Marvin Roth

Seelen Schlachter


Скачать книгу

mit seinem Schnabel in der Erde herum, auf der Suche nach einem Wurm oder einer schmackhaften Made. Der Fuchs sprang aus einem kleinen Gebüsch hervor, und beinahe wäre es dem Vogel noch gelungen, die Flucht zu ergreifen. Er flatterte auf, und der Fuchs sprang dem Vogel hinterher. Im letzten Moment erwischte er ihn gerade noch an den Schwanzfedern und riss ihn zu Boden. Schnell stellte er seine Pfote auf den Leib der Elster und biss dieser hastig das Genick durch. Sofort erschlaffte die Elster, und ein paar Tropfen Blut fielen auf den Waldboden. Dort versickerten sie im weichen Humus. Der Fuchs packte seine Beute und lief von plötzlicher Panik befallen mit ihr davon. Nach wenigen Sekunden war er im dichten Unterholz verschwunden. Das Blut aber weckte tief unter dem Humus etwas, das nie mehr hätte erweckt werden sollen.

      Ben Johanson hatte gerade mit dem Pflügen angefangen, als er drüben am Waldrand eine Bewegung wahrnahm. Ben schaute genauer hin und sah einen Mann in blauer Latzhose, kariertem Hemd und einer schwarzgrauen

      Baseballmütze dort stehen. Der Mann winkte ihm zu. Ben winkte zurück und erkannte Hank Berson, den alle aber immer nur Hanky nannten, obwohl er an die zwei Meter groß war. Hanky hatte strohblondes Haar und das Gemüt eines siebenjährigen Jungen.

      Seine Eltern, Ellie und Daniel, hatten damals geheiratet, obwohl sie Cousin und Cousine ersten Grades waren. Aber hier auf dem Land machte sich zu dieser Zeit keiner große Sorgen darum. Wenn die Kinder sich liebten, sagten alle, dann sollten sie ruhig heiraten. Sie waren doch so ein schönes Paar.

      Schon von kleinauf waren Ellie und Daniel immer zusammen gewesen. Daniels Vater, Ray, war Waldarbeiter, und ab und zu brachte er abends ein Stück Wild mit nach Hause, was in den armen, harten Tagen Fleisch für eine Woche bedeutete. Gleich neben den Bersons lebte in einer kleinen Hütte seine Schwester Willma, die den Bergarbeiter Ed Leuten geheiratet hatte. Er brachte nie genügend Geld mit nach Hause, um seine kleine Familie ordentlich zu versorgen. Oft kam er betrunken nach Hause und hatte nicht mehr viel Geld in der Tasche. So kam es, dass Willma und ihre kleine Ellie regelmäßig bei der Familie ihres Bruders zu essen bekamen. Eines Tages kam Ed nicht mehr nach Hause. Anfangs glaubte seine Frau, Ed wäre wieder auf einer Sauftour, doch als er nach drei Tagen noch nicht wieder aufgetaucht war, machte sich Ray auf die Suche. Er schulterte sein Gewehr, packte etwas Brot und getrocknetes Rehfleisch in einen Beutel und ging los. Tagelang durchstreifte er die Wälder und die nahegelegenen Gemeinden. Keiner der Leute, die er nach seinem Schwager fragte, hatte Ed gesehen. Am fünften Tag fand er ihn schließlich ... oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war. Ed lag an einem Abhang, etwa fünf Meilen von seinem Zuhause entfernt. Er war schrecklich zugerichtet. Kaum ein Körperteil war noch an seinem natürlichen Platz. Er war so verstümmelt, dass Ray sich übergeben musste. Nach einer Weile schaufelte er mit bloßen Händen ein Grab für seinen Schwager und beerdigte ihn. Gewissenhaft hatte er alle Spuren des grauenhaften Geschehens beseitigt und sogar Laub und Zweige über den aufgewühlten Boden verteilt. Der Wald sah nun wieder völlig unberührt aus. An einem nahen Bach wusch er sich gründlich und ging dann zurück zu seiner Familie. Dort angekommen sagte er, dass er nichts gefunden habe und Ed bestimmt weggelaufen sei. Seine Schwester und ihre kleine Tochter zogen nun ganz zu Rays Familie. Von diesem Tag an waren Ellie und Daniel immer zusammen. Für jeden im Tal war es ein gewohntes Bild, dass die beiden überall gemeinsam auftauchten, und so war es fast natürlich, dass sie schließlich heirateten.

      Ein gutes Jahr nach der Heirat wurde Hank geboren. Schon bald merkten die Eltern, dass ihr Sohn anders war als die anderen Kinder. Sie gaben dem Kleinen all ihre Liebe. Er wuchs prächtig heran, aber mit seinem Kopf war etwas nicht in Ordnung, wie die Leute sagten.

      Jeder im Tal kannte Hanky. Oft fuhr er mit seinem alten Fahrrad herum und sang Kinderlieder, und das tat er immer noch, obwohl er schon fast dreißig Jahre alt war. Hanky liebte sein Fahrrad, und er liebte den Wald. Die Leute sagten, das habe er von seinem Großvater geerbt. So manchen Tag streifte er durch die Wälder und kam erst bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause.

      So machte sich Ben Johanson auch keine Gedanken, als er Hanky am Waldrand stehen sah.

      Hanky sah den Traktor von Ben Johanson über das Feld fahren. Er mochte Ben gern, denn Ben war immer freundlich zu ihm. Manchmal schenkte er ihm ein Stück Schokolade oder ein Zitronenbonbon. Er stellte sich also gut sichtbar am Waldrand auf und winkte dem Farmer zu. Vielleicht hatte Ben Schokolade bei sich, und wenn er schön winkte, bekam er ein Stück. Der Farmer aber winkte nur kurz zurück und wendete sein Gefährt, um die nächste Reihe zu pflügen.

      »Dann hat er nix dabei«, murmelte Hanky vor sich hin.

      Ein Eichhörnchen rannte keine zwei Meter an ihm vorbei, und Hanky hatte Ben Johanson schon vergessen. Mit großen Kinderaugen schaute er dem Tier zu, wie es flink und gewandt den Baum erklomm. Nach einer Weile hatte er genug vom Zuschauen und tappte in seiner unbeholfenen Art in den Wald hinein.

      Etwa zur gleichen Zeit schaute Rita Miller, die Grundschullehrerin von Prisco, ob alle Kinder der dritten Klasse ihre Jacken und Mützen ordentlich angezogen hatten. Sie war eine sehr verantwortungsbewusste und engagierte Lehrerin, und die Kinder liebten sie. Rita hatte keine eigenen Kinder und konnte, so sagten die Ärzte zumindest, auch keine bekommen.

      So hatte sie sich nach einiger Zeit damit abgefunden und konzentrierte sich mit Freude auf ihren Beruf. Ihr Mann Richard arbeitete bei der örtlichen Redaktion der

      New Bismark News. So war er immer bestens informiert, was in der Gegend passierte. Das war ganz nach seinem Geschmack, denn er klatschte gerne und wäre bestimmt ein gern gesehener Gast bei so manchen Kaffeekränzchen gewesen. Er fuhr aber lieber durch die Gegend, sprach mit Farmern und den Angestellten kleiner Firmen über deren Probleme.

      Nur einmal pro Woche musste er in die Redaktion nach New Bismark fahren, um dort seine Berichte abzugeben und auch manchmal einen Auftrag für ein spezielles Thema zu bekommen.

      Rita Miller stellte die Kinder in zwei Reihen auf. Für heute hatte sie einen Ausflug in den Wald geplant. Die Kinder freuten sich schon darauf, mussten sie doch nicht den ganzen Tag ruhig auf den Schulbänken verbringen. So marschierte die kleine Gruppe los. Nachdem sie die Mainstreet überquert hatten, bogen sie in eine kleine Seitenstraße ein, die sie über einen Feldweg direkt zum Wald bringen würde.

      Kapitel 2

      Unter dem Humus war es warm und feucht. Hier war noch nichts vom Herbst und dem nahenden Winter zu bemerken. Es wäre ihm auch egal gewesen. Er spürte nichts davon. Er verspürte nur zwei Gefühle: Hunger und Rachsucht. Das war bei ihm gleichzusetzen mit purer Mordlust. Aber er musste warten. Das wenige Blut, das vermischt mit der Feuchtigkeit des Bodens zu ihm heruntergedrungen war, reichte gerade aus, um ihn zu wecken. Nun musste er warten. Warten auf einen Transportkörper. Warten auf ein ausreichend großes Tier, auf das er überwechseln konnte. Obwohl er ungeduldig war, wusste er, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er aus seiner Gefangenschaft befreit war. Der Ärger kehrte langsam zurück. Der Ärger, damals überrumpelt worden zu sein. Sein Gastkörper war erschossen worden und gestorben, bevor er in einen anderen Körper schlüpfen konnte. Das hatte ihn betäubt, und bevor er sichs versah, war er im Waldboden verscharrt worden. Das Sterben des Wirtskörpers hatte ihn so geschwächt, dass er ausruhen musste. Schließlich war er so schwach geworden, dass er eingeschlafen war. Er hatte lange geschlafen, wie schon so oft. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft. Immer wieder hatte sich das Schicksal gegen ihn gewandt. Aber immer wieder hatte er es geschafft, zurückzukommen. Und jedes Mal hatte er sich gerächt. Grausam gerächt. Die Menschen begannen ihn als Dämon zu betrachten und erzählten sich Geschichten über seine Taten. Manchmal hatte er sich unbemerkt unter sie gemischt und hatte zugehört. Er fühlte sich den Menschen weit überlegen und betrachtete sie voller Verachtung. Doch er war etwas völlig anderes als ein Dämon.

      Hanky war schon ein ganzes Stück durch den Wald gelaufen. Manchmal hatte er gesungen. Seine Lieder. Kinderlieder. Er liebte es, alleine herumzuwandern und zu singen. Die anderen schauten immer so komisch, wenn er sang. Aber hier waren keine anderen, und so konnte er aus vollem Halse und manchmal auch ganz leise singen, je nachdem, wie er sich gerade fühlte. Oft redete er auch mit sich selbst oder mit allem, was er so bei seinen Wanderungen sah. Er redete mit den Bäumen, den Vögeln, die scheinbar immer aufmerksam und interessiert auf ihn herabblickten. Ab und zu redete