalls die Sprecher des Bürgertums. Und weil sich den bürgerlichen Schichten der Kampf um ihre eigene politische Macht vornehmlich als das Ringen um die Verwirklichung der bestmöglichen Konzeption der Menschenrechte darstellte, war die gerade an die Macht gelangte französische Großbourgeoisie bestrebt, sobald als möglich ihre Konzeption von den »natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechten« darzulegen. Deshalb wandte sie sich schon einen Monat nach dem Sturm auf die Bastille in einer feierlichen Erklärung an das französische Volk und informierte es über seine Rechte. Aber trotz der feierlichen Verkündung erwiesen sich diese heiligen Rechte bald als Ausdruck des politischen Herrschaftsinteresses des französischen Bürgertums, das es aufgrund seiner schon lange bestehenden ökonomischen Macht jetzt einzulösen sich anschickte. Selbstbewußt erklärten daher die Männer der Konstituante – die politischen Vertreter der Großbourgeoisie – im August 1789: »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es«; die »natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte … sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung«; »die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem andern nicht schadet«; »die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eins der kostbarsten Rechte des Menschen«; die öffentliche Macht, die die Menschen und Bürgerrechte verbürgt, ist »eingesetzt für den Vorteil aller, und nicht für den besonderen Nutzen derer, denen sie anvertraut ist«. »Die Gesellschaft ist befugt, von jedem öffentlichen Beamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen«; denn: »Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Staatsbürger sind befugt, zur Feststellung desselben persönlich oder durch ihre Repräsentanten mitzuwirken.«2 Ja, diese erste Erklärung über die Menschenrechte nach dem Ausbruch der Revolution war den feudalen Rechten unendlich überlegen und hielt sowohl die bürgerlichen Schichten als auch die reformwilligen Fürsten vieler Länder in Atem. In Deutschland rissen sich die Bürger Zeitungen und Flugschriften, vor allem die französischen, geradezu aus der Hand. Von überall, auch aus deutschen Landen, strömten »Pilger der Freiheit« nach Paris. Wie in Italien, so schlugen auch in Deutschland die ersten Revolutionsblitze in den unmittelbaren Grenzgebieten ein. Nur wenige Wochen nach der Verkündung der Menschenrechte verweigerten die Bauern im Elsaß die Abgaben und Frondienste. Die bürgerliche Intelligenz war beeindruckt von den Vorgängen in Frankreich. Die Mehrheit der deutschen Bürger und der bessere Teil des Adels begrüßten zunächst die Nationalversammlung und das Volk Frankreichs mit einem Ruf freudiger Zustimmung. Die meisten deutschen Dichter ließen es sich nicht nehmen, den Ruhm des französischen Volkes zu besingen. Ist es erstaunlich, daß in diesen Tagen auch die Tübinger Studenten die Nachrichten aus Frankreich mit wesentlich größerem Interesse verfolgten als die Vorlesungen eines Professors Schnurrer über die »Apostelgeschichte und den ersten Teil der Psalmen«?

      Was für eine Perspektive, was für eine Vision – so schrieb man in Deutschland: Zum erstenmal werden wir ein Reich sehen können, »worin das Eigentum eines jeden heilig, die Person eines jeden unverletzlich, die Gedanken zollfrei, das Glauben ungestempelt, die Äußerung desselben durch Worte, Schriften und Handlungen völlig frei und keinem menschlichen Richterspruch mehr unterworfen sein wird; ein Reich, worin keine privilegierte, keine geborne Volksbedrücker, keine Aristokratie als die der Talente und der Tugenden, keine Hierarchie und kein Despotismus mehr stattfinden, wo vielmehr alle gleich, alle zu allen Ämtern, wozu ihre Verdienste sie fähig machen, fähig sein und nur Kenntnisse, Geschicklichkeiten und Tugenden einen Vorzug geben werden; ein Reich, wo Recht und Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise und ohne alles Ansehn der Person werden verwaltet, und zwar unentgeltlich verwaltet werden, und wo jeder, auch der armseligste Landmann, nicht etwa nur dem Scheine nach, wie in andern Ländern, sondern wirklich in der gesetzgebenden Versammlung repräsentiert werden, also jeder, auch der armseligste Landmann, Mitregent und Mitgesetzgeber seines Vaterlandes sein wird«.3

      Die Gedanken zollfrei. Das Glauben ungestempelt. Keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden. Keine Volksbedrücker, kein Despotismus mehr. Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise. Welch eine Utopie für die Klassengesellschaft! Denn die Gedanken zollfrei, mag ja noch gehen. Dass Glauben ungestempelt ist, auch möglich ist, solange das Glauben selbst nicht institutionalisiert wird. Aber keine Volksbedrücker, kein Despotismus – ist eine der Unmöglichkeiten für die Klassengesellschaft, an die auch die Bourgeoisie nur im ersten Taumel ihres Aufstiegs glauben konnte. Auch Gerechtigkeit für alle – nur eine Vision, die sich bald als Recht der bürgerlichen Klasse enthüllen sollte.

      Dieser erste und auch die folgenden Interessenkataloge der französischen Bourgeoisie, die Menschenrechtsdeklarationen, enthielten viele utopische, das heißt für das französische Bürgertum nicht zu realisierende Forderungen. Und doch waren es auch diese utopischen Momente und illusionären Vorstellungen über die historischen Möglichkeiten einer Revolution, die die progressiven Kräfte in Frankreich einten und ihnen gemeinsames Handeln gegen die Feudalität ermöglichten. Denn hier waren Worte und Sätze gefunden für die gemeinsamen Interessen