Tom Bleiring

Schattenwelten


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die Miller’s deine letzte Möglichkeit darstellen, denn ansonsten musst du bald alleine zurechtkommen.<< >>Ich verstehe, Miss Carver, << erwiderte Duncan leise. Die Heimleiterin räusperte sich und beugte sich zu Duncan vor. >>Die Miller’s sind eine gut betuchte Familie, du hättest es nicht schlecht bei ihnen. Sie können dir eine qualifizierte Ausbildung gewährleisten, ein Heim und eine intakte Familie. << Duncan nickte und blickte schüchtern auf seine Knie hinab. >>Kann ich nicht einfach hier bleiben , << fragte er ? Mrs. Carver hatte nicht mit solch einer Frage gerechnet, fühlte sich etwas überrumpelt und versuchte ihre Unsicherheit durch eine schroffe Antwort zu verbergen. >>Das geht nicht, nein, << entgegnete sie kühl. >>Wir dürfen es auch nicht. Das Gesetz sieht so etwas nicht vor, zumindest nicht für Leute wie dich.<< Duncan hob den Blick und starrte völlig ungerührt die Heimleiterin an. >>Leute wie mich , << wiederholte er tonlos ? Mrs. Carver gestikulierte aufgebracht mit den Händen. >>Waisenkinder, Findelkinder, nenn es wie du willst. Sobald du Volljährig bist, musst du diese Einrichtung verlassen und dein Glück selber suchen . Dies ist ein Waisenhaus, kein Armenhaus. Du wirst gehen müssen ! << Duncan nickte und senkte wieder den Blick. >>Wohin soll ich gehen , << fragte er mit besorgter Stimme ? >>Das hat mich nicht zu interessieren, << antwortete Mrs. Carver barsch. >>Geh nach London, such dir eine Bleibe und eine Arbeit. << Wieder nickte Duncan, doch seine Enttäuschung war ihm anzusehen . >>Man muss immer für sich selber sorgen, so ist es im Leben nun mal, << sagte die Heimleiterin , dann entließ sie den jungen Mann mit einer Handbewegung und beschäftigte sich wieder mit ihren Dokumenten. Duncan kehrte in sein Zimmer zurück und ließ sich auf der Kante seines Bettes nieder. Der Raum war nicht sehr groß, enthielt neben dem Bett nur noch einen alten Schrank, in dem der Junge seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Durch eine kleines Fenster drang Tageslicht herein, doch die kleine Kammer schien es zu verschlucken. Ständiges Zwielicht war die Folge, selbst im hellen Sonnenschein des Sommers. Duncan strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte frustriert zu Boden. Das Heim war sein Zuhause, solange er sich erinnern konnte. Doch in zwei Monaten würde alles ein Ende finden, wenn er die Miller’s nicht von sich überzeugen konnte. Er verband nicht gerade schöne Kindheitserinnerungen mit dem Heim, sicher nicht, doch ein anderes Zuhause hatte er nie kennenlernen dürfen. Die anderen Kinder waren zu seiner Familie geworden, auch wenn sie nicht viel mit ihm zu tun haben wollten. In seiner Nähe schienen sie sich immer unwohl zu fühlen, ihnen wurde kalt und sie meinten sogar, leises Flüstern in seiner Gegenwart zu vernehmen. Was Kinder sich manchmal ausdenken können, dachte Duncan und wiederholte damit nur ein Kommentar von Mrs. Carver zu diesem Thema. Er selbst vernahm gelegentlich auch ein Zischen und Knistern, doch er hatte gelernt, es zu ignorieren. Vermutlich waren es nur akustische Täuschungen, mehr aber auch nicht. Er rückte weiter auf sein Bett und stieß dabei gegen seinen einzigen Freund, seinen Teddybären. Dieser war ihm von seinen Eltern mitgegeben worden, denn sie hatten ihn damals mit dem kleinen Duncan in die Decke gewickelt, in der man ihn später vor der Tür des Kinderheimes gefunden hatte. Der Teddy selbst war mit den Jahren verschlissen, das Fell hatte seine braune Farbe verloren und wirkte abgegriffen. Doch Duncan hatte stets jeden Riss sorgsam zugenäht und verschlossen, weshalb der Bär noch beide Arme und Beine hatte. Seine schwarzen Knopfaugen schienen ihn traurig anzublicken, als wüsste er von dem Dilemma, in dem sich sein Besitzer befand. Duncan nahm ihn in die Hände und betrachtete ihn liebevoll. Er hatte nie echte Freunde gehabt, nicht einmal unter den Kindern im Heim, daher stellte dieses Kuscheltier seine Familie dar. Ihm war bewusst, wie seltsam dies war, doch niemandem sonst hatte er sich in der Vergangenheit anvertrauen können. Und sein Teddybär, dem er irgendwann den Namen Luke gegeben hatte, hörte ihm zu. Er war siebzehn Jahre alt und hatte einen Freund, der nur aus Kunststoff und Holzwolle bestand. Selbst in seinen Ohren klang das reichlich verrückt. Er schob das Kuscheltier unter sein Kopfkissen zurück und erhob sich. Nachdenklich betrachtete er sein Gesicht in dem kleinen Spiegel, der neben seinem Kleiderschrank hing. Sein glattes braunes Haar bereitete ihm nie Schwierigkeiten, es schien nie zu zerzausen oder zu verkletten. Und seine Haut war makellos, glatt und blass. Er kannte andere Jugendliche aus dem Ort und wusste daher, wie pickelig man in der Pubertät werden konnte, doch für ihn hatte das nie eine Rolle gespielt. Wenn Mrs. Carver am Sonntag mit den Kindern in die Kirche ging, schienen sich die Blicke der jungen Mädchen nur auf ihn zu richten. Es wunderte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn sie zu flüstern und zu kichern begannen, ihn dabei aber weiterhin begafften. Schließlich kannte ihn keines der Mädchen persönlich. Er schob den Gedanken daran beiseite und wandte sich dem Fenster zu. Draußen zogen bleigraue Wolken am Himmel heran, die Regen in Aussicht stellten. Der Herbst hatte das Land noch fest in seinem Griff und seinen rotgoldenen Anstrich auf Bäume und Büsche gleichermaßen. Zu dieser Jahreszeit wirkte das Gelände ringsum das Waisenhaus noch trostloser, noch kälter als zu jeder anderen Jahreszeit. Duncan hatte nie viel Freude an der Aussicht gefunden, die sich ihm durch sein Fenster bot. In einiger Entfernung, hinter den verrosteten Gitterstäben des Zaunes, ragten bleiche Schornsteine empor und warfen ihre düsteren Schatten auf das Umland. Es gab wirklich schönere Flecken in dieser Gegend, das war ihm bewusst. Er genoss die sonntäglichen Kirchgänge, denn sie führten die kleine Gruppe aus dem Waisenhaus an den schönsten Plätzen des Ortes vorbei. Gerade die Waltham Abbey selbst gefiel Duncan, denn sie lag wie eine Insel der Ruhe mitten im Ortskern und strahlte erhaben über die Dächer der umliegenden Häuser hinweg. Die Rasenfläche auf ihrer Rückseite wirkte wie gemalt und flößte jedem Beobachter ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit ein. Er bedauerte es, dass er nie die Gelegenheit erhalten hatte, sich genauer im Ort umzusehen. Das Verlassen des Heimgeländes war allen Kindern untersagt, und Duncan kannte die Strafen, die jemanden erwarteten, der gegen diese Regel verstieß. Sie waren sehr hart, fast drakonisch, und Mrs. Carver kannte kein Pardon, wenn es um Regelverletzungen ging . Ein Flugzeug glitt geräuschlos am Himmel vorüber und ging langsam tiefer. Duncan meinte, einen Vogel auf dem Heck des Flugzeuges zu erkennen, doch dies war sicher nur Einbildung. So gute Augen hatte nun wirklich niemand. Er setzte sich erneut auf sein Bett und schlang die Arme um die Knie . Wie die Miller’s wohl sind, dachte er ? Zumindest waren sie wohlhabend, was natürlich ein interessanter Punkt für die Heimleitung war, denn eine Adoption war kein kostenloses Vergnügen. Duncan mochte noch ein Jugendlicher sein, aber er war nicht dumm. Viele Besucher hatten seine Ruhe und seine schweigsame Ader mit einer gewissen Einfältigkeit in Verbindung gebracht, doch das traf nicht zu. Duncan hatte gelernt, zuzuhören und erst nachzudenken, ehe er den Mund aufmachte. Ihm war durchaus bewusst, dass die Familien, die sich an das Waisenhaus wandten, über Geld verfügen mussten, denn er hatte Gespräche zwischen der Direktorin und den Leuten verfolgt. Mrs. Carver schacherte nicht mit ihnen, das wäre auch undenkbar gewesen, doch sie nannte ihren Preis und schien ihn auch zu erhalten. Manches Mal fühlte sich Duncan an die Händler auf dem Wochenmarkt erinnert, den er gelegentlich mit der Heimleiterin besuchen musste. Einige feilschten, als hinge ihr Seelenheil davon ab, andere wiederum nannten ihren Preis und wichen nicht ein Deut davon ab. Aber in solchen Bahnen konnte man natürlich nicht denken, wenn es um Waisenkinder ging. Immerhin wurden diese nicht wie Ware verkauft. Aber wie sollte er es nun anstellen, dass die Miller’s sich auf jeden Fall für ihn entschieden? Er hatte schon so häufig Familien vergrault, auch wenn er sich die größte Mühe gegeben hatte, nett und freundlich zu erscheinen. Irgendetwas schien die Leute an ihm zu stören, auch wenn sie es nie auf den Punkt bringen und beschreiben konnten. Sie fanden ihn sympathisch, keine Frage, sehr gut erzogen und hübsch, doch es endete immer mit einer Absage an die Heimleiterin. Ganz zu Anfang hatte sich Duncan noch Vorwürfe gemacht, den Fehler oder Makel bei sich zu finden versucht, doch irgendwann hatte er eingesehen, dass das zu nichts führte. Es schien da etwas zu geben, was die Leute störte, doch er konnte nicht feststellen, was es war, also war es müßig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ein leises Klopfen an der Tür ließ Duncan aus seinen Gedanken aufschrecken. Diese öffnete sich langsam und das schmale Gesicht eines jungen Mädchen’s spähte durch den Spalt in den Raum. Sie hieß Lee Ann, war vierzehn Jahre alt und das einzige Mädchen, das im Waisenhaus lebte. Während die anderen Kinder Duncan mieden, schien Lee Ann seine Nähe geradezu zu suchen. Er mochte das Mädchen, denn sie war eine stille und herzliche Freundin in all den gemeinsamen Jahren geworden. Die beiden saßen häufig zusammen und schwiegen sich an, nicht etwa, weil sie sich nichts zu sagen gehabt hätten, sondern weil jedes Wort überflüssig war. Man konnte sich auch, ohne viel miteinander zu sprechen, verständigen. Lee Ann trat in das Zimmer und schloss die Tür. Sie hatte strohblondes Haar,