Nadja Hummes

Suomi on kaunis (Deutschland auch)


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sechs Monate Lichtentzug also.

      Vier bis sechs Monate Lichtentzug für Flora und Fauna. Vier bis sechs Monate, in welchen der Idealfall ein gelegentliches Dämmerlicht beschreibt. Keine Seltenheit. Aha.

      Ich begreife, was diese Tatsache bedeutet.

      Berichte, Tourismusinformationen, Statistiken oder Dokumentationen zu lesen, anzusehen oder zu hören ist eine Sache. Mittendrin zu stehen und es mit allen Sinnen zu erfahren eine gänzlich andere.

      Mein Blick schweift gen Himmel. Sternenklar. Wunderschön. Unbeschreiblich. Im wahrsten Sinne des Wortes.

      Wortlos genieße ich.

      Ein stotterndes Motorengeräusch, vermutlich aus einer der benachbarten Straßen, reißt mich aus meinen Gedanken.

      „Ah, da hat jemand Startschwierigkeiten. Der Wagen springt nicht an“, sagt Valtteri, während er wieder einmal meinen Blick auffängt. „Das kennen die Menschen, die hier leben. Meistens wissen sie sich zu helfen.“

      „Andernfalls helfen sie sich gegenseitig?“

      „Yes, hilfsbereit sind wir Finnen“, bestätigt Valtteri, während er die Verriegelung seines Kofferraumes enteist.

      „Ja, hilfsbereit und freundlich. Das habe ich schon auf meiner Reise hierhin gemerkt. Und auch bei meiner Ankunft.“

      Der Kofferraum springt auf.

      Jetzt verstehe ich, weswegen Valtteri gestern Nacht meinen Koffer auf den Rücksitz gelegt hat. Im Kofferraum ist schlicht und ergreifend kein Platz mehr. Drei Kanister einer seltsam gefärbten Tauflüssigkeit, – einer davon ist bereits halb leer. Ein sehr stabil aussehendes Abschleppseil, vermutlich mehrere Meter lang. Wie ein Lasso aufgerollt. Eine Schaufel. Massiv, kein Plastik. Ein Warnschild. Ein Erste-Hilfe-Kasten. Ein offener Korb. Darin enthalten: Ein Gaskocher, eine Öllampe, Streichhölzer, Lampenöl, zwei Gaskartuschen, zwei Was­ser­flaschen, Brühwürfel, Pulverkaffee, eingeschweißter getrockneter Speck, ein finnisches Anglermesser und eine Thermoskanne mit Trinkbecher. Des Weiteren befindet sich eine sehr warm aussehende Wolldecke im Kofferraum. Ebenso ein Thermo-Overall. Und eine neongelbe Jacke.

      „Berufskleidung“, sagt Valtteri, während er die Folie in den Kofferraum stopft und nach der neongelben Jacke greift. „Hier in Rauma und Umgebung gibt es ein paar große Arbeitgeber. Danach kommen die anderen, kleineren Arbeitgeber. Viele Menschen arbeiten bei die großen Konzerne. International. Vor ein paar Jahren es waren noch mehr, aber inzwischen sind die Jobs weniger. Alle gehen zu machen die Stellen kürzer. Because of money. Nonsense! Wenn Sie würden anders investieren, es wäre klüger für die Geldanlage. Und das ist not just my opinion. Mein Bruder sagt immer, in die Wirtschaft man denkt anders und das Denken in die Wirtschaft hat nicht immer mit die Klugheit oder die Weitsicht zu tun. Und er weiß, wovon er spricht. Er ist der karriere­geplagte Businessman in unserer Familie“, zwinkert Valtteri mir vielsagend zu.

      Er greift nach dem halb vollen Kanister.

      „Verstehe. Kann ich dir jetzt behilflich sein?“

      „Jo. Kurz nach sechs. We must hurry! Ich gehe an die Motorhaube und an die eine Seite von das Auto. Kannst du die andere Seite schon einmal lösen? Griff und Schloss von die Beifahrertür.“

      „Kyllä.“

      Der Wagen, dessen Motor nicht ansprang, knattert und fährt deutlich vernehmbar davon.

      Hektisch macht Valtteri sich weiter an seinem Wagen zu schaffen. Nach einer zusätzlichen Viertelstunde ist es endlich geschafft. Das persönliche Kraftfahrzeug ist wieder als solches nutzbar. Valtteri lässt den Motor schnurren. Ich nehme Platz. Als der Wagen aus der Einfahrt biegt, fallen mir etliche alte Automodelle auf, die aus den umliegenden Straßen, Innen- und Hinterhöfen auf die Hauptverkehrsstraße auffahren. Ein sonderbarer, aber durchaus schöner Anblick, welcher wohl manch einem Oldtimer-Liebhaber das Herz höher schlagen ließe.

      *

      Valtteri brummelt vor sich hin.

      „Hach, es wird Zeit, dass der Winter aufhört. Ich muss jeden Tag eine Stunde früher als im Sommer aufstehen. Wegen der Schnee. Und Eis. Seit Monaten geht das so. Ich möchte mal wieder etwas länger schlafen. Und an meine Skulptur weitermachen. Jo, es wird wirklich wieder Zeit für der Sommer“, seufzt er.

      Es ist ihm deutlich anzumerken, wie sehr ihm die Arbeit an seiner Skulptur fehlt. Ich verstehe ihn nur allzu gut.

      Wir fahren auf einer Hauptstraße entlang. Laut Ausschilderung führt sie zur Ortsmitte von Vanha Rauma. Nach einer Weile setzt er den Blinker. Keskusta steht auf einem anderen Schild.

      Valtteri parkt ein, stellt den Motor aus. Auf dem Marktplatz herrscht bereits reger Betrieb. Sehr viele Männer in neongelben Jacken. Einige von ihnen halten Gebäck und Kaffee in ihren Händen. Andere rauchen. Einer der Männer, ein stämmiger junger Mann in einer neongelben Jacke, kommt auf uns zu.

      „Hei, Valtteri.“

      „Moi, Aki. Saanko esitellä? Tässe on Lenja. Lenja, – Aki. Aki, – Lenja.“

      „Hei, Lenja“, begrüßt der Angesprochene mich.

      Danach reden Aki und Valtteri miteinander. Natürlich in ihrer Muttersprache. Ich verstehe kein Wort, zumal sie sehr schnell sprechen. Also bestelle ich mir derweil einen Kaffee nebst einem kleinen Frühstück. Auf Finnisch. Die Bedienung lächelt mir anerkennend zu und reicht mir tatsächlich genau das, was ich möchte. Hurra!

      „Lenja, Akis Wagen ist hinüber. Er hatte Probleme, ihn nach der Zwischenstopp für der Kaffee zu starten. Ich nehme ihn in meinem Auto mit. Wir müssen jetzt los, die Arbeit beginnt. Du findest dich zurecht? Dir geht gut?“

      „Ja, Valtteri, kein Problem“, antworte ich ihm und weiß, dass es stimmt.

      Valtteri und Aki winken mir zu, dann fahren sie davon. Ich blicke dem Wagen hinterher. Er verschwindet in Richtung Eurajoki.

      *

      Bald schon habe ich den Ortskern hinter mir gelassen, wandere durch tiefen Schnee. Eine einzige weiße Landschaft, so weit das Auge reicht. Die Straßen sind dank der Laternen gut beleuchtet. Verlässt man allerdings die Bürgersteige, welche entlang der Hauptverkehrswege verlaufen, dünnt die Straßenbeleuchtung recht bald aus.

      Wo das Festland aufhört und Wasser beginnt, sei es das Bottnische Meer oder einer der vielen finnischen Seen, lässt sich, unabhängig von der Beleuchtung, angesichts der allgegenwärtigen Schnee- und Eisdecke zunächst nur vermuten. Bestenfalls erahnen.

      Selbst der Schnee ist hier in Finnland anders als in Deutschland. Eine andere Konsistenz. Eine andere Optik. Eine andere Struktur.

      Wenn es schneit, dann regnet es unzählige kleine Diamanten. Kein Foto der Welt kann dies einfangen, kein Bild dies festhalten.

      Unterwegs komme ich an etlichen Holzhäusern vorbei. Bunt sind sie, die Holzhäuser der Finnen. Das gefällt mir außerordentlich gut. Statt tristem Grau leuchten mir unterschiedliche Blautöne, Gelb, Weiß, Grün oder das klassische Rot von den Häuserwänden entgegen. Bewährter Wetterschutz, so sagt man. Schwedisches Rot, auch nachgedunkelt, dominiert. Blau und Gelb schließen auf, während Grün und Weiß sich schüchtern zurückhalten und nur vereinzelt auftauchen.

      Ich öffne meinen Rucksack und nehme die Digitalkamera heraus. Sie streikt. Trotz aufgeladener Akkus. Es ist einfach zu kalt. Die Elektronik versagt. Körperwärme, sagt mir jede Faser meines Seins. Körperwärme. Kurzerhand stopfe ich die Kamera hinter meinen Hosenbund. Klemme sie dort so ein, dass sie auf meiner Bauchdecke aufliegt. Ich spüre die Kamera auf meiner Haut. T-Shirt, Pullover und Winterjacke bringe ich nun sorgfältig wieder in ihre vorherige Position. Einmal mehr stelle ich fest: Die gefütterte Motorradlederhose war und ist eine gute Entscheidung. Ebenso wie die Zwölf-Loch-Schnürstiefel. Bevor ich den Rucksack wieder verschließe, nehme ich noch das Handy heraus und schalte es ein. Nur mal so, zur Probe. Nichts regt sich. Ich klemme das Handy unter