Marvin Roth

Seelen Schlachter


Скачать книгу

Der Wald war gut zu ihm und hatte ihm noch nie wehgetan. Die Tiere blieben in seiner Nähe, da er irgendetwas ausstrahlte, das man vielleicht als Gutmütigkeit und Sanftmut beschreiben konnte. Hanky hatte gerade einem Ameisenvolk zugeschaut, das in langer Kolonne über die kleine Lichtung marschierte, an deren Rand er stand.

      »So viele Meisies«, murmelte er, »drei, fünf, dreizehn, acht, einundvierzig, sechs, zwei.«

      Hanky hatte es nie geschafft, das Zählen zu lernen. Ihm gefiel es aber sehr, Zahlen aufzusagen. Er kannte alle Zahlen bis Hundert, aber ihm fehlte das Verständnis, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Das machte Hanky aber nichts aus, er dachte nicht einmal darüber nach. Er richtete sich wieder auf und wollte gerade weitergehen, als er eine Stimme zu hören glaubte. Etwas rief ihn. Nicht eigentlich mit Worten, sondern irgendwie in seinem Kopf, was Hanky sehr verwirrte. Unruhig schaute er sich um und trappelte nervös mit den Füßen, was er immer tat, wenn er nicht wusste, was er machen sollte. Er kratzte sich nervös am Nacken, dann hielt er sich die Ohren zu, doch das Rufen war immer noch da. Hanky tappte ein Stück auf die Lichtung hinaus, und das Rufen in seinem Kopf wurde etwas lauter.

      Rita Miller war mit ihren Kindern am Waldrand angekommen und stand nun fast an der Stelle, an der Hanky einige Zeit zuvor das Eichhörnchen beobachtet und Ben Johanson zugewinkt hatte. Ben war fast mit dem Pflügen fertig und machte eine Pause, um sich seine Pfeife anzustecken. Er rauchte meistens im Freien, da seine Frau Julie es nicht ausstehen konnte, wenn es im Haus nach Pfeifentabak roch. So stopfte sich Ben seine Pfeife und sah der kleinen Gruppe am Waldrand zu.

      Die Kinder hüpften aufgeregt hin und her, und Rita Miller zupfte den Kleinen erneut die Jacken zurecht. Danach zählte sie die paarweise aufgestellten Kinder noch einmal durch. Dann setzte sich die Gruppe in Bewegung und wollte gerade in den Wald hineingehen, als von dort ein wüstes Geschrei zu hören war. Ben setzte sich aufrecht hin, um besser sehen zu können, was da vor sich ging. Die Kinder und ihre Lehrerin blieben verdutzt stehen und horchten ebenfalls in den Wald hinein. Das Geschrei wurde immer lauter, und mit einem Male brach Hanky durch die Büsche, rannte noch ein Stück weiter und blieb dann schwer atmend in den frisch gepflügten Furchen des Feldes stehen. Er schüttelte wie benommen den schweren Kopf, als wolle er etwas aus seinem Haar verscheuchen. Dann erst sah er Rita Miller mit den Kindern. Diese scharten sich um ihre Lehrerin und schauten auf den mit Blättern und Erde verdreckten Hanky. Aus einer Schürfwunde an seinem Kopf sickerte Blut und zog eine dunkle Spur durch sein verschwitztes Gesicht.

      »Nich da reingehn«, stammelte Hanky. »Böses Ding is da, nich reingehn.«

      Rita Miller machte sich von den Kindern los und bedeutete ihnen, stehen zu bleiben. Danach ging sie zu Hanky, der am ganzen Leib zu zittern begonnen hatte.

      »Hanky, armer Hanky«, sagte sie, »was hat dich denn nur so erschreckt

      »Nich reingehn, nich reingehn«, stammelte er.

      Inzwischen war Ben Johanson über das Feld gekommen und fragte: »Was ist denn hier los? Hanky, was ist denn mit dir? Du bist ja ganz verdreckt. Bist du hingefallen?«

      »Nich da reingehn«, wiederholte Hanky mit nun stumpfem Blick. »Böses Ding is da.«

      »Der ist ja völlig aus dem Häuschen«, sagte Ben zu Rita Miller.

      »Es ist bestimmt besser, wir bringen ihn ins Dorf zu Doktor Ness«, antwortete die Lehrerin.

      Sie ging zu Hanky und nahm ihn an die Hand wie einen kleinen Jungen, was in einer anderen Situation bestimmt lustig ausgesehen hätte, da Hanky fast zwei Köpfe größer war als sie. Doch selbst die Kinder hatten den Ernst der Situation bemerkt, verhielten sich ruhig und sprachen nicht. Keiner machte Witze oder hüpfte herum. Einige schauten ängstlich zum Wald, als würden auch sie spüren, das da etwas Unheimliches vor sich ging. Ben ging ein kleines Stück mit der Gruppe mit und stieg dann schließlich auf den Traktor.

      »Ich werde nach Prisco vorfahren und den Doktor unterrichten«, rief er der Lehrerin zu. Danach startete er den Motor und fuhr los.

      »Da kann ich den Jungs in New Bismark was erzählen«, dachte er, »und Julie auch.« Kurz darauf bog er in den Feldweg ein, der nach Prisco führte.

      Kapitel 3

      Er brüllte, für menschliche Ohren unhörbar, und raste vor Zorn in seinem dunklen Gefängnis. Erst hatte er geglaubt, er hätte Glück, als er fühlte, das sich da ein vermeintliches Opfer näherte. Er hatte gerufen und gelockt. Noch nie war ein Opfer seinem Rufen entkommen. Noch nie hatte sich einer widersetzt. Doch dieser da hatte sich gewehrt. Er wollte in das Gehirn des Opfers eindringen, fand darin aber eine totale Unordnung und kein verwertbares Muster. Mit einem Male spürte er eine bekannte, verhasste Präsenz in den Schwingungen des Opfers. Er spürte die Präsenz seines letzten Gegners. Dieser hatte ihn damals überrumpelt. Doch irgendetwas stimmte nicht mit diesem Schwingungsmuster. Es konnte nicht derselbe sein. Andere Schwingungen waren zu hören, unbekannte. Das verwirrte ihn für einen Augenblick. In diesem Moment hatte er seinen geistigen Griff gelockert, und sein Opfer war davongestürmt. Nun war es weg, unerreichbar, und es würde bestimmt nicht mehr zurückkommen. Das hieß: weiter warten. Bestimmt würde er eines dieser stupiden Tiere übernehmen müssen. Das war zwar nicht besonders angenehm, aber manchmal, wenn er auf der Jagd war, bediente er sich dieser Kreaturen.

      So wie damals, als er in der Gestalt eines Berglöwen diesen dummen Menschen getötet hatte. Der Kerl war durch den Wald gestapft, um eine Abkürzung zu seiner Wohnung zu nehmen. Das Ding hatte die Gedanken des Mannes gelesen. Der Mann war leicht zu töten gewesen. Doch nachdem das Ding im Körper des Pumas seine Wut und Mordgier ausgetobt hatte, kam ein anderer Mann durch den Wald und direkt auf ihn zu.

      Das Pumading duckte sich, um den Mann anzuspringen, doch der richtete plötzlich ein Gewehr auf ihn und schoss, ehe das Ding flüchten konnte. Der halbe Kopf des Pumas flog auseinander, und das Tier blieb mit seinem unsichtbaren Gast unbeweglich liegen. Was dann weiter geschehen war, wusste das Ding nicht, und es war so geschwächt, dass es bald darauf einschlief. Eins hatte es sich aber gemerkt: die geistige Präsenz, die mentalen Schwingungen des Mannes.

      Der alte Mann saß an seinem Lieblingsplatz auf der Holzveranda seines ebenfalls in die Jahre gekommenen Hauses. Er hatte auf die Bank, die an der Hauswand stand, ein Kissen gelegt, da ihm das Sitzen in letzter Zeit immer wieder Rückenschmerzen bereitete. Aber er war gerne hier draußen. Er genoss die frische Luft und den Blick über die Wiesen bis hin zum nahen Wald. Er lauschte mit Vergnügen den Vögeln und dem Rascheln der Blätter im Herbst.

      Fast jeden Tag verbrachte er im Freien, wenn es das Wetter erlaubte. Es wurde ihm hier nie langweilig, da er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. In den letzten Jahren kamen immer mehr Erinnerungen aus seinen Kinder- und Jugendjahren wie alte Freunde zu ihm zurück. Er mochte das, und es erstaunte ihn manchmal sehr, an welche Kleinigkeiten er sich da erinnern konnte.

      Er konnte fast den Kuchen riechen, den seine Mutter immer sonntags auf den Tisch gebracht hatte. An seine Schulzeit mochte er sich nicht erinnern, da er damals sehr ungern in die Schule gegangen war. An seine Kinderfreunde aber dachte er sehr oft. Was hatten sie zusammen doch für verrückte Streiche ausgeheckt, und wenn er daran dachte, musste er manchmal richtig lachen. Wenn ihn dabei jemand beobachtet hätte, wie er da saß, ganz alleine, und sich ausschüttete vor Lachen, dann würde dieser heimliche Beobachter bestimmt am Verstand des Alten gezweifelt haben.

      Oft, sehr oft, dachte er an seine Frau und das Leben mit ihr. Wie oft hatte er ihr aus falschem Stolz oder dummer Rechthaberei wehgetan, statt sie in die Arme zu nehmen und jede Stunde mit ihr zu genießen. Vor sechs Jahren war sie gestorben, oder, wie der Pastor damals sagte: von ihm gegangen. Die Welt war für ihn seit diesem Tag dunkler geworden. Er hatte mit Gott und der Welt gehadert. Er hatte sein Schicksal verflucht. Er hatte sich verflucht, noch zu leben.

      Seine Kinder heirateten und waren nach Prisco in ein hübsches kleines Haus gezogen. Sie sagten damals, er solle doch mit in den Ort ziehen. Aber er wollte in seiner gewohnten Umgebung bleiben, in seinen eigenen vier Wänden. Hier war er zu Hause und nirgendwo sonst. Als die Kinder selbst ein Baby, einen Jungen bekamen, freute er sich, damals noch zusammen mit seiner Frau,