Amanda Kelly

Das Elfenbeintor der Träume


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ging, um zu erzählen, was passiert war. Der Mann war der Polizei bereits wegen verschiedener Straftaten bekannt. Sie erkannte sein Gesicht im Archiv des Polizeibüros. Als der Vergewaltiger die Anzeige erhalten hatte, beauftragte er einen Freund bei der Frau anzurufen, um ihr nahe zu legen, die Anzeige zurückzuziehen. Falls nicht, würde er ihr noch viel Schlimmeres antun. Die Frau war so eingeschüchtert von dem Telefonat, dass sie dem Polizeibeamten eine Postkarte schrieb mit der Bitte, die Untersuchung einzustellen. Sie erklärte auch, warum sie das getan hat, aber wie jeder weiß: wo kein Kläger, da kein Richter.

      Die Frau hatte nie einen Traum von der Vergewaltigung, aber ihr tägliches Leben war stark beeinflußt von Gedanken der Wut und des Hasses. Es ärgerte sie, dass der Kriminelle ohne Strafe davon kommen würde. Manchmal war sie ganz depressiv, wenn sie nur an die Vergewaltigung dachte, hauptsächlich wegen der Brutalität, die der Mann an ihr verübt hatte. Sie mißtraute starken Männern im Allgemeinen seitdem, heiratete jedoch einen starken Mann 12 Jahre später, als sie bereits 39 alt war. Die Ehe hielt nur wenige Jahre, bis sie ihren Ehemann wieder losgeworden war. Mit 45 Jahren verliebte sie sich in einen sehr liebevollen Mann. Er war nicht stark, im Gegenteil eher schwach und zart. Nach einem Jahr kam es zum Streit, weil er in eine andere Stadt ziehen wollte. Sie hat ihn geschlagen, nachdem sie ihn auf den Boden gedrückt hat und seine Arme genauso fest zusammenhielt, wie es einst ihr Vergewaltiger getan hatte. Die Beziehung hielt nicht mehr sehr lang. Ihre große Liebe hatte sie verlassen. Die Frau war so traurig nachdem er weg war. Ein Freund ihres Geliebten erzählte ihr, dass er es nicht vergessen konnte, dass sie ihn geschlagen hatte. Sie träumte ständig von ihm. Jeder Traum endete wie der andere: „Er war plötzlich verschwunden.“ Tief in ihrem Inneren wusste die Frau, dass es ihre Schuld war, dass er gegangen war. Sie besann sich wieder auf die Vergewaltigung und ihre Gedanken kreisten um eine Lösung, um endlich wieder ein unbelastetes Leben führen zu können.

      Sie entschloss sich, dem Vergewaltiger zu vergeben. Sie hatte von einer berühmten Bibelpredigerin gehört, dass durch Vergebung Heilung der Seele erreicht werden kann, was als erstes für einen selbst gut sein soll. Sie stellte sich vor, dass sie mit 27 sehr hübsch und unglaublich attraktiv gewesen sein musste, was sie mit 48 noch immer war. Sie stellte sich vor, dass der Mann vielleicht nicht anders handeln konnte. Sie versuchte angestrengt, ihrem Vergewaltiger zu verzeihen und wurde ruhiger. Trotzdem war sie immer noch traurig über die Umstände im Ganzen, bis ihr ein ganz spezieller Traum erschienen ist: „Ein Mann, der anscheinend sehr stark war, versuchte ihre Wohnungstüre, die aus Holz war zu öffnen. Die Tür war wirklich aus massivem Holz und hielt ihn noch eine Weile draußen. Aber er hatte so eine Kraft, dass er sie schließlich durchbrechen konnte. Sie hatte fürchterliche Angst. Genau in dem Moment, als er sie nach unten zwang und ihr etwas antun wollte, öffneten sich die beiden Türen ihres Kleiderschranks und zwei Polizisten kamen heraus. Nachdem die Polizeibeamten den Mann festgenommen und ihn fort gebracht hatten, schaute sie in ihren Schrank, weil sie sich darüber wunderte, wie die beiden sich darin aufhalten konnten. Sie sah, dass auf dem Boden des Schranks blaue Kissen lagen. Sie sah deutlich Eindrücke auf den Kissen, so als ob sie schon lange Zeit auf ihnen gesessen hätten.“ - Als sie am Morgen aufwachte und die Einzelheiten ihres Traums aufschrieb, erkannte sie, dass es der Kleiderschrank war, den sie in ihrer Wohnung zum Zeitpunkt der Vergewaltigung stehen hatte. Plötzlich spürte sie, dass es vorbei war. Von jetzt an war sie in der Lage, an das Verbrechen zu denken, ohne dass es sie emotional berührte.

      Nach einiger Zeit konnte diese Frau endlich auch den Verlust über ihren Freund verarbeiten. Immer wieder hatte sie von Szenen geträumt, in denen sie zusammen waren, bis er regelmäßig im Traum verschwunden war. Dann tauchte ein komplett anderer Traum auf: „Sie sah ihren Freund auf dem Boden liegen. Er war ganz dick geworden und schien ohnmächtig zu sein, als sie sich zu ihm herunter beugte. Nur an seinem Mund hatte sie ihn erkannt.“ - Das Dicksein ihres Exfreundes lieferte den Hinweis, dass etwas zum Vorteil gegenüber der Träumenden gelangen würde. Der Vorteil lag darin begründet, dass die Frau nun mit ihm abschließen konnte. Er besaß keine Macht mehr über sie, denn er war ja ohnmächtig im Traum.

      Der Klassiker unter den Abschlußträumen ist der Traum über einen Verstorbenen, der uns sehr nahe gestanden ist. Träumen Sie von dieser Person, neigt sich die Trauer dem Ende zu. Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wenn Sie vom Tod im Allgemeinen träumen. Es bedeutet meistens, dass Sie etwas innerlich abschließen können, was Ihnen Kummer und Sorgen bereitet hat.

       Der Eröffnungstraum

      Durch die Beschreibung des Abschlußtraums können Sie sich wahrscheinlich vorstellen, welch wertvolle Arbeit Träume für die mentale Gesundheit leisten. Betrachten wir noch einmal die Schwelle zwischen dem Unterbewußtsein und dem Bewußtsein und versuchen zu verstehen, dass die Traumkraft auch einen für uns erträglichen Traum erzeugen kann, zu dem der Wächter an der Schwelle sein Einverständnis geben kann und ihn passieren lässt. Der Wille dazu, dass die Traumkraft einen Traum erfinden soll, der für den Träumer etwas aufdecken soll, kann durchaus auch von uns selbst kommen. Irgend etwas beschäftigt uns, etwas das wir im Leben nicht richtig einordnen können. Irgend etwas Spezielles muss einst vorgefallen sein, was uns auf unserem Lebensweg immer wieder stört. Wir spüren es in unseren Beziehungen zu anderen Menschen, weil diese wiederum unser Innerstes reflektieren. Wir fragen uns, warum dieses oder jenes immer wieder schief läuft, warum wir mißverstanden werden, obwohl wir dachten, wir hätten uns klar ausgedrückt. Irgendeine Kraft stellt uns in unterschiedlicher Weise gegenüber den Anderen dar, als wir es eingeschätzt hätten.

      Eventuell handelt es sich dabei um ein Ereignis, das schon sehr lange zurückliegt. Wir könnten es verdrängt haben und erinnern uns nicht mehr an alle Details. Man könnte den Vorgang der Verdrängung mit einem Wollknäuel vergleichen. Beim Aufwickeln der Wolle, was den Lebensweg darstellen soll, ist an einer Stelle ein Knoten entstanden, was das Trauma darstellen soll. Die Wolle, die über den Knoten gewickelt wird bildet im Laufe der Zeit einen kleinen Hügel aus. Genau über diesen Knoten „stolpern“ wir dann immer wieder auf dem weiteren Lebensweg. Mithilfe eines Traums können wir den Weg der Wolle wieder zurückzugehen, bis zu dem Punkt, wo sich der Knoten befindet, ihn auflösen und die Wolle wieder schön aufwickeln. In der Praxis heißt das, wir können durch die Traumdeutung ein verdrängtes Trauma aufspüren und uns mit ihm bewußt auseinandersetzen. Mit anderen Worten repräsentiert der Eröffnungstraum die wahre Geschichte eines versteckten Traumas. Der Eröffnungstraum enthüllt sozusagen einen Vorfall aus der Vergangenheit, der von uns unterdrückt wurde und seitdem tief im Unterbewußtsein in einer verschlossenen Kiste verweilte.

      Ein lebendiges Beispiel: Ein Mann war mit einer Ausländerin verheiratet. Nach ein paar Jahren brachte sie ein Kind zur Welt, ein liebes Mädchen. Seine Frau war zur Ausländerbehörde gegangen und erhielt ihre endgültige Aufenthaltserlaubnis. Danach hat sie ihren Ehemann aus der Wohnung geworfen, obwohl er alles für seine Frau und sein Kind getan hatte. Sie wollte die Ehe nicht länger aufrechterhalten. Der Mann fühlte sich total ausgenutzt, weil seine Frau auch noch jedem erzählte, dass sie von ihrem Ehemann geschlagen worden sei, was eine Lüge war. Der Gipfel an schlechtem Benehmen war, dass sie das ganze Geld von seinem Bankkonto abgehoben hat. Wegen all dem, erkrankte der Mann an Krebs und musste eine ganze Weile in der Klinik bleiben. Danach bekam er eine eigene Wohnung und fing ein neues Leben an. Er ging jeden Tag in seine Stammkneipe und überspielte seinen Ärger, indem er sich einen lustigen Charakter angeeignet hatte. Ein guter Freund erzählte ihm Geschichten über Thailand. So kam es, dass der Mann nach Thailand reiste. Er lernte eine Thai kennen und war nun zusammen mit dieser Frau. Als er zurückkam, wollte er mehr Geld verdienen, um seine Freundin in Thailand zu unterstützen und öfter dorthin reisen zu können. Deshalb fing er an als LKW-Fahrer zu arbeiten.

      Nach ein paar Jahren ereignete sich ein schlimmer Unfall, den er mit seinem Lastwagen an einer Kreuzung verursachte. Wegen Eis und Schnee konnte er nicht schnell genug bremsen. Der Mann in dem Auto auf der Hauptstraße, dem er die Vorfahrt genommen hatte, war bei dem Unfall auf die Gegenfahrbahn geraten und mit einem anderen PKW kollidiert. Der Mann kam bei dem Unfall ums Leben. Der Mann aus unserer Geschichte wurde wegen fahrlässiger Tötung verurteilt und musste für einige Jahre ins Gefängnis. Als er entlassen wurde, war er ein gebrochener Mann und musste erneut wegen einem Tumor