Marvin Roth

Seelen Schlachter


Скачать книгу

konnte sich auch keinen Reim darauf machen, warum Walt nicht seine Jagdbeute geholt hatte und einfach weggegangen war.

      Walt wusste es auch nicht. Walt wusste gar nichts mehr. Eigentlich gab es Walt nicht mehr. In dem Moment, als

      Walt das Kaninchen über den Lauf seines Gewehres fixierte, sprang ihn etwas an und schob seinen Geist mit Gewalt zur Seite. Für Walt versank die Welt im Dunkeln, und er konnte nichts mehr fühlen, nichts außer einer unbeschreiblichen Angst. Das Ding, das ihn angefallen hatte, unsichtbar angefallen hatte, übernahm sofort seinen Körper. Es sah seine bisherige Behausung, das Kaninchen, umfallen. Fast gleichzeitig krümmte Walt den Zeigefinger, und eine Kugel fauchte aus dem Lauf und tötete das Tier. Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde. Das Wesen, das nun Walt war, wusste nichts mit dem toten Tier anzufangen. So ging es erst mal langsam den gleichen Weg zurück, den sein Opfer kurz vorher gekommen war. Der Hund hatte das Überwechseln sofort gespürt, und als das Ding ihn zufällig berührte, war der Hund kurz davor, aus reiner Panik anzugreifen. Das Ding beachtete den Hund nicht weiter und lief los. Die wenigen Minuten, die es für den Weg zur Scheune brauchte, nutzte das Wesen, um dem Geist von Walt alle Erinnerungen zu nehmen. Danach vernichtete das Ding ihn lautlos mit einem einfachen Gedankenbefehl. An der Scheune angekommen, sah das Ding den Wagen von Walt. Aus der Scheune kam gerade Jack Binder.

      »Na, Walt, wieder mal vorbeigeschossen?«

      Er hatte nur den Knall des Schusses gehört, als er sich in der Scheune umzog. Das Ding nickte nur mit Walts Kopf und ging wortlos an Jack vorbei zu dem alten Honda Pick-up. Es stieg ein und ließ die Waffe achtlos auf den Beifahrersitz fallen. Dann drehte es den Zündschlüssel um, startete den Motor und fuhr an dem verdutzten Jack vorbei und über den Hof davon.

      »Verdammt, Walt«, rief Jack hinter dem Wagen her, »du wolltest mich doch zu Hause absetzen.«

      Kapitel 6

      Doktor Ness saß an seinem Schreibtisch und studierte Hankys Akte. Er betreute die Familie Berson schon seit vielen Jahren, Hanky war seit dessen zwölftem Lebensjahr sein Patient. Er kam sechs- bis achtmal im Jahr in die Praxis. Meistens musste Doktor Ness kleine Blessuren verbinden, die Hanky sich aus Unachtsamkeit und auch seines schwachen Verstandes wegen zugezogen hatte. Hanky mochte den Doktor, obwohl ihm nie so recht wohl in seiner Haut war, wenn er ihn in seinem sauberen weißen Kittel sah. Doktor Ness nahm Hanky aber jedes Mal seine Angst und kümmerte sich recht fürsorglich um ihn.

      Der Doktor schüttelte den Kopf und schlug die Akte zu. In den ganzen Jahren hatte Hanky sich nie hysterisch benommen. Er hatte wohl manchmal vor Angst gejammert und einmal sogar dicke Tränen vergossen, aber das war‘s auch schon.

      Er stand auf, um noch einmal nach Hanky zu schauen. Das Beruhigungsmittel hatte ihn in tiefen Schlaf fallen lassen, die Wirkung würde noch einige Zeit anhalten. Aber trotzdem, und weil Hanky sich so ungewöhnlich verhalten hatte, wollte Doktor Ness sich vergewissern, dass es seinem Patienten gut ging. Als er aus der Tür seines Büros auf den Gang trat, hörte er schon ein dumpfes Poltern. Ness rannte los und erreichte Sekunden später das Behandlungszimmer, in dem Hanky eigentlich schlafen sollte. Er stieß die Tür auf und fand das reinste Chaos vor.

      Hanky hing, nur noch von einem Lederband gehalten, halb auf dem Behandlungsbett und halb auf dem Boden. Er hatte die Augen weit aufgerissen und strampelte wie ein Besessener herum. Unverständliches Gebrabbel kam aus seinem verzerrten Mund, und Speichel tropfte von seinem Kinn.

      Der Doktor brüllte nach der Schwester und warf sich auf Hanky, um ihn zu beruhigen und wieder ans Bett zu fesseln. Bei einem derart Tobsüchtigen konnte er keine weitere Beruhigungsspritze verabreichen. Durch das zusätzliche Gewicht des Doktors und Hankys stetiges Gezappel löste sich auch noch das letzte Lederband, und beide fielen aus dem Bett auf den Boden. Der Doktor landete als Erster und Hanky auf ihm. Die Luft wich aus des Doktors Lungen wie aus einem alten Blasebalg, und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Hanky rollte sich von ihm herunter, rappelte sich schwerfällig auf und stürmte aus dem Zimmer. Als sich Doktor Ness gerade erhob, kam die Schwester herein und schaute erschrocken und zugleich verdutzt zu ihrem auf dem Boden sitzenden Chef hinunter.

      Ben Johanson und seine Frau Julie brachen heute später als gewöhnlich zu ihrer wöchentlichen Fahrt nach New Bismark auf. Ben hatte zuerst seiner Frau von den Vorfällen dieses Morgens berichten müssen. Er hatte ausführlich erzählt, und Julie hatte ihn ständig mit Zwischenfragen aus seinem Redefluss gebracht, sodass die beiden fast die Zeit vergessen hätten. Julie schaute zufällig auf die Küchenuhr und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass es schon fast zwei Uhr war. Sie scheuchte ihren Mann auf, und der hastete schnell ins Badezimmer, um sich zu waschen. In der Zwischenzeit machte Julie sich stadtfein, wie sie immer zu sagen pflegte, wenn sie ein Kleid anzog und dazu die schwarzen Lackschuhe.

      Um kurz nach zwei liefen die beiden über den Hof und stiegen in ihren roten Ford F250 Pick-up. Ben liebte den Wagen von dem Tag an, als er ihn zum ersten Mal in der Fernsehwerbung gesehen hatte. Es hatte ihn ein gutes Dreivierteljahr gekostet und unzählige Gespräche mit Julie, um sie davon zu überzeugen, was dieses Auto doch für ein prima Farmkleinlaster wäre. Schließlich gab sich Julie geschlagen, und Ben brachte schon einen Tag später das Schmuckstück nach Hause. Seit diesem Tag fuhr Ben immer mit leicht stolzgeschwellter Brust seinen Pick-up.

      Trotz aller Eile rollten sie nur langsam den Feldweg hinunter. Julie schaute genervt zu ihrem Mann, sagte aber nichts. Ben putzte immer am Abend vor ihrem Stadtausflug seinen Wagen. Deshalb fuhr er an diesen Tagen vorsichtig bis zur Asphaltstraße, damit ja kein Stäubchen an den Lack kam. Auf der Landstraße angekommen, fuhr Ben dann ein wenig schneller. Einige Minuten später erreichten sie Prisco.

      Als sie am Haus des Doktors vorbeikamen, flog dort die Eingangstür heftig auf, und Hanky stolperte mit wirren Haaren und gerötetem Gesicht die Treppe hinunter.

      Ben bremste und sprang aus dem Wagen. Julie riss auf ihrer Seite ebenfalls die Tür auf und rannte ihrem Mann hinterher, auf Hanky zu. Fast gleichzeitig flog die Eingangstür der Praxis zum zweiten Mal auf, und Doktor Ness kam mit wehendem Kittel und ebenfalls wirren Haaren aus dem Haus. Er blieb kurz stehen, sah Hanky, der wegrannte, und die Johansons, die von der Straße aus auf Hanky zuliefen.

      »Haltet ihn«, rief der Doktor überflüssigerweise und hetzte ebenfalls dem Flüchtigen hinterher. Auf der Treppe erschien nun auch die Krankenschwester und hielt kampfbereit eine Spritze in ihren Händen. Mittlerweile waren die Johansons bei Hanky angekommen und versuchten, ihm den Weg zu versperren. Sie riefen ihm beruhigende Worte zu. Doktor Ness schlich sich von hinten an Hanky heran, die Krankenschwester folgte ihm auf dem Fuß. Bei Hanky angekommen, sprang Ness ihn von hinten an, umschlang seinen Hals und riss ihn nach hinten. Jedenfalls hatte er das vorgehabt, aber Hanky entwickelte so viel Kraft, dass der Doktor an seinem Rücken hing wie eine Puppe. Ja, Hanky schien ihn nicht einmal zu bemerken. Ben umklammerte nun Hanky von vorne, und beide Männer versuchten, ihn zu Boden zu bringen.

      In diesem Moment bog ein alter Honda Pick-up aus einer Seitenstraße auf die Hauptstraße.

      Das Ding, das einmal Walt Kessler gewesen war, fuhr mit dessen Wagen kreuz und quer durch die Gegend. Es musste sich erst einmal orientieren. Nicht, dass sich sonderlich viel seit seinem letzten Erwachen verändert hätte, aber das Ding wollte sichergehen. Mit dem Wagen hatte es keine Schwierigkeiten, da alle Informationen in den Erinnerungen seines Opfers offen vor ihm lagen. Nach einiger Zeit kam es dann in die Nähe der kleinen Stadt Prisco.

      Das Wesen wurde unruhig. Es bemerkte wieder diese merkwürdige Präsenz, die es schon im Wald kurz nach seinem Erwachen gespürt hatte. Das machte es erneut wütend. Das Ding steuerte den Wagen in die Richtung der geistigen Ausstrahlung. Langsam ließ es den Wagen rollen und schaute sich suchend um.

      Als das Ding den Wagen auf die Hauptstraße lenkte, bot sich ihm ein ungewöhnliches Bild. An einem Mann hingen zwei weitere, und zwei Frauen redeten auf die Gruppe ein. Der Mann in der Mitte strahlte die Präsenz aus. Am liebsten hätte sich das Ding sofort auf den Mann gestürzt, aber es waren zu viele Zeugen da, und das Ding musste vorsichtig sein.

      In diesem Moment, als das Wesen den Kampf beobachtete und der Pick-up fast zum Stehen kam, erstarrte der große Mann in der Mitte. Er drehte