Tom Bleiring

Schattenwelten


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ich möchte ihn heute noch mitnehmen. Das stellt doch kein Problem dar, oder etwa doch ? << >>Selbstverständlich nicht, << antwortete Mrs. Carver, und ein Ausdruck von Erleichterung huschte über ihr altes Gesicht. >>Geh und pack deine Habseligkeiten, Duncan. Mr. Miller und ich klären nur noch die Details, dann sagen wir Lebewohl. << Zum ersten Mal sah er ein freundliches Lächeln auf den Gesichtszügen seiner Heimleiterin, was Duncan im ersten Moment irritierte, doch dann kam er der Aufforderung nach und kehrte in sein Zimmer zurück. Dort warf er rasch seinen wenigen persönlichen Besitz in einen zerschlissenen Seesack, den er vor Jahren auf dem Speicher gefunden hatte, vergaß auch seinen Teddy nicht dabei und wollte dann schleunigst zurück ins Erdgeschoss eilen, doch Lee versperrte ihm den Weg. Mit verweinten Augen blickte sie ihn an, umarmte ihn dann und drückte ihn fest an sich. Schluchzend flüsterte sie: >>Vergiss mich nicht, Duncan, egal wohin du gehst. << Dann ließ sie ihn los und eilte davon. Duncan blieb einige Augenblicke wie angewurzelt stehen, denn in seinem Inneren schien sich gerade ein großes schwarzes Loch zu öffnen. Er würde von hier fortgehen, dachte er zuerst, doch dann gesellte sich ein zweiter Gedanke hinzu. Du musst Lee Ann zurücklassen. Erst jetzt, in der Stunde des Abschieds, begriff Duncan die ganze Tragweite und Bedeutung dieses kurzen Satzes. Er war mit ihr groß geworden, sie war fast eine Schwester für ihn. Es gab niemanden sonst, dem er so bedingungslos vertrauen konnte. Ein besonderes Band schien sie immer miteinander verbunden zu haben. Doch jetzt musste er sie zurücklassen. Jemand rief von unten aus nach ihm, und das sehr energisch. Benommen ging Duncan hinab in die Empfangshalle, wo Mrs. Carver mit seinem neuen Vater bereits wartete. >>Alles in Ordnung , mein Sohn ?, << fragte Mr. Miller. Duncan nickte und lächelte nur, denn ein Klos im Hals hinderte ihn am Sprechen. Du hast ihr etwas versprochen, schoss es ihm durch den Kopf. Miss Piper, die gerade durch die Tür treten wollte, blieb abrupt stehen, so dass Duncan gegen sie prallte. Sie wandte sich ihm nicht zu, doch er hörte klar ihre Stimme sagen: >>Versprechen muss man halten. << Dann setzte sie ihren Weg fort. Duncan blieb wie angewurzelt stehen. Hatte Miss Piper das wirklich gerade gesagt? Aber wie wusste sie davon? Er hatte Lee Ann ihr gegenüber doch mit keiner Silbe erwähnt. >>Ist noch irgendetwas ?, << hörte er seinen neuen Dad hinter sich fragen . Duncan schüttelte den Kopf und trat in den kalten, aber sonnigen Herbstmorgen hinaus. Die Fahrt dauerte fast zwei Stunden. Duncan blickte immer wieder neugierig durch die getönten Scheiben hinaus und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Er war noch nie außerhalb von Waltham Abbey gewesen und kannte das Land und die Orte, durch die sie fuhren, höchstens vom Namen her. Als sein Magen nach einer Weile laut zu knurren begann, hielten sie an einem Restaurant, in dem sie ein verspätetes Frühstück aßen, bestehend aus Burgern, Fritten und Cola. Miss Piper steuerte den Wagen sicher durch den stärker werdenden Verkehr, hinein in das Verkehrschaos von London. Vor ihnen wuchs die Metropole, aus kleinen Häusern der Vorstadt wurden gewaltige Türme aus Stahl und Glas. Menschenmassen drängten sich auf den Gehsteigen und an den Zugängen zur Londoner U-Bahn. Mister Miller saß während der Fahrt stumm neben Duncan und arbeitete an seinem Laptop. Nur hin und wieder sah er auf und schenkte Duncan ein aufmunterndes Lächeln. Als sie am Parlamentsgebäude vorbei fuhren, presste der junge Mann seine Nase gegen die Fenster, um wirklich alles sehen zu können. Miss Piper quittierte seine kindliche Neugier mit einem amüsierten Lächeln und lenkte den Wagen an den Straßenrand. >>Na los, spring raus und guck es dir genau an, << sagte sie. Mister Miller öffnete die Tür und stieg vor ihm aus. Zusammen überquerten sie die Westminster Bridge und blickten auf Big Ben und das imposante Parlamentsgebäude. >>Interessant, nicht wahr ?, << fragte Mister Miller. >>Ich kenn das alles nur von Bildern aus den Büchern im Waisenhaus, << erwiderte Duncan und bestaunte weiter die prächtigen Gebäude. >>Können wir das dort mal besichtigen, Mister Miller ?, << fragte Duncan schließlich. >>Nur, wenn du mich Jonathan oder Dad nennst, << antwortete dieser freundlich. Duncan nickte. >>Okay, Jonathan,<< sagte er. Dieser klopfte ihm wieder auf die Schulter, doch diesmal verspürte Duncan nichts. Dann wandte sich sein neuer Dad einem Zeitungsverkäufer in der Nähe zu, kaufte eine Tageszeitung und kehrte langsam zum Auto zurück. Duncan blieb noch einige Augenblicke und sog den faszinierenden Anblick in sich auf, dann aber eilte er Jonathan nach und sprang in die Limousine, als sich gerade ein Polizist dem Fahrzeug nähern wollte. Miss Piper fuhr abrupt an und fädelte sich mühelos in den dichten Verkehr wieder ein. Besorgt blickte Duncan zu dem kleiner werdenden Bobby zurück, doch Jonathan sagte: >>Der würde uns nicht behelligen, wenn er wüsste, wer in diesem Auto sitzt. << Duncan blickte ihn an und fragte: >>Was genau machst du überhaupt beruflich? << Sein Dad kratzte sich am Kinn und legte die Zeitung neben sich ab. >>Das ist schwer zu beantworten, denn ich beschäftige mich mit sehr vielen Dingen. Mit lukrativen Geschäften, aber auch mit karitativen Dingen. << >>Mrs. Carver sagte mir, dass du ein Industrieller wärst, << warf Duncan ein. Jonathan sah ihn etwas verblüfft an, dann aber nickte er langsam. >>Ja, in gewisser Weise bin ich das, wenn auch nicht ausschließlich. Ich bin, wie schon gesagt, in vielen Bereichen aktiv. Aber darüber werden wir uns später unterhalten, wenn ein geeigneter Moment gekommen ist. Denn ich schätze mal, du möchtest zuerst dein neues Zuhause begutachten. Duncan sah nach draußen und erkannte gerade noch, wie sie eine Toreinfahrt passierten und vor einer kleinen Villa hielten, die ringsum von Bäumen umgeben war. Ohne eine Aufforderung abzuwarten öffnete er seine Tür und stieg aus dem Auto. Feiner grauer Kies knirschte unter seinen Schuhen, doch von dem erwarteten Stadtlärm war hier nichts zu hören. Wohltuende Ruhe umgab das kleine schmucke Gebäude und den Park, der es umgab. >>Willkommen in deinem neuen Zuhause, Duncan, << sagte Miss Piper, als sie an ihm vorbei und die Treppe hinauf zur Eingangstür ging. Die kleine Villa war weiß getüncht worden, schimmerte leicht im Licht der Herbstsonne und wirkte gut in Schuss. Nirgends bröckelte Putz ab oder zeigten sich Wasserflecken an der Fassade. Jonathan war seiner Sekretärin gefolgt, stand nun im Eingang und rief ihn zu sich. Duncan konnte seinen Blick kaum von dem schönen Haus und der herrlichen Parkanlage abwenden, doch folgte er Jonathan langsam in den Flur. Dieser hatte gerade seinen Mantel an einen Haken gehängt und griff nun nach einer kleinen schwarzen Karte, auf der mehrere rote Knöpfe zu sehen waren. Es piepte leise, dann aber brach es aus allen Ecken des Hauses hervor. Wummernde Bässe ließen Duncan erschrocken zusammen fahren, denn solche Musik hatte er noch nie gehört. Aus dem Waisenhaus kannte er nur die Musik, die Mrs. Carver stets zu hören gewillt war. Mozart, Bach, Beethoven und Händel, damit war er aufgewachsen. Diese Art moderner Musik und ihre pure Lautstärke jagten ihm einen gehörigen Schrecken ein. Jonathan lachte und trat zu ihm heran. >>Das hilft mir beim Entspannen, << rief er ! >>Im Ernst ?, << erwiderte Duncan zweifelnd . Jonathan nickte und verschwand in einem Raum, der neben dem Flur lag und scheinbar sein Büro war, denn Duncan konnte einen großen dunklen Schreibtisch erkennen. Miss Piper erschien wieder und blieb vor dem neuen Hausbewohner stehen. Mit einem Ausdruck von Unmut im Gesicht betrachtete sie Duncan’s Anzug und schüttelte den Kopf. >>Das geht überhaupt nicht,<< verkündete sie schließlich. Sie trat an die Tür des Büros und sagte: >>Sir, was der junge Mann an Kleidung mitführt ist definitiv unangemessen. Wenn sie gestatten, dann würde ich gern mit ihm in die City fahren und ein paar Einkäufe erledigen.<< Jonathan erschien neben ihr, blickte Duncan mit kritischem Blick an und nickte dann nur. Miss Piper trat zu ihm und schob ihn mit sanftem Nachdruck wieder hinaus auf den Hof. >>Wir werden wohl Harrods und einige andere Läden aufsuchen müssen, um aus dir einen echten jungen Gentlemen machen zu können, << sagte sie und öffnete die Zentralverriegelung der Limousine per Fernbedienung. Duncan hatte nur mit halbem Ohr zugehört, denn er hatte ein neues Detail im eh schon herrlichen Garten des Hauses ausgemacht. Einige Meter von ihm entfernt sah er einen Rosenstrauch, der fast so groß wie er selbst war. Und dieser trug noch immer Blüten, und zwar Blaue. >>Ist das alles ein Traum ?, << fragte er und deutete auf den Busch, das Haus und alles um sich herum. Miss Piper’s Lächeln verschwand für einige Sekunden, kehrte dann aber umso strahlender zurück, als sie antwortete: >>Alles hat natürlich seinen Preis, aber das soll nicht deine Sorge sein. Steig ein und lass uns durchstarten. << Duncan sprang sofort zum Wagen und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Während der Fahrt in die Innenstadt beobachtete er Miss Piper, denn sie schien so etwas wie ein Kindermädchen für ihn zu sein. Sie mochte wohl Ende Zwanzig sein, auch wenn ihre Augen etwas anderes behaupten mochten. Sie hatte ihr nussbraunes Haar zu einem Dutt gebunden und trug, soweit Duncan das feststellen konnte, kein Makeup. Sie war recht